Dieser und der Beitrag für die nächste Woche entstammen der glücklichen Zeit, in der ich für ein abscheuliches Provinzblatt der deutschen Provinz in der spanischen Provinz Alicante die Kolumne Der Heilige der Woche schrieb. Es war eine kleine Welt hässlicher Häuser mit Säulen und runden Erkern, dicker Autos und zu Geld gekommener, ältlicher Leute, die sich für weltgewandt nahmen, weil sie mit drei Brocken Spanisch bei der lokalen Bevölkerung ankumpeln konnten, welche ihrerseits hauptsächlich Katalanisch sprach. Es war die Welt der „Los Müller’s“. Aber sie bot prekarisierten jüngeren Landsleuten wie mir Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten. Nie zuvor und nie danach habe ich mich beim Schreiben dazu hinreißen lassen, meine Leser und Leserinnen direkt anzusprechen. Aber in diesen Kolumnen habe ich es gern getan. Die Atmosphäre von sonnen- und weinseliger Gemütlichkeit muss mich gereizt haben, ebenfalls auf gemütlich zu machen. Gerade weil mir besagte Atmosphäre vor allem unerträglich war.
3. August, Lydia
Im Englischen reimt sich die Enzyklopädie, encyclopedia, auf einen Frauennamen. Und kein Geringerer als Graucho Marx machte daraus einen Song: Have you met Lydia, the encyclopedia? Aber nicht, was Sie erwarten, eine Art Annabell, ach, Annabell, du bist so herrlich intellektuell trägt, nein, tanzt uns der Komiker vor, seine Lydia ist keine aus einem durchschnittlich doofen Herrenwitz entsprungene altkluge Schnepfe, deren intellektuelle Überlegenheit der Witzemacher nicht erträgt. Lydia the encyclopedia hat Graucho wirklich schlau gemacht. Und auf schlaue Weise: Sie hat sich auf jeden Fleck ihrer Haut, der nicht gerade behaart war, Lexikonartikel eintätowieren lassen. Und Graucho Marx hat natürlich alle wieder und wieder studiert.
Diese Geschichte von Grauchos geliebter Lydia klingt wie ein Gegenentwurf zu einer anderen Geschichte, die uns im Zusammenhang mit dem Namen Lydia überliefert ist. Und die weder von Genuss, noch von intellektuellem Gewinn, schon gar nicht von einer Kombination beider erzählt, aber doch auch, das ja, von einem gezeichneten Körper. Doch der Reihe nach.
Der Name Lydia ist biblisch. Es ist der Name einer Frau, die den Apostel Paulus bei einer seiner Missionsreisen in ihr Haus aufnimmt. Diese in der Apostelgeschichte mit einem Satz erwähnte Frau wird die erste heilige Lydia sein. Wie in der katholischen Kirche üblich werden spätere Heilige gleichen Namens am gleichen Tag gefeiert wie der oder die Urheilige, der oder die ihr Namenspatron oder Patronin ist.
Unsere heilige Lydia lebte von 1380 bis 1433 im holländischen Schiedam und der Heiligenkalender beschreibt sie mit Jungfrau. Als sie im Alter von zwölf den ersten Brautwerber abblitzen ließ, gelobte sie bei der Gelegenheit gleich und gründlich ewige Keuschheit. Wenige Jahre später stürzt sie beim Eislaufen und bricht sich eine Rippe. Die Wunde heilt nicht, sondern vereitert. Das Eiter bricht ihr nach anderthalb Jahren in einem Riesenschwall aus dem Mund und schwächt sie so, daß sie danach drei Jahre nur kriechen kann. Dann geht die Wunde in Fäulnis über, Würmer befallen sie, ein Verband muss das Herausfallen der Eingeweide verhindern. Und damit nicht genug, auch reißende Kopfschmerzen, bohrende Zahnschmerzen, Blutfluß aus Hals, Nase, Ohren, Wechselfieber, Gallensteine und Darmleiden kommen dazu , kurz, es gibt nicht eine chronische Krankheit, die Lydia ausließe. Es versteht sich schon fast von selbst, daß die einzige Nahrung, die sie bei sich behalten konnte, die geweihte Hostie war.
Aber siehe, alles wird gut, wenn jungfrau nur den richtigen Beichtvater hat, der sie das positive thinking lehrt, nämlich in der Betrachtung der Leiden des Heilands Trost zu suchen. Seit diesem Rat, so weiß es mein Heiligenkalender, fand sie in ihren Schmerzen nur noch Süßigkeit. Ostern 1433 hört sie die Engel im Himmel singen, drei Tage später stirbt sie. Ihr Leichnam ist makellos, ohne jegliche Spuren ihrer Krankheiten und verbreitet paradiesischen Wohlgeruch. Heutzutage ist die einst so geplagte Lydia die Patronin aller Kranken.
(August 2000)