Was bisher geschah: Kriminalkommissar Wengath lässt nichts aus. Sogar eine Hausdurchsuchung im Büro des Staatsanwaltes Nebelung hat er angeleiert. Nachdem er dort zum dritten Mal auf die Wachmänner Kolbe und Breker gestoßen, aber ihnen zum ersten Mal entkommen war. Eine scheußlich ereignisreiche Nacht liegt hinter dem Kommissar. Doch nun zeigt die Uhr schon fast sieben und es ist zu spät, noch einmal in das für drei knappe Stunden besuchte Bett zurückzukehren. Also trottet Wengath in sein Büro, um zu schauen, wie sein Kollege, Inspektor Schwittmann, den gemeinsamen Arbeitsplatz gestern Abend hinterlassen hat.
Hallo, Danny! Ist dir aufgefallen, dass wir gar nicht wissen, was S.A.F. eigentlich heißt? Notiz Schwittmann. Verdammt, ja, der See-Elefant hatte Recht: Sarkastische Anti-Fa, Sprengen, Ablachen, Fiessein, die Brüder hatten tatsächlich glatt vergessen, ihren Namen zu erläutern! Und das, wo derlei mit Initialen gewichtig geschmückte Namen normalerweise geradezu ehrfürchtig geflüstert werden mussten. Das Kürzel S.A.F. sehen und den Namen raunen, von Furcht oder Bewunderung ergriffen, dass das in einem Augenblick geschah, darauf legte es jeder Namensgeber einer bewaffneten Formation an: Err Ah EFF, Ih Err Ah, Pee Ell Oh, jeder wusste ungefähr, wofür das stand. Und auch wenn später die Abkürzung sich vollkommen verselbständigt hatte, ein eigenes Wort für sich geworden war, blieb doch immer eine dunkle Erinnerung an der zu Grunde liegende Bedeutung zurück und genau das zusammen mit der Assoziation von Pulverdampf und Blutgeruch verschaffte diesen Buchstabenkombinationen ihre Aura. Aber S.A.F. war nichts als Saff, ein Wort ohne Klang, zu dem einem höchstens Saft einfiel, Saftladen, schlaff. Auch ein Symbol hatte sie übrigens nicht, keinen Stern mit Landmine, keinen heimtückisch grinsenden Grabkranz, nichts. Drei dürre unerklärte Buchstaben unter ihren aufwendig umwegigen Bekennerschreiben, das war alles. So jung konnten ihre Mitglieder von daher auch nicht mehr sein, dass ihnen die ganze Pfadfinderspielerei mit Namen und Symbolen dermaßen am Arsch vorbeiging. Hätte man gedacht, Bombenlegen wäre doch eher was für Romantiker! Und er sollte es mal ins Täterprofil rein schreiben: Bestimmt einiges über dreißig. Aber weiter im Text Schwittmann. Bevor der selber anrobbte. Halbe Stunde hatte er noch, vorsichtig geschätzt.
Und konnte den anerkennenden Pfiff nicht unterdrücken: Siehmada! Der Abgleich der aus dem beschlagnahmten Material der 21 Künstlerinnen gewonnen Daten mit den Beschäftigtenlisten der Volksbühne hatte ermöglicht, eine konkrete Verdachtsperson einzukreisen. Nämlich eine Frau, 35 Jahre alt (hatte ers nicht eben grad gedacht), zeitweise technische Assistentin der Abteilung Bühnenbild, tätig auf Abruf und wochenweise. Und, Schaumaher!, sie tauchte auch in der Liste wieder auf, mit der die 21 Künstlerinnen die Bewachung ihrer Ausstellung organisiert hatten: Eia wärn wir da, mehr konnte man nicht wollen. Es gab eine Adresse in Treptow – die entsprechenden Anträge auf Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, sowie des Wohnraums durch Mikrofone, schrieb Schwittmann, lägen dem Richter zur Abzeichnung vor. Aber hingefahren war der Herr Inspektor natürlich noch nicht, immer erst das Fernerliegende machen: Wie wärs mit noch einem Antrag auf vorläufige Festnahme durch ein chirurgisches Einsatzkommando, der Verdächtigen ratzbatz im Hauseingang einen Sender in die Arschbacke einpflanzen? Denn, ja!: So geil kann Medizintechnik sein! Millionen junger Männer, eifrige Doktoranden, träumten von nichts Anderem mehr als von einer Stelle beim Chirurgischen Einsatzkommando, Tausende bewarben sich auf jeden freien Platz! Aber nur der Jungchirurg mit dem besten Schnitt hatte irgendeine Chance!
Und hoppla: Was hatte die Frau an sich, dass seine Fantasie gleich einen ganzen Mob Mediziner auf sie losließ? Waren da nicht eben Bilder gewesen ? Aha. Soso. Na ja, als Delinquentin gar nicht mal unsympathisch: Zwei Fotos gab es, das aus dem Melderegister gezogene vom gerade erneuerten Ausweis und noch eins, das sie bei einer Mahnwache vor dem immer wieder geschändeten jüdischen Friedhof in Berlin-Prenzlauerberg zeigte. Wo sie das wieder so schnell her hatten? Aber wahrscheinlich gab es längst einen Ordner Anschlagsrelevante Themen, Unterordner: Extremisten. Beide Bilder waren gut und aktuell. Man müsste sich nur ein paar Stunden vor ihr Haus stellen und warten, bis sie herauskäme, man würde sie sofort erkennen. Dann hinterherlaufen und mal sehen. Nichts simpler und effektiver als das. Und Schwittmann später was erzählen. Von wegen: Vernachlässigung der einfachsten und grundsätzlichsten Fahndungsmethoden.
Draußen zögerte er einen Augenblick, ob er wirklich zu Fuß nach Hause gehen sollte, wo er in einer der Seitenstraßen sein Auto abgestellt hatte. Es war immer noch Nacht, der schwarze Himmel mit einem durchscheinenden gelblichen Vorhang verhangen. Auf den Straßen glühten mit jedem Ruck der Autoschlangen hunderte von Hecklampen auf, Dampf nebelte rotweißbunt vor Karosserien mit schwarzen Fensterlöchern und kleinen Glutpunkten drin: Rauchende Morgenfahrer in ausgebremster Überbretterlaune. Musste er nicht haben. Er lief die Steintreppen zur U-Bahn hinunter, ins Warme. Beezettwee: In den Geruch der Bahngeleise, von Metall, Öl, auch vom Kohleabrieb von den Stromabnehmern der Züge. (Nur S-Bahn roch besser.) Im Zug gab es sogar einen Sitzplatz, Kurzstrecke, es lohnte gar nicht, er dämmerte ein. Bis er nach der zweiten Station unsanft hochgefedert wurde: Neben ihn auf die Sitzbank plumpste ein Zweizentnerarsch, rempelte ihn, mach hüpf!, an seinen Nebenmann, kein EntschuljinnSe, fiel dem, fiel Wengath gar nicht ein, die Augen riss er auf im Schreck: Vor ihm hing die zeitungsverhangene Körperkulisse der Bank gegenüber; rotgerändert sprang es ihn in Riesenlettern zehnmal an: ERDBEBEN! Und er hatte es verpasst gekriegt, sein Erbeben. Bloß raus hier. Es war ja doch immer wieder eeklich.
Die Straße in Treptow, ein stilles kleines Ding – Altbauten, Kopfsteinpflaster, Eckkneipe, einige Läden – war wie gemacht zur Personenüberwachung, übersichtlich, aber nicht völlig ausgestorben. Gegenüber der Hausnummer 19 fand Wengath glücklich eine Parklücke. Es war Tag geworden, grau, aber kein Nebel, kein Regen, kein Wind, kein Frost, hell genug, um die Hundescheiße auf den Bürgersteigen sicher zu sehen. Rentnerinnen dackelten, pudelten, pinscherten sich von Straßenbaum zu Straßenbaum, ließen jedes Mal , Schatzi: zu Frauchen!, die automatische Leine zurückschnurren, wenn ein großer Rüde seinen knurrenden Arbeitslosen vorbeizerrte. In den Hausfassaden schimmerten noch jeweils zwei, drei Flecken Licht, vor allem in den unteren Stockwerken. Und am Ende der Straße zog alle paar Minuten kreischend eine Straßenbahn ihr kühlgelbes Fensterband vorüber. Wengath verschloss seinen roten Fiesta, sah an der Nummer 19 hoch. Vorderhaus, dritter Stock, links, lautete der Eintrag im Melderegister. Er meinte, genau dort noch eine Glühbirne leuchten zu sehen: Er ging über den Fahrdamm zum Haus. Von der schweren Holztür stand ein Flügel offen in die Durchfahrt zum Hof, von dem links der Aufgang zum Vorderhaus abging. Gegenüber an der Wand die Reihe, teilweise demolierter, teilweise überquellender Briefkästen, unter den wenigen intakten fand er gleich den mit dem Namen B. (er wusste: Barbara) Jakomir, die Morgenzeitung ragte noch steil als deutscher Gruß aus dem Briefschlitz: Waidmanns Heil! Warten auf Frau Jakomir.
Er setzte sich in sein Beobachterauto: Was machte er eigentlich im Beobachterauto, wenn er beobachtet würde und gefragt? Ach, logisch: Telefonieren. Heutzutage standen sie ja alle am Straßenrand mit ihren Fahrzeugen und telefonierten, konnte er auch so tun. Bis die Scheiben beschlugen und konnte dann gleich drin herumkrakeln, mit dem ausgestreckten Finger Herzchen, Blümchen, Männchen links von sich ins Nass ziehen. Mit Lene hätte er gerne telefoniert, es durfte also ruhig ein Herzchen sein, den Kitsch konnte er sich erlauben, ein Beobachterherzchen in Tröpfchenfilm auf kaltem Glas. Es trübte sich sofort mit seinem nächsten Ausatmen wieder nebelgrau ein und als sich vor lauter Nachmalen Waschhaut auf seiner Fingerkuppe zu bilden begann, öffnete er das Fenster einen Spalt weit. Die kalte Außenluft sickerte ein und kroch ihm die Hosenbeine hoch. Seine Pistole drückte ihn, als er die Knie etwas hochnahm und die Schultern vor, im Wunsch der Kälte möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Er schob seine Hand unter die Jacke, fasste den Knauf, der gegen seine Bauchfalte sperrte, zog die Waffe hervor. Wog sie kurz in der Hand: Ein schwarz lackiertes, nee, kein Ungetüm, ein Biest, klein, schwer, unsympathisch, tückisch, an dem er jeden Kratzer kannte: O-oh (beezettwee: ei-jei!)! Er entsicherte die Waffe, sicherte, das leise Klicken war das selbe wie sonst.
Zu Hause hatte sie gelegen, im Halfter, bei seinen Kleidern. Er hatte sich umgezogen, einen Moment nichts weiter gedacht, seit über dreißig Jahren legte er so ein Ding mit den Hosen an und ab: Wie hätte er, angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der sie wie immer da gewesen war, sich erinnern sollen, dass seine Pistole eigentlich ordentlich eingeschlossen im Panzerschrank der Justizbehörden hätte liegen müssen? Die Gewohnheiten erübrigten das Denken über das immer-Gleiche, auf Grund dieser Tatsache wurde einer mit zunehmenden Alter schlauer, weil er sich den Kopf frei halten konnte von all dem nicht mehr bedenkenswerten schon Bedachten. Und gleichzeitig, da hatte ihn der Flattermann wieder, trat eine vollkommene Unfähigkeit hinzu, Überraschungen als solche rechtzeitig zu erkennen. Er war dazu verdammt, sich von ihnen hinterrücks einholen zu lassen. Was ihren Effekt verschlimmerte: Sie waren bei ihm in der Wohnung gewesen. Sie hatten ihm die Waffe zurückgebracht. Es gab keinen Ort mehr, an dem er vor ihnen sicher war. Verriegelte Türen, ja selbst Wände, für Kolbe und Breker existierten sie nicht. Sie sahen in ihnen nichts als ineinander verklebtes oder verhaktes Material, das sie nur kurz in Bewegung setzen mussten, um durch es hindurch zu schlüpfen Und war es nicht auch so? War nicht auch in der festest gefügten Mauer Bewegung, ein atomares Schwirren kleinster Teilchen? Und lag nicht zwischen all diesen Teilchen, Molekülen, Atomen, Neutronen, Elektronen ein jeweils sternhimmelweiter Abstand, groß genug, dass ein Dauerregen von kosmischen Partikeln zwischen ihnen hindurchging, ohne dass es dabei öfter zu Kollisionen kam, als im All Himmelskörper aufeinander prallten? Warum sollten also nicht auch Kolbe und Breker nach einer kleinen Lockerungsübung jedwede Wand passieren können, hinter der er saß und um sein Leben zitterte?