Was bisher geschah: Kriminalkommissar Wengath trifft ein drittes Mal auf zwei gut trainierte Wachmänner, die sich Kolbe und Breker nennen. Beim ersten Mal haben sie ein Gespräch mit dem Pathologen verhindert, nachdem dieser ihm ein Projektil hatte zukommen lassen – ein wichtiges Indiz in seinem Mordfall. Beim zweiten Mal haben sie ihm gedroht, er solle nichts mehr im Mordfall Dellmann unternehmen. Beim dritten Mal erwarten sie ihn im Büro des Staatsanwaltes Nebelung, den Wengath zur Rede stellen will, weil auch er die Mordermittlungen einstellen möchte. Aber diesmal verläuft die Begegnung glimpflich. Nach einer langen Ohnmacht, Folgen eines Katers, entdeckt Wengath die Wachmänner friedlich aneinander gekuschelt und schlafend. Nachdem er ihre Waffen an sich genommen und in Nebelungs Aktenregal versteckt hat, entkommt der Kommissar der ihm gebauten Falle durch Frechheit und Glück und lässt sich mit einem Taxi direkt vor die Haustür seiner Kollegin Marcks fahren.
Er drückte auf den Klingelknopf: Nicht erst nachdenken, ob sie nicht da sein könnte zu nachtschlafender Zeit, aber was war eigentlich, wenn sie es wäre? Oder wenn sie ihn an der Sprechanlage abfertigte, entnervt, oder noch schlimmer: kühl. Frauen wie Lene, das hatte er intus als gelegentlicher bis ehemaliger Kinogänger, würden immer und unbedingt sterben müssen, Drehbuchautoren verhängten Todesstrafe für die, die einen Mann verführte. Und mit Recht, wer wusste schon, wie oft sie das machte, mit einem Mann ins Theater gehen und den ganzen Rest, vielleicht sammelte sie solche Nächte, wie sollte man gut von so einer denken? Oder sollte er? Gerade und trotz allem? Aber hatte er noch genug Geld dabei, um nach Hause zu kommen, wenn sie jetzt einen anderen Liebhaber hatte? Doch sie ließ den Summer bereitwillig schnurren, als er sein Daniel in die Sprechanlage stotterte, er lief, stürzte fast die Treppen hinauf, der Lichttaktgeber tackerte ihm höhnisch hinterher, an einer Stelle war das Treppenhaus schwarz, Birne kaputt, ein Türspalt tat sich dottergelb auf: Hier!
Sie war schon schlafwarm, drückte sich an ihn, schob sofort ihre Arme unter seine dicke Jacke:
Ist das endlich ein Liebesgeständnis, dass du jetzt noch kommst?
Wie? Ich habe dir noch keins gemacht?
Er legte die Hand auf ihr Haar, sie schüttelte den Kopf, ohne ihn von der wattierten Jacke zu nehmen, Knautschen und Knistern an ihrem Ohr, zum Mithören:
Ich hätte dich längst anzeigen sollen deswegen. Unterlassene Hilfeleistung. Ich rufe bei dir an und du bist nie da, ich spreche dir was auf den Anrufbeantworter, du rufst nicht zurück. Denke ich, der Kerl wird sich gar nicht weiter für mich interessieren. Aber dann klingeln mir die Alarmglocken, wenn ihm was passiert ist, Mensch, in unser Winz-DDR wars so ungefährlich, bei der Kripo zu sein! Aber im Archiv erfährst du ja nichts und von Schwittmann auch nicht. Zum Schluss war ich so weit zu denken: Hoffentlich ist es nur, weil ich ihm einfach egal bin!
Sie vergrub sich mit ihrem Gesicht in den wattierten Stoff auf seiner Schulter, während sie schnell, fast flüsternd erzählte. Ihre Arme schoben unter seiner Jacke den Oberkörper hinauf und hinab, Prüfung auf Vollständigkeit, ihre Finger strichen suchend ohne Halt um Hals, Rücken, Brust. Er tunkte seine Nase in ihr Haar. Was war das alles einfach mit ihr! Und sie hatten sich Jahre lang nur belinst, umschlichen:
Lene.
Ja, ganz Lenchen Demuth. Das kommt dabei heraus, wenn man einen stockkommunistischen Vater hat und eine erzkatholische Mutter, Maria Magdalenchen Demuth. Jesus unerklärte Ische mit Marx Küchenliebe in einem. Und jetzt färbts ab, so ein Kack.
Sie machte sich los:
Essen? Trinken? Duschen? Du riechst merkwürdig, nicht stark, aber wie krank.
Sie ging den dunklen Flur entlang, ein Schalter klickte, eine Küche leuchtete auf in einem Türrahmen, Wengath legte seine dicke Jacke auf einen Stuhl im Flur und folgte ihr:
Essen, trinken, duschen, erzählen. Und wenn ich darf, bei dir übernachten.
Darf?
Sie stellte einen halben Laib Brot auf einem Brett vor ihn auf den Tisch:
Wenn du dich so weit vorwagst, mein Lieber, dann musst du.
Weißt du, was du mir da erzählst?
Kommissarin Spiller-Weinrich der Arbeitsgruppe Drogen und Organisiertes Verbrechen trappte schulterschief, imaginäres Telefon ans Ohr geklemmt, zu ihrem Schrank, kramte, krabbelte Papiere heraus. Eine Zigarette hätte sie gleichzeitig noch herumspazieren sollen, nervöse Rauchabwehr per Blinzellidschlag: Wirklich, es hätte ihr gestanden! Aber hier bei Drogen waren sie alle clean, sauber, sober, zog sie also statt Tabakrauch nur ihre Lippen ein: Schmalspursucht, verbissene. Das Fenster ihres Büros im Neubauteil des Polizeigebäudes war nichts als lampengrüner Spiegelfilm auf schwarzem Glas, kein Nachbarhaus, nichts dahinter zu sehen. Es war erst kurz nach sechs Uhr am Morgen, Wengath hatte sich nach nur drei Stunden schon wieder aus dem Bett gezogen, aus den weichen Schlangenarmen, die ihm nachkrochen: Geh nicht! Du! (drohend). Und es gab gleichzeitig noch einen zweiten Angriff, glatte Beinzange, in der sich seine Schenkel plötzlich wiederfanden. Ich lass mich scheiden, murmelte es unter den Kissen, als er sich daraus befreite, er konnte nur noch schnell versprechen, die nächste Nacht wieder zu kommen. Hätte er nicht doch besser bleiben sollen? Aber es hatte sein müssen. Und hatte ja auch bereits einen ganzen Aufsatz getippt: In Ermangelung von weiteren Zeugen erkläre ich, Name, Adresse, Geburtsdatum, Funktion, Dienstgrad, an Eides statt, dass mir a) in der Nacht von Datum im Gebäude der Firma Name, Adresse, und b) in der folgenden Nacht von Datum im Gebäude der Staatsanwaltschaft des Landes Berlin, Stockwerk, Zimmer, Nummer, das Folgende zustieß:
Ich will eine Durchsuchung von Nebelungs Büro, Ingrid, und zwar sofort. Oder so schnell wie möglich, wegen Gefahr im Verzug.
Deine Schtorrie passt jedenfalls wie die Faust aufs Auge zu einem unserer Ermittlungsergebnisse. Erstaunlich.
Sie legte ein Papier vor ihn hin, das Formblatt für die Schusswaffenbestimmung, oben die Fallnummer, Name des Opfers, Notiz der medizinischen Befunde, dann die Beschreibung der Behörde. Spiller-Weinrich piekte mit dem Bleistift auf einen Abschnitt:
Siehst du, zwei Einschüsse, wie nach Augenschein bei dem von der Lychener auch. Und eben auch zwei gefundene Projektile aus zwei nirgendwo registrierten Waffen, beide 45stel inch.
Und du vermutest, dass ihr jetzt auch wieder zwei Projektile findet.
Sagen wir so, wir haben insgesamt so neunzig Fälle seit Oktober letzten Jahres. Vorher gab es auch schon mal Schussverletzte und Erschossene, aber mehr im Plan Schießerei oder Abrechnung per Überfall, nicht dieses organisiert durchgeführte Hinrichten einzelner Opfer, das ist neu. Von den rund neunzig Fällen sind fünfzehn bis zwanzig statt mit einer mit zwei Pistolen, eben diesen Riesendingern. Bei uns heißen die nur die Overkillten. Was auch immer wieder auftaucht, ist ein schwarzer Golf GTI, zum Beispiel, warte mal.
Sie ging wieder zum Schrank.
Mehr Statistik brauche ich nicht, Ingrid. Ihr müsst in die Pötte kommen. Es ist bestimmt angenehmer, die Durchsuchung hinter sich gebracht zu haben, bevor Nebelung auftaucht.
Und du meinst wirklich, der Staatsanwalt arbeitet mit Killern zusammen? Die haben überhaupt nicht unser Täterprofil.
Was Nebelung konkret mit denen hat, weiß ich natürlich nicht. Und ich kann auch nur vermuten, dass die zwei mit dem Tod von vorgestern zu tun haben. Aber es gibt verdammt viel, was dafür spricht. Sei halt vorsichtig, nimm die Spurensicherung mit. Oben auf dem Klo könntest du Haare von mir finden, auch Blut. Vor Nebelungs Schreibtisch, mehr rechts, Kopfhaare, sonstige Haare, Hautabrieb, vielleicht Sperma von unserem Pärchen. An ihren Waffen meine und ihre Fingerabdrücke. Den Fotografen brauchst du. Wenn du gut sicherst, zusammen mit meiner Aussage ist das wasserdicht, dir kann keiner nachher an den Karren. Und es wird noch jede Menge Papierkrieg geben, weil ich meine Dienstwaffe gestern nicht ausgelöst habe, das stützt die Geschichte auch.
Sie stand unentschlossen zwischen Aktenschrank und Schreibtisch:
Aber immerhin, bei der Staatsanwaltschaft. Welcher Richter hat denn Bereitschaft?
Knaast.
Das macht der nie!
Ich hab schon mit ihm gesprochen, Ingrid. Er sagt, wenn Drogen es für nötig hält, macht er das. Immerhin handelt es sich um mögliche Tatwaffen und wenn du die erst hast, ist meistens dein Fall so gut wie gelöst. Das weiß Knaast auch, dass das so läuft. Und Nebelung kommt schon irgendwie unbeleckt raus aus der Schoose.
Er ging den Gang hinab, Sichtbeton, Licht wie in der U-Bahn, orangene Türen. Die Abteilung Drogen hatte ihre eigene Kriminaltechnische Untersuchungsstelle, den Nachlass von Nwgabe wollte er sich ansehen, ja wieso denn, gingen die Augenbrauen hoch von Spiller-Weinrich, Mordkommission Dellmann, Nwgabe ist Schwiegersohn: Da flogen ihr wirklich die Zigaretten zwischen die zuschnappenden Lippen, kamen von unten herauf in ordentlicher Reihe aus der Schreibtischschublade, wie Patronen im Munitionsgurt, zeigten mit roter Glut auf Wengath: Was?!Was?!Was?!, drängten sich, Filter nach Filter an ihren Mund, grimmig biss sie zu, großer Saugangriff (heißt jetzt aber: Aspiratorische Lungenverfüllung! Erlass des Innenministers), in Asche und Kippe fielen sie zur anderen Seite an ihr herab: Nee! Das schmeckt mir nicht! Dass du da noch dick mit drinhängen musst mit deinem Fall, kompliziert genug ist das alles. Aber so kompliziert ist das doch gar nicht, liebe Ingrid, der Tod von Nwgabe, könnte doch sein, ist beispielsweise ein dem Bandenkrieg untergeschobener Tod. Weißt du doch selbst, erster Grundkurs Kriminalistik, Motive geben Aufschluss über den Täter, also versteckt der schlau sein Motiv. Gut, wenn es denn zu deinem Fall gehört, lenkte sie nach 40 Zigaretten resigniert ein, gehe hin in Frieden und sündige hinfort nicht mehr. Denn man tau.
Es fand sich alles wie im Protokoll beschrieben: Nachlass Nwgabe, Hausschlüssel und Portemonnaie. In dessen rückwandiger Lasche, drei Geldscheine à soundsoviel, zwei Geldscheine à soundsoviel; Münzfach: 1 Büroklammer, ein Knopf; Kreditkartenschlitze: Monatskarte, Bankcard, Versichertenausweis der Krankenkasse, Porträtfoto einer weiblichen Person. Wobei sie ruhig auch dazuschreiben hätten können, dass es sich bei dem Foto um Monika Dellmann-Nwgabe, Witwe des Verstorbenen handelte. Zu ihr gab es aber nur den Hinweis, dass die vorgebliche Frau des Opfers – sie wussten wieder mal mehr als sie wussten – nicht vernehmungsfähig gewesen war. Grad dass sie sich zurückhalten konnten, Scheingattin simulierte Schock hinzusetzten. Im Seitenfach die vom Pfarrer der Zwölf-Apostel-Gemeinde beglaubigte Abschriften der Aufenthaltsgenehmigung und des Passes der República de Moçambique. Aber was war das?: Schreiben in unverständlicher afrikanischer Sprache und Deutsch, wahrscheinlich Code oder Art religiöser Talisman? Wengath blätterte ans Ende des Protokolls und fand eine Kopie, Vorder- und Rückseite, die unverständliche afrikanische Sprache, er kannte das jetzt mit den Wellenbogen über den a-s, war Portugiesisch, der deutsche Text zum Teil von anderer Hand korrigiert: Eine Übersetzung! Und lesen. Raten von Wort zu Wort, was es bedeuten könnte: Und liebe Mama und Mama und will ich und muss ich dich nennen und Gott und der Schöpfer und die Seele und ihr Weiß und ihr Schwarz und die Haut und ihr Schwarz und ihr Weiß: Ähä!
Habt ihr denn hier auch einen Kopierer?
Er schaute sich um nach einem Hinweis per Kopfruck über die Schulter, das Blatt Papier in der Hand, es steckte aber noch keine Polizistinnenfrisur (= oben kurz, nackenlang, Dauerwelle) hinter einem der Bildschirme oder Mikroskope: Es war halt doch noch verboten früh. Er machte sich selbst auf die Suche, das Gerät brummte unwillig, als er es einschaltete: Bitte warten (blinkblink). Er schaute noch einmal auf das Blatt, kopfschüttelnd, und die Sünde und die Vergebung und das Blut und das in Reinheit und das sich mischt und die Blutsverwandtschaft und die Gott und die beschließt und die Ehe und das Sakrament noch mal! Er legte es unter die sperrige Plastikklappe des Geräts, sah den Kopierer sonnenlampenhell aufblitzen. Diesen Text jagten die Kollegen von DroOrg also jetzt wahrscheinlich schon zwei Tage lang durch ihre Dechiffrierungs-Programme, auf dass er sein Urwaldgeheimnis preisgebe, wo doch die Kirchen ihre Filialen in jedem Stadtteil hatten, du liebe Mamã! Er nahm die Kopien aus dem Apparat, ehe sie in die Ablage fielen, sie waren kaum noch leserlich, aber für seine Zwecke würde es hoffentlich reichen:
Wer bearbeitet den Fall denn?
Keine Polizistinnenfrisur beugte sich kurz über das Blatt, um ihm das Kürzel zu entziffern: DroOrgII/B/Bim:
Bim. Wer heißt denn gleich noch mal so? Bimmbimmbimm.
Aber Bim, das würde wahrscheinlich Inspektor Biminski sein. Viertel vor sieben war es jetzt, bestimmt war er sowieso noch nicht im Haus. Also Abflug? Wieder in die Kissen? Er konnte nachher in aller Ruhe die Durchwahl raussuchen. Und die Hausdurchsuchung hatte er ja schließlich schon losgetreten. Naja, wenn Lene nicht doch schon am Aufstehen war. Also kurzmal rinn in die gute Stube, mal sehn, wie Schwittmann den gemeinsamen Arbeitsplatz hinterlassen hatte.