Was bislang geschah: Der Fall der 240 Plastikwecker hält Kriminalkommissar Wengath in Atem, seit er von einem Fall von massiver Sachbeschädigung zu einem Mordfall geworden ist. In welcher Beziehung das auf dem Grab von Ludwig Erhard gefundene Todesopfer, ein Berliner Polizist, zu der Serie von Bombenanschlägen auf Grabstätten steht, ist dabei aber alles andere als klar; Aufschluss über seine Rolle geben weder eine in der Nähe des Tatorts gefundene Patronenhülse noch die Befragung der Witwe. Doch kommt Wengath in Bedrängnis, als am Montag nach dem letzten Anschlag der Spiegel mit folgender Schlagzeile erscheint:
S.A.F. – Antifa im Todeskampf?
Über die konkrete Arbeit der Polizei stand nichts in der Titelstory. Wengath schob die Ausschnitte aus dem Magazin – vor einer Viertelstunde von Inspektor Schwittmann gebracht – in die Pressemappe zurück und ließ sie vor sich auf den Schreibtisch fallen. Die Vorwürfe des Spiegels gingen an die eigene Zunft. Sie waren berechtigt. Die Presse, schrieb das Magazin, habe die Ereignisse nicht ernst genommen. Es gebe Bekennerbriefe, die sie in unverantwortlicher Weise ignoriert hätten. Bekennerbriefe! Das hieß: mögliche Schriftproben, Stilanalysen, Spuren! Dass man als Kriminalbeamter nicht in den Redaktionen anrufen konnte, um die Pfeifen dort persönlich zusammenzustauchen: Was das denn sei, den Ermittlungsbehörden die Beweismittel vorzuenthalten?! Etwas nicht abdrucken ist eine Sache, aber es einfach so leichthin in den Papierkorb fallen lassen?! Klagemöglichkeit gegen Zeitungsredaktionen prüfen!!! schrieb Wengath auf den Aktendeckel, in den er die Spiegelausschnitte versenkt hatte. Drei Ausrufezeichen.
In seinem Rücken die trockene Hitze, die von den Rippen des Heizkörpers abstrahlte. Er drückte sich mit der Hand von der Tischkante ab, bis er mit dem Stuhl ein wenig nach hinten kippte. Kalt war es trotz der Heizung in seinem Büro. Die Kälte steckte im Steinfußboden. Und in den Mauern, am Anfang des Jahrhunderts dick genug für eine ganze Ewigkeit hochgezogen. Der bläuliche Schein eines wolkenverhangenen Novembervormittags drang durch den oberen, nicht mit Milchglas verglasten Teil des Fensters. Kaltes Licht. Gerade stark genug, um sich gegen die kreisförmige Leuchtstoffröhre unterhalb der Zimmerdecke nicht wieder in Nachtblau zurückzuverwandeln – aus dem es erst vor ein ganz paar Stunden hervorgetreten war. Und das zögernd genug. Wengath angelte sich mit zwei Fingern die auf seinem Schreibtisch liegende Pressemappe, zog den Leitartikel, des Herausgebers wieder daraus hervor und begann, an die Heizung gelehnt, ihn noch einmal zu lesen.
Der Terror, Rache der Zombies hatte der Herausgeber ihn überschrieben. Er war eine einzige große Warnung. Die S.A.F., das sei erst der Anfang einer großen Welle von Gewalt. S.A.F., wie sich die Terroristen selber nannten, sei eine offene Anspielung auf das R-A-F der ehemaligen Roten Armee Fraktion. Und was beide Gruppen zu erbitterten Feinden der Bundesrepublik mache, sei, dass die bundesdeutsche Demokratie aus der Asche des vielgeschmähten Dritten Reiches geboren sei. Und dass geläuterte Nationalsozialisten sie gesäugt, sie laufen und bestehen gelehrt hätten. Nach nur wenig mehr als vierzig Jahren habe sich aber gezeigt, dass dieser Weg zur Demokratie der bessere gewesen sei als die stalinistische Antifa-Diktatur. Die ihrer Vorgängerin in punkto Terror in nichts nachstand. Wenn nicht sogar übertraf.
Und führte aus: Denn es ist ja nicht erst seit dem Schwarzbuch des Kommunismus Konsens unter denkenden Menschen, die im Zuge rein ideologisch motivierter Wirtschaftsmaßnahmen Umgekommenen mit zu den Opfern des Bolschewismus zu rechnen. Der Hunger der Sowjetzeit ist eben nicht mit dem Hunger vergleichbar, den wir aus Zeiten der freien Marktwirtschaft kennen. In die Marktwirtschaft greift, Gott sei Dank, nur wenig politischer Machbarkeitswahn ein, im Idealfall regelt allein das Gesetz von Angebot und Nachfrage das zu Regelnde. Die Konsequenzen dieses Laissez-faire sind auf unserem überbevölkerten Planeten sicherlich manches Mal tragisch mit anzusehen. Doch es verwechsele niemand die Dinge, Tragik ist etwas Anderes als planwirtschaftliche Schreckensherrschaft. Die auf dem ganzen Globus mit jedem Tag mehr Terrain gewinnende Demokratie ist ohne alle Frage verbesserungswürdig. Machen wir uns aber nichts vor, Tragödien wird es immer wieder geben, auch in einer vollkommenen Demokratie.
Es sind diese Einsichten, gegen welche die Terroristen der S.A.F. mit ihren Anschlägen auf Polizisten und Gräber ehemaliger Mitglieder der NSDAP aufbegehren. In ihren Bekennerschreiben setzen sie den Nazismus mit den Abwehrmaßnahmen des demokratischen Staates gegen die unkontrollierte Zuwanderung gleich. Gegen diese Maßnahmen geben sie zu kämpfen vor. Da gegen halten sie ihr antiquiertes Idealbild des verarmten und verfolgten Immigranten, dem zuliebe die Welt neu eingerichtet und die Marktwirtschaft abgeschafft werden müsse. Ganz als hätten wir die Lehre vom Unsinn der Umstürze nicht gründlich eingebläut bekommen im blutigen 20. Jahrhundert. Ein von der Geschichte gründlich ins Nichts und Nimmermehr geschickter Geist ist hier zu Werke. Das ist es, was ihn so gefährlich macht: Es ist der Geist von Zombies. Worauf er letztlich sinnt, ist Rache.
Zombies sind, wir wissen es, auf eine möglichst breite Blutspur aus. Und kaum anders als mit spirituellen Mitteln zu bekämpfen. Es sollte deutlich geworden sein, dass diese Mittel nicht zuletzt darin lägen, öffentlich endlich Schluss zu machen, mit der unreflektierten Verklärung des illegalen Einwanderers zum Opfer auf der einen, und der pauschalen Verurteilung des Nazismus auf der anderen Seite. Menschen gehören nach ihren Taten beurteilt. Man muss sagen dürfen, dass es vor allem doch kriminelle Energie ist, die jemanden dazu verleitet, sich in ein Land zu schleichen, für das er keine Einreisegenehmigung hat. Ein klareres Einwanderungsgesetz wäre hier freilich hilfreich und tut seit Jahren schon Not. Und natürlich muss man gegen den Blutdurst der S.A.F. immer und immer wieder betonen, wie ungerecht es ist, über fünfzig Jahre nach Kriegsende Menschen nach dem einmal gehabten Parteibuch zu beurteilen und ihre späteren Leistungen für die bundesdeutsche Demokratie außer acht zu lassen. Macht es euch klar, Leute: Die S.A.F. bekämpft Polizisten und die Gründungsväter unserer Republik. Gründlicher kann man dieses Land nicht hassen.
Ess, Ah, Eff. Wengath ließ den Zeitungsausschnitt sinken. Ess, Ah, Eff: Saff! Ob der Herausgeber des Spiegels recht damit hatte, eine Serie von Sachbeschädigungen und einen toten Polizisten zu dem Anfang einer langen und breiten Blutspur rachsüchtiger Desperados zu erklären? Was nützte ihm dann schon spirituelle Gefahrenabwehr? Staatsanwalt Nebelung würde innerhalb der nächsten Stunde anrufen, um ihn zur Rede zu stellen. Weshalb eigentlich nicht er herausgefunden habe, dass diese S.A.F. S.A.F. hieß und es auf Gräber ehemaliger Mitglieder der NSDAP abgesehen hatte. Das war nur allzu klar.
Er stieß sich mit den Händen von den Eisenrippen des Heizkörpers ab, kippte auf seinem Stuhl an den Schreibtisch zurück, griff den Telefonhörer und legte ihn auf die grüne Schreibunterlage aus Plastik. In fünf Minuten musste etwas passieren. Er starrte auf den vor ihm liegenden Telefonhörer. Eine Festnahme. Er brauchte sofort eine Festnahme. Und dann ein die Beweislage vollkommen revolutionierendes Vernehmungsprotokoll.
Inspektor Schwittmann, rotgesichtig, mächtig vorstehender Bauch, legte immer wieder seine Fingerspitzen auf die Tasten seiner Schreibmaschine. Ohne sie hinunter zu drücken. Die Künstlerin zog die Schultern zusammen, als wollte sie ihren Kopf damit abkneifen und schaute Wengath aus großen braunen Augen hilflos an:
Ich habe Ihnen das doch aber schon alles beim letzten Mal gesagt!
Drei Stunden ging das nun schon so und Schwittmanns Blatt in der Maschine war immer noch fast leer:
Was machen wir, Chef?
Nichts machen wir! Nichts!
Wengath brüllte fast. Die Künstlerin krümmte sich auf ihrem Stuhl noch weiter zusammen. Schwittmann erhob sich sofort und drückte auch die Lampe weiter nach unten: Dass die Frau sich nicht etwa unter dem blendenden Schein der Glühbirne hinwegducken konnte. Das Dunkel der Wände wuchs und kroch näher, nur die Schreibtischplatte war noch eine Insel von Licht.
Entweder sie sagt uns, was sie vor sechs Wochen verschwiegen hat, oder wir verschimmeln hier. Lies vor, was wir haben, Micha.
Von Inspektor Schwittmann kam ein tiefer Seufzer:
Bettina Mayer, geboren den ersten ersten neunzehnhundertsechsundsechzig –
Und zum hundertsten Mal ging Wengath durch den Kopf, wie eine Künstlerin mit so einem Namen überhaupt Anerkennung finden konnte. Warum nicht gleich Susanne Bayer? Auf der anderen Seite: Einer wie Heiner Müller hatte es auch geschafft, sich einen Namen zu machen Und was immer man von ihm halten mochte, das war zu bewundern. Außerdem konnte ja auch nicht jeder Eichelkraut, Ehrhorn oder von Wielpütz heißen.
– in Berlin, ledig, Bildhauerin.
Wengath winkte mit der Hand, als würde er eine Gruppe trödelnder Kinder antreiben:
Die Tatsachen, Micha Schwittmann.
Die Vorgeführte gibt an, tatsächlich weiße Plastikwecker der Firma Time’s East in Gera als Leihgabe besessen zu haben. Es handele sich um zweitausendeinhundertundsechzig Geräte, die sie zu einer Plastik verbaut habe für die Ausstellung Zeitsprünge – Zeitensprung, 21 Berliner Künstlerinnen aus 21 Berliner Bezirken vom 28. Mai bis zum –
Ist gut, Micha. Weiter. Lass doch bitte aus, was wir nicht brauchen.
Eigentlich war es ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen, die Lieferlisten von Time’s East zu überprüfen, da die Firma ausschließlich Grossisten belieferte. Die Grabsprenger hatten sich die Wecker für ihre Zeitzünder bei jedem beliebigen Uhrenhändler kaufen können, falls der bei einem der Grossisten bestellt hatte. Aber so im Dunkeln, wie Wengath getappt hatte, war sogar die Idee, sich beim ehemaligen Geraer Präzisions-Zeitmesser-und-Weckuhrenwerk-VEB Völker hört die Signale einmal umzusehen, nicht abwegig gewesen. Wo es diese Firma wunderbarerweise überhaupt noch gab.
Hören Sie, was ist das?
Wengath, von einem merkwürdig blau getönten, hinter Glas hängenden Foto angezogen, hatte auf dem eben angebotenen Drehstuhl gar nicht erst Platz genommen. Durch die schmale Papptür in seinem Rücken, die schon ein wenig schief in dem abgeschabten Alurahmen hing, trat der Verkaufsleiter von Time’s East. Mit einer Flasche ohne Etikett, in der eine goldbraune Flüssigkeit schwappte, und mit zwei Wassergläsern in der Hand:
Was hätten wir denn machen sollen? Ein Plastikwecker bringt im Endverkauf vielleicht 12 Mark. Wir haben unseren für sieben auf den Markt geworfen und sind noch drauf sitzen geblieben. Uralte Lagerware.
Der Verkaufsleiter füllte die Wassergläser halbvoll. Wie hatte er gleich geheißen? Versagte das Elefantengedächtnis doch. Troedt? Trodt? Trutz? Jedenfalls einer, bei dem man das Gefühl hatte, dass er mit der Brille schon geboren worden war. Schmal und hager, besonders das Gesicht, aber zwei Rahmen auf der Nase, um Badewannen damit einzufassen.
Das Modell war zu kantig. Entsprach noch zu sehr dem verflossenen Ideal der Produktgestaltung, klare Linien für den Bürger des sozialistischen Staates.
Wengath drehte sich zu ihm um und sah ihm in das durch die Brille entstellte Gesicht.
Wir produzieren jetzt schon ewig Modelle in Lizenz. Eine Firma bei Stuttgart liefert das Design. Und die haben es aus Hongkong.
Wengath betrachtete noch einmal das Foto. Der merkwürdige bläuliche Schimmer, der die Atmosphäre auf ihm prägte, rührte wohl daher, dass es sich nicht um das Original, sondern um eine Farbkopie der Fotografie handelte. Auf DinA4 vergrößert. Eine Raumflucht, Scheinwerferleisten an der Decke, die hintere Wand in Licht getaucht. Und über die ganze Wand ein bewegtes, wie durch einen Windstoß geordnetes Muster aus kleinen, in allen Winkeln zwischen 0 und 360° geöffneten, mit jeweils zwei kurzen schwarzen Strichen markierten Schenkeln. Jedes Schenkelpaar hatte um sich herum ein Kästchen: Das Gehäuse des Weckers, dessen von Explosionsspuren überzogene Einzelteile Wengath bei jedem Attentat gewissenhaft einsammeln ließ. Das von den Winkeln gebildete Muster waren einfach die vielen unterschiedlichen Uhrzeiten.
Sie wollten doch einen Kognak, oder?
Gedankenverloren nahm Wengath das Glas, führte es an seine Lippen, während er weiter zuhörte.
Für die Firma nennt sich das Ganze Sponsoring und was Sie auf dem Foto da sehen, nennt sich Kunst. 2160 aufgestapelte Wecker. Genauer: 36 Time´s East-Geräte der alten Produktion in die Höhe, mal 60 in die Breite. Bei zwölf Stunden á 60 Minuten, die ein Normalzeitmesser anzeigt, ergeben sich 720 mögliche Uhrzeiten, die hier also jeweils dreimal auftauchen. Doll, was?
Der Weinbrand war viel besser als Wengath zu hoffen gewagt hatte. Der Verkaufsleiter von Time´s East bot ihm eine von seinen Zigaretten an. Wengath schüttelte den Kopf.
Der Künstler, sagen Sie mal, ist der noch zu finden?