Was bisher geschah: Es wird nur langsam heller nach der zweiten Nacht in Folge, die Kriminalkommissar Wengath sich fast gänzlich um die Ohren geschlagen hat. In der ersten haben zwei Wachmänner, Kolbe und Breker, ihn verhört, gefesselt und betrunken gemacht und ohnmächtig neben einer Leiche abgesetzt. In der zweiten Nacht begegnet er den beiden wieder, als er Staatsanwalt Nebelung besuchen und zur Rede stellen will. Diesmal entkommt er. Und weiß genug, um eine Hausdurchsuchung in Nebelungs Büro veranlassen zu können. Wieder in seinem Büro liest er in den Notizen seines Kollegen Schwittmann, dass die Sichtung von beschlagnahmten Material die Spur zu einer konkreten Person aufgedeckt hat: eine Frau Jokomir. Sie könnte an den Anschlägen auf die Gräber von alten Nazis beteiligt sein. Alle möglichen Anträge, Frau Jakomir zu überwachen, hat Schwittmann gestellt, aber zu ihrer Adresse zu fahren, um sie direkt zu observieren, war ihm nicht eingefallen. Also fährt Wengath hin, parkt vor ihrem Haus und wartet. Seine Dienstwaffe drückt ihm unangenehm gegen seinen Bauch. Er zieht sie hervor und betrachtet sie, als der Schreck ihn ereilt: Sie müsste im Schließfach bei den Justizbehörden liegen! Kolbe und Breker waren bei ihm zu Hause und hatten die Waffe zurückgelegt:
Wengath drehte sich nach hinten um, ob sie nicht bereits wie Dampf aus dem speckigen Bezug der Rückbank seines Fiestas stiegen, sich bequem zurückgelehnt vor seinen Augen rematerialisieren würden:
Wirklich, wir mögen Sie, Herr Wengath. Sie sind so wunderbar verbissen. Diese Hartnäckigkeit, das findet man heutzutage ganz selten.
Und sie würden ihre großen Sig-Sauer am Abzugsbügel um die Zeigefinger kreisen lassen und schnapp! zeigten die Mündungslöcher auf ihn:
Aber ein Gentleman sollte wissen, wann er aufzugeben hat, Herr Wengath. Es ist keine Schande, sich der Überlegenheit zu beugen.
Würden dann mild lächeln, die Waffen einstecken, weiterschwätzen, alles Pose, sprachlich irgendwo zwischen Fernsehkrimi, Anwaltskanzlei und Psychogruppe:
Verstehen Sie uns, wir wollen Sie als Freund. Sie kämpfen noch, Sie kämpfen verdammt gut, aber Sie haben einige Dinge falsch verstanden. Wir fänden es sehr schade, wenn Sie deswegen nun Schwierigkeiten bekommen würden.
Er sprang aus dem Auto, knallte die Tür hinter sich zu: Wo war denn jetzt Frau Jakomir?! Bremsen kreischten auf, er hechtete nach vorn, auf den gegenüber liegenden Bürgersteig, der Autofahrer hupte böse, nicht kucken, rein in den Hausflur: Die Zeitung war weg, der Briefschlitz leer. Er rannte wieder auf die Straße, schaute links, rechts, nirgendwo eine Frau, er schaute die Fassade der Nummer 19 hoch, von der Lampe, die er gemeint hatte, leuchten zu sehen, keine Spur mehr: Schicht. Er trottete zu seinem Beobachterauto zurück. Zerschlagen fühlte er sich. Eine Stunde unbehelligt im Warmen sitzen, wollte er. Nur, bis er wieder zu sich kam. Bis er versuchen konnte zu verstehen, was die Rückgabe seiner Waffe zu bedeuten habe. Aber wo? Lene Marcks würde nicht mehr zu Hause sein. Und sein eigenes Zuhause, da war er nicht mehr sicher. Kolbe und Breker würden, wann immer sie wollten, es direkt von der Straße aus durchqueren können. Im Schlendergang. Beim Wache schieben. Würden zur einen Seite durch die Wand hereinkommen, mal im Vorübergehen einen Gegenstand in die Hand nehmen, achschauma, Süßa, was der Wengath so hat, und zu anderen Seite wieder hinausgehen. Und langsamen Schritts bis zur Straßenecke. Und kehrt machen. Und hastu sein Bettzeug gesehn? Und wieder durch seine Wohnung, kopfschüttelnd, immerzu leicht am sich-Wundern. Als nächste würden dann die Hunde den Weg erschnüffeln, lernen durch Nachahmung, Schütteln und Zottelgeschmeiß, durch die Wand zu kommen. Als wäre sie nicht. Würden ab da eine Schleife vom Bürgersteig über seinen Teppich laufen, um am Schrank das Bein heben. Und wenn Herrchen oder Frauchen draußen – Hund verloren! – brüllte, pfiff: hopplahopp wieder durch die Wand weg. Kolbe und Breker würden lachen, hin und wieder einen kleinen Elefanten aus der Sammlung nehmen, den Hunden damit drohen. Dann aber, statt das Erinnerungsstück zu werfen, es aus der Hand auf den Fußboden fallen lassen. Stück für Stück würde sein Zuhause zu Bruch gehen. Anfangen zu stinken. Zu schimmeln. Wie eine Wohnung, in denen sich ein Schwarm Stadttauben eingenistet hatte. Und wenn er darüber nachdachte: Auf den Taubenschwarm liefe es letztendlich hinaus. Dass er ihm ins Zimmer regnete, sobald Kolbe und Breker ihn erwischt hatten. Ihm mit einer ihrer Wunderdrogen das Hirn verbrannt. In seinem Geflatter, Federgestöber würde er verdämmern. Zugeschissen werden. Von Taubenzecken zerbissen. Während vor ihm, hinter ihm, um ihn herum aufgeblasene Tauber die Weibchen im Kreis herumtrieben. Die mit verätzten Füßen humpelnd zu entfliehen versuchten, sichere Opfer. Und überall, wo er sich setzte, zerdrückte er mit seinem Hintern frisch gelegte Taubeneier.
Dass es auch einmal einen Musiker treffen sollte, hatte schon lange festgestanden. Die Auswahl war groß und voller glänzender Namen wie Pfitzner, Strauß, Orff. Komponisten, deren Werke immer noch – im Fall von Strauß, Ein Heldenleben oder auch Till Eulensiegels lustige Streiche seit dem Tod des populären deutschen Außenministers bei einem Hubschrauberabsturz in Belgrad, sogar immer öfter – im Rundfunk zu hören waren. Trotz der notorischen Präsenz des Straußschen Oeuvres im Äther hatte sich bei den Recherchen der Gruppe Orff als der beste Kandidat herausgeschält. Nicht, weil er in seiner Vertonung der Carmina Burana konsequent alles, was im zu Grunde liegenden mittelalterlichen Text Lebenslust und Genuss ausdrückte, musikalisch in Ekstatik übersetzt hatte, bis die Sauf-, Trink- und Liebeslieder schließlich klangen wie von einem aufgepeitschten Gespensterchor gesungen. Das war vielleicht doch mehr ein Fall für einen Psychologen, auch wenn sicherlich die Verwechslung von individuell gefühlter Lebensfülle mit dem das eigene Ich auflösenden ekstatischen Rausch ein Massenphänomen des Dritten Reiches gewesen war. Doch was die Gruppe letztlich bewog, sich für Orff zu entscheiden, war sein aktiver Anteil an der Judenvernichtung: Mendelsohn durfte nicht gespielt werden, eine arisierte Fassung der Schauspielmusik zum Sommernachtstraum musste her. Orff lieferte sie, inklusive Hochzeitsmarsch. Als die Gruppe schon kurz davor war, nach München zu fahren, wo der Komponist begraben lag, um die Verhältnisse vor Ort genauer anzusehen, da gab Speichert Barbara Jakomir nach einer Stellprobe in der Volksbühne eine Musikkassette:
Hier. Das solltet ihr euch einmal anhören.
Barbara Jakomir musterte ihn, wie er vor ihr stand, mit dem abgeknickten Oberkörper unter den Vorsprung eines Bühnenaufbaus geklemmt. Er grinste sie halb besoffen an, während seine Augen ihrem fragenden Blick auswichen, fast unfreundlich angestrengt woanders hin schauten. Aber sie kannte den Inspizienten schon viel zu lange, um die Kassette nicht zu nehmen:
Wieso ihr? Ich bin alleine.
Tu nicht so. Du und dein Arbeitskreis. Für den ich nachher nicht mehr fein genug war.
Knut, lass es bitte, dich in Sachen zu mischen, die dich nichts angehen. Du hast nie was mit dem Kreis zu tun gehabt, du hast uns einmal in der Kneipe getroffen. Außerdem reden wir immer nur über Bildende Kunst, nie über Literatur.
Ich will nur, dass ihr das hört. Das ist alles.
Und was ist es?
Na, ästhetisch, würd ich sagen, SS marschiert.
Und was war es?
Wengath hatte Speichert nicht kommen gesehen. Jemand hatte gegen das Fenster der Seitentür seines Autos geklopft, er war hochgeschreckt, alle Scheiben um ihn herum waren beschlagen. Er sah nur den Schatten eines großen Mannes auf dem Bürgersteig, griff nach seiner Pistole, konnte nicht sehen, ob ein Auto herankam, entriegelte die Waffe, die Fahrertür, spähte durch den Spalt nach hinten, schob, quetschte sich nach oben zwischen Tür und Karosserie ins Freie: Auf der anderen Seite des Autos schaute grinsend das Langbein auf ihn hinunter, reichte ihm über das Autodach hin die Hand.
Fickmusik. Dauert nicht länger als zehn, zwölf Minuten, ideal also, mehr schafft sowieso kein Schwanz. Fängt leise an, wird dann immer lauter. Wiederholt sich dabei ständig. Bis zum finalen Bummbumm. Dann gibt es noch einen Bläserfurz zum letzten Abstöhnen und schon darfste im Schweiße deines oder des andern Arsches nach Luft hecheln. Issn Klassiker.
Mir war nicht bewusst, dass die SS auf diese Weise marschiert wäre.
Es war noch anstrengender in Speicherts Nähe als beim letzten Mal in seinem engen Inspizienten-Ausguck. Auch diesmal waren seine Hände überall. Und das im Umkreis von vier Metern. Doch jetzt steckte er außerdem in einer steifen Jacke mit etlichen dicken Pullovern drunter, wie obenherum in ein Sitzkissen gestopft und konnte die Arme nicht richtig beugen. Sodass die Gestik immer am ausgestreckten Arm mit ihm durchging: Ein winterlicher Watschenmann. Wengath war heilfroh, das Paterchon im Pärchen zu sein, seine Nase nicht in der selben luftigen Höhe zu haben, in der Speichert helikopterte. Aber manchmal klappte das ganze Sitzkissen plötzlich vor, Speicherts Mund schob sich brühwarm an sein Ohr. So hatte es, noch übers Autodach hinweg, gleich angefangen: Auch auf Jakomir? Klaa, weiß ich, wose steckt, kenn die gut. War Wengath also mitgetrottet, die Straßen entlang. Bon. Beziehungsweise nicht: Es gehörte zu seinem Fall. Und das Langbein hörte sich gern reden:
Nee, isse auch nich, wenn mans genau nimmt. Aber wenn Karajan den Bolero dirigiert, dann sieht man die schwarze Truppe doch wieder vor sich, schneidig, zackig, arrogant, bis dass die Welt in Trümmer fällt. Fällt mir nicht ein, wer sich nach der Version lieben könnte. Schwule vielleicht, die auf Militär stehen. Solls ja geben. Kenn sogar zwei. So Bodybuilder. Und brauner die beiden als ihre eigenen Scheißlöcher.
Hören Sie mal, wen kennen Sie denn noch alles?!
Speicherts Helikopterrotor kratzte ein paar Meter vor Wengath in die Hauswand, hakte fest: Das ganze Langbein hing sich schlapp und lachend dran: Hust-hust! Was war das komisch, dass Wengath stehen geblieben war, den Inspizienten halb verblüfft, halb entsetzt anstarrte! Rotierte dann zu ihm zurück, ließ selbstgefällig die Hand auf Wengaths Schulter fallen:
Allitt und jeen! Dem Innspietsjentinn entjeht nüscht. Ihre Lene Marcks zum Beispiel –
Und brachte das Thema mit ihrer Erwähnung tatsächlich auf die einzige mögliche Person, bei der Wengath gezwungen war, ihm zuzuhören, ohne dass er mit den Killern weitermachen musste: Aas, das, taktisch geschicktes!
– die hab ich mir schon lange ausgekuckt. Rankommen wurde einem natürlich leicht gemacht in der DDR. Musste nur so tun, als ob ich mich für Krimi interessiere, gabs Fortbildungen für Krimiautoren bei der wissenschaftlichen Abteilung der Kripo. Mit praktischen Übungen, mit Gips rumpanschen, Fußspuren sichern, dass wir die Arbeit der Genossen auch immer richtig darstellen würden.
Klappte plötzlich den Rotor ein, Selbstumarmung, Kälteabwehr:
Hat mir aber nie was eingebracht. War die Kripo der falschen Seite.