Was bisher geschah: In der letzten Folge hat Kriminalkommissar Wengath es gerade noch so in die Telefonzelle geschafft, verfolgt vom wütenden Ehemann der von ihm gerade befragten Monika Dellmann-Nwgabe, Tochter des Mordopfers in dem Fall, den er gerade zu lösen versucht. Telefonzellen gibt es 25 Jahre später kaum noch, genau wie die Art des Regens nicht, der sie umrauscht. Aber den Rassismus, den sich Wengath zuvor bei seinem Besuch der nahgelegenen Polizeiwache anhören durfte, den gibt es noch. Im Fall, dass der Kommissar heil aus der Zelle herauskommt, wird er zu einem geheimnisvollen Zeugen fahren, der im Café Bellwüh den Ellpah-ihs lesend auf ihn warten würde, wie der angerufene Inspektor Schwittmann ihm gerade mitteilt. Zuvor zu klären bleibt aber, weshalb der Ehemann der Befragten überhaupt so wütend werden konnte, dass Wengath nur die Flucht blieb. Es hat mit der letzten Frage zu tun, die Wengath bei der Vernehmung gestellt hat:
Selbstverständlich hatte er sie noch gefragt, ob sie sich auch vorstellen könne, dass ihr Vater sich umgebracht habe, die Frage ergab sich einfach logisch aus der Lage der Dinge. Doch sie heulte daraufhin auf, hätte fast ihren Bottich zerschmissen, Kamillentee ergoss sich in Wengaths Schoß, floss über seine Beine, sie fiel vor ihm auf die Knie, zog den tragisch Bademantel über die Küchendielen. Er wich zurück: Eine Jammergestalt mit Schleppe, die Rippenbögen kaum brustbetupft, ein hohl schluchzender Bauch und das Geschlecht faustdick in der Lücke zwischen den Schenkeln (kein Dreieck, nee, dafür brauchste mehr Fleisch, mein Kind): Frau Dellmann, entschuldigen Sie, Frau Dellmann, bitte beruhigen Sie sich doch, Frau Dellmann. Während sie versuchte, ihn an den Füßen zu packen: Nein, das hat er nicht getan, nein, das hat er nicht getan, sagen Sie mir, dass er es nicht getan hat! Und – war es nicht überhaupt reichlich übertrieben, wie sie reagierte? – hustete, würgte, sich erbrach. Da kam er los, stürzte ins Bad, ein Handtuch, einen Waschlappen, den Wischeimer! Als er zurück kam, stand die Haustür offen und in der Küche über seine Frau gebeugt João Nwgabe.
Es reichte ein Blick von ihm, dass Wengath sofort den Rückzug antrat:
Bleiben Sie ruhig, Herr Nwgabe, es ist nichts passiert.
Langte an ihm vorbei zum Notizbuch:
Die Vernehmung hat Ihrer Frau nur etwas zugesetzt. Das tut mir sehr Leid.
Fing den Rempler mit dem Unterarm ab, taumelte aus der Küchentür, den Flur entlang, hörte hinter sich Schritte:
Wenn Sie mich anrufen wollen, hier ist meine Karte.
Eine Handkante zuckte auf seine Finger, die Karte trieselte auf die Schwelle: Galt als zugestellt, würde ein Postbote sagen. Einen Moment lang maßen sie sich ab mit Blicken. Schwer zu sagen, wer wen mehr fürchten sollte. Und die Treppe hinab:
Herr Nwgabe, Ihrer Frau ist schlecht geworden. Gehen Sie und helfen Sie ihr!
Ein Stoß in den Rücken, nahm er die letzten drei Stufen auf mal, fing sich und baute sich im Hausflur vor seinem Verfolger auf. João Nwgabe wich zurück. Also auf die Straße, in den Regen, aber da war er wieder hinter ihm:
Du Arschloch, du!
Bis zur Kreuzung:
Du Arschloch!
Wengath sah die Straßenbahn, abfahrbereit, dachte an seinen Fiesta, sah die Telefonzelle, dachte: Schwittmann! Schon stand er drin und hielt die Tür von innen zu: Verfickt, verrammelt und zugenäht: Jetzt hing er fest!
Aber war dann alles halb so schlimm: Ein Pulk von Regenschirmen wimmelte aus einer Ladentür – Internationale Sprachenschule, Deutsch für Ausländer, hatte er im Vorbeigehen gesehen – nahm den schimpfenden João zwischen sich auf: jschou-jschoujschou, irgendetwas Portugiesisches. Flitzpiepte er aus der Gelbwarnseschöner-Kabine heraus, witschwatschte klatschnass Richtung Fiesta. O canalha! höhnelte es noch ihm noch nach: Nach Hause! Umziehen im Dienst war erlaubt. Und dann mal sehen was es mit dem Leser vom El País auf sich hatte. (Internationale Sprachenschule, könnte Schwittmann brauchen, wirklich.)
Herr von Wielpütz erbat sofort allerstrengste Vertraulichkeit. Er arbeitete im Bundespräsidialamt, Schloss Bellevue, Abteilung Orden, Auszeichnungen, Ehrungen der Bundesrepublik Deutschland. Eine schmale Type mit einem kleinen Schnauzbart, schütterem grauen Haar und runden braunen Augen voller Schuldbewusstsein:
Ich habe zu einem scheußlichen Verbrechen beigetragen.
Und das erzählen Sie mir im Café?
Na, schauen Sie sich doch mal um!
Wengath zählte neun verspiegelte Sonnenbrillen und auch sonst glänzte nichts als Leder, geöltes Haar oder ordentliche Fönfrisuren. Und bläulich blasse Gesichter zwischen und in all dem Geglänze. Traf bei seiner Augen-Rundreise durchs Bellwüh immerhin auch auf die Bedienung, aber die schaute sofort beflissen weg. Also wandte er den Blick wieder Herrn von Wielpütz zu:
Und?
Ich kann mir keinen anonymeren Ort vorstellen. Das hier sind alles junge, ehrgeizige Leute, sehr beschäftigt, die haben keine Zeit für uns.
Senkte dann aber doch sehr die Stimme:
Die warten meiner Meinung nur darauf, dass jemand von der Akademie der Künste hier seinen Kaffee trinken geht, weil sie auf Bekanntschaften aus sind. Sehen sie mal hin, wie sie alle die Kellnerin hofieren. Die kennt natürlich die meisten.
Und kroch noch näher an Wengath heran:
Ich war mit denen auch hier. An diesem Tisch hier haben wir alles besprochen.
Dass Journalisten beim Bundespräsidialamt anriefen, war die normalste Sache der Welt. Dafür gab es eine Presseabteilung, mit einem leitenden Pressesprecher als Chef und einem kleinen Stab von Mitarbeitern, die freundlich alle eingehenden Anfragen beantworteten. Es ging das ganze Jahr über ruhig zu, wenn der Präsident nicht gerade zu irgendeinem Anlass eine große programmatische Rede gehalten hatte. Aber das kam eigentlich nur einmal pro Amtszeit vor. Man war eben nicht das Innen-, Finanz- oder Verteidigungsministerium, wo alle Nase lang schmerzliche Maßnahmen ergriffen werden mussten. Der Anruf eines Herrn Ehrhorn von den Havelland-Studios jedoch hatte die ganze Abteilung in die angenehmste Aufregung versetzt.
Endlich mal eine vernünftige Idee, rief der Chef-Pressesprecher und schwenkte das Fax mit Herrn Ehrhorns Exposé, das ihm die Havelland-Studios eben durchgegeben hatten: Dass die Leute draußen auch mal sehen, was für wichtige Aufgaben wir hier eigentlich erfüllen!
Endlich mal nichts, was sich nur an runden Gedenktagen aufhält! flöteten die Sachbearbeiterinnen dazu.
Jawohl, zwitscherten da auch die Sekretärinnen: Erst 55 Jahre Mauerfall, dann alle 10 Jahre Reichskristallnacht und 100 Grundgesetz oder 130 Wiedervereinigung: Man kanns doch nicht mehr hören!
Und es hub an ein Flöten und Zwitschern, dass der Zimmermann Jens Wengath, Neffe des Kommissars, der am anderen Ende des Tiergartens auf dem Dachstuhl eines im Bau befindlichen Ministeriums stand, auf eine Zigarettenlänge den Himmel nach Zugvögeln abzusuchen, um Haaresbreite vom Balken in die hundert Meter tiefe Tiefe gesaust wäre: Denn es konnte nicht sein, dass Ende Juli, wo allerorten die Brut längst geschlüpft und flügge war, ein solches früh-frühlingsbeschwingtes Vögel- und Hochzeitskonzert sich hören ließe. Hieb aber im strauchelndem Fall die lange gebogene Spitze seines Zimmermannshammers durch den unteren Saum seines Hosenbeins in das Balkenholz und schwang an Hammer und Hose festgenagelt in die Arme seiner erschrockenen Retter. Das Exposé des Herrn Ehrhorn aber, nein es ging nicht, es rann (ja: wie Butter! Ja: wie Öl!) so:
Unsere teuren Toten
Ehrengräber sind ein vernachlässigtes Kapitel. Auszeichnungen, Preise aller Art bringen publikumswirksam hervorragende Mitglieder unserer Gemeinschaft ins öffentliche Bewusstsein. Aber um die letzten Ruhestätten solcher Menschen scheint eine Mauer gezogen, höher und undurchdringlicher als die Einfriedungen der Gottesäcker selbst. Das ist verständlich, nicht allein wegen der Schnelllebigkeit unserer Gegenwart, zu viele Brüche haben das zurückliegende Jahrhundert gekennzeichnet, als dass das Totengedenken immer ein einfaches gewesen wäre. Unser Ansatz ist, das zu ändern. Denn nach mehr als zwei Generationen, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen sind, können wir heute mit Stolz sagen: Dieses Land ist eine Erfolgsgeschichte. Und es lohnt, sinnend, ja dankbar an den Gräbern derjenigen zu verweilen, die es einst aus der Taufe hoben, die Gründungsväter und Gründungsmütter unserer freiheitlichen Republik.
Nach der erfolgreichen Übernahme zum nächstmöglichen Sendetermin des von uns erstellten Pilotprojekts (“Schon seh ich das Land!” – Gedanken am Grab von Kurt Schumacher, Magnetaufzeichnung, 17’38) wird das Team von Havelland im Zusammenarbeit mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen in einer ersten Staffel 48 Fünf-Minutenbeiträge zum Thema erstellen, zur täglichen Ausstrahlung nach heute und Wetterkarte außer an Montagen. Geplant ist, auf diese Weise mindestens hundert, voraussichtlich jedoch 250 Persönlichkeiten der ersten 25 Jahre nach Beendigung des II. Weltkriegs in Erinnerung zu rufen: bekannte und weniger bekannte aus allen Berufen und allen Schichten der Gesellschaft. Wir hoffen bei der hierfür notwendigen Recherche insbesondere auf die Zusammenarbeit mit dem Bundespräsidialamt. Denn wir halten es für so praktisch wie sinnvoll, uns an den Daten solcher Bürger zu orientieren, die im Zeitraum von 1949 bis 1970 wichtige Auszeichnungen der Bundesrepublik Deutschland erhalten haben. Und wir freuen uns über die Tatsache, dass wir mit diesem Ansatz eine für unser Selbstverständnis als nationale Schicksalsgemeinschaft so wichtige Arbeit wie das Verleihen von Verdienstorden einmal ins Licht der Öffentlichkeit rücken könnten.
Als aber das Flöten und Zwitschern im Schloss Bellevue verstummt war, nachdem es über drei Wochen die Flure auf und ab gelaufen war, bis es endlich dem höchsten Repräsentanten des Landes zu Ohren kam – und in seinem Lächeln aufgehoben schwang es sich selig beruhigt hinauf in ein höheres Sein – wurde beschlossen, Herrn von Wielpütz von der Abteilung Orden, Ehrungen und Auszeichnungen mit der Sache zu betrauen, sobald der aus seinem Zweitwohnsitz an der Costa del Sol zurückgekehrt war:
Und ich habe zum Teil noch bei den Heimatgemeinden angerufen, um denen auch möglichst genau sagen zu können, wo der und der begraben liegt und wer sich um die Grabstätte kümmert und so weiter. Von Mikulicz, Weidemann, Mackenroth, Steinacher, Badendiek, Foertsch und Walter, das haben die alles von mir!
Doch der Verdacht, Herr Ehrhorn und seine Mitarbeiter seien von der Saff, der ist Ihnen natürlich erst nach der Sprengung des Grabes von Ludwig Erhard aufgekommen.
Herr von Wielpütz starrte bekümmert auf den Cafétisch vor ihm:
Nach dem ersten Schreck habe ich mir dann nach Tagen endlich ein Herz gefasst und beim ZDF angerufen. Und die wussten nichts von einer solchen Sendereihe.
Er legte die Hände auf die Tischplatte, betrachtete sie lange, ganz als wollte er sie noch einmal ohne Handschellen sehen:
Werden Sie mich jetzt verhaften müssen, Herr Wengath?
Aber Herr von Wielpütz!
Wengath stand auf, schob seinen Stuhl unter Tisch. Die blöde Bedienung hatte in der knappen Stunde, die er jetzt hier war, immer noch nicht den bestellten Kaffee mit Rum gebracht: Wohl Grund genug, pathetisch zu werden! Ließ er also die Stimme anschwellen, mehr und mehr, mit Tremolo bis fast zum Gesang. Zum Trost für den geknickten Bundesbeamten, war das eeklich! Aber ran! Was soll sein mit Böcken, die man an den Hörnern packt, sie stinken auch da:
Sie sind mir nichts als ein sehr werter Zeuge. Ich sehe nicht, dass Sie zu irgendeinem Zeitpunkt etwas Anderes getan haben, als, lassen Sie mich hier dieses etwas altmodisch klingende Wort benutzen, als unserem Vaterland zu dienen, nach bestem Wissen und Gewissen. Machen Sie sich keine Vorwürfe! Selbst wenn wir den Schaden betrachten, den die Terroristen verursacht haben, so liegt der, abgesehen von dem tragischen Verlust eines Menschenlebens, doch hauptsächlich im Materiellen. Das Kalkül der Attentäter jedenfalls, verdiente Bürger aus unserer Mitte als alte Nazis zu verunglimpfen, ist an der Presse gescheitert, die über die infamen Bekennerschreiben der Saff geschwiegen hat wie ein Mann. Und nach dem feigen Mord an meinem Kollegen ist die Achtung für unsere Polizei nur gestiegen. Sie können ganz beruhigt sein, wirklich, Herr von Wielpütz!
Jetzt klappten allerorten die kühlen Sonnenbrillen hoch: Wahrscheinlich waren er und von Wielpütz längst mutiert zu sonstwem sehr Wichtigmann und Wichtigmann der natzjohnalen Schreiber- oder Künstlerzunft. Machte er besser die Biege:
Und Guten Abend auch noch, Herr von Wielpütz. Ich werde Sie anrufen, sobald ich Ihre Aussage brauche.
Obwohl ihm nach nichts so war, wie nach einem Whisky, 43 Volumenprozent, mindestens 15 Jahre alt, schwer rauchig und mit einem wunderbar anhaltenden Nachgeschmack, der über Stunden alles übertönte, was einer zuvor an Widerlichem auf der Zunge gehabt haben konnte. Aber ob es so etwas Feines im Bellwüh überhaupt gab, das war ohnehin nicht ausgemacht.