vonkirschskommode 22.03.2022

Kirschs Kommode

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Der nervtötendste Kalender, den meine Frau je geschenkt bekommen hat, war ein „Achtsamkeitskalender“. Er hat keine drei Wochen durchgehalten. Jedoch zu diesen Versen Anlass gegeben:

Erhöhe deine Achtsamkeit
durch wachsende Bedachtsamkeit:

Was deine Ohren dir erlauschen,
kürs dir zum Klang im großen Rauschen.

Worein sich deine Blicke wühlen,
rührs dir auch auf in den Gefühlen.

Worum sich deine Finger winden,
spürs tief, mit innerstem Empfinden.

Was Mund und Nase dir erschmecken,
führs in dich ein, lass es fest stecken.

Auf diese Weise wend dich ganz
zu deinem Mann und seinem Schwanz.

***

Jetzt, wo das Kriegswesen endgültig seinen materiellen wie ideologischen Aufschwung nimmt – die Zeiten der Absichtserklärungen sind vorbei, es wird geklotzt – frage ich mich, was aus der Achtsamkeitsmode wird. Vielleicht unterschätze ich die Biegsamkeit solcher ideologischen Versatzstücke und „Achtsam morden“ gehört alsbald zum Schulungsprogramm der Verteidiger der Freiheit, als Prophylaxe gegen posttraumatische Belastungsstörungen, die man sich sonst allzu leicht im Nahkampf zuzöge – so leicht wie die zivile Restbevölkerung sich einen Schnupfen in ihren ungeheizten Wohnungen. Aber vielleicht verschwindet die Mode aus dem Alltag der letzteren, in jedem Krieg sind die Zivilen auf Dauer die Habenichtse. Höchst wahrscheinlich würden sie lieber Heizmaterial kaufen, wenn sie das Geld für einen Kurs „Achtsam frieren“ besäßen.

Der Krieg verändert alles, auch das, was er nicht verändert. Die Liebe geht weiter und das Begehren, das Essen und der Appetit, sogar der Urlaub ist nicht abgesagt und das Fernweh überlebt. Aber die Freuden sind unterminiert, wenigstens so lange ich mich nicht an den im Hintergrund rumorenden Schrecken gewöhnt habe – und selbst dann noch, denn er könnte mir jederzeit wieder einfallen. Doch genau darin unterscheidet sich der neue Krieg eigentlich nicht von den vorangegangenen und seither sich fortsetzenden Katastrophen mit ihren tausenden täglichen Opfern. Es gibt schon lange ein Grundrauschen der Zerstörung und des Tötens, das derjenige, der will und es sich leisten kann, sich mit einigen Aufwand übertönt, wodurch es allerdings letztlich nur lauter wird. Die Achtsamkeitsmode gehört mit zum rundherum betriebenen Aufwand des Übertönens; ich höre auf meinen Atem, um mich einzuregeln, weil ich das, was mir sonst zu Ohren kommt, kaum noch ertrage: Mach dich zu, indem du dich dir öffnest.

Als das Grundrauschen der Zerstörung noch ein wenig weiter weg war – im Ahrtal wohnt schließlich nicht jeder, gegen Hitze hilft eine Klimaanlage und gegen Dürre der Wasserhahn, die von der Autobahn gedrängelten Verkehrstoten hatten schlicht zu schwache Nerven oder Motoren, dem ganzen Pack, das sich auf anderen Kontinenten totschlägt, schickt man eben ein paar Soldaten zu Hilfe, und laufen Leute ungefragt dem Hungertod davon, ist der Reiseveranstalter vielleicht sogar regresspflichtig, wenn ihre Leichen am Ende unpassend am Badestrand liegen – als das Grundrauschen sich noch so beiseite schieben ließ, war es vielleicht leichter, sich über die Achtsamkeitsmode in einem Liebesgedicht lustig zu machen.

Aber nein, das war es nicht. Das Geräusch der Weltverbrennungsmaschine ist nicht erst seit dem Ukraine-Krieg unüberhörbar. Meine Aufgabe als Dichter hat sich nicht verändert: Ich muss dem Zerstörerischen entgegentreten, mithin die Liebe feiern. Zur Feier der Liebe gehören die Albernheiten und die Neckereien dazu. Es schadet nichts, wenn die Achtsamkeitsmode beim Necken gründlich veralbert wird, sie ist eine der vielen Techniken wegzusehen und sich etwas vorzumachen. In der Liebe, in Friedens- wie in Kriegszeiten, gilt wie überall und sowieso: Mach dir nichts vor, sieh hin! Und immer wieder: Red nicht drum herum!

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