Mein in diesem Blog seit einigen Wochen in Folgen erscheinender Kriminalroman Keine Kunst ist eins gewiss nicht: immer gründlich recherchiert. Er ist um 1995 zwischen Tür und Angel entstanden, kurz nachdem ich eine glänzende Karriere hinlegte hatte, von einem mit Stipendien geförderten Berliner Musenjüngling zum Wirtschaftsflüchtling im Ausland. Unter solchen Umständen fand ich die Frage, ob zum Beispiel Ludwig Erhard tatsächlich auf einem waldigen Prominentenfriedhof in Bonn begraben liegt oder sein Ehrengrab einen ganz anderen Heimatort hat, für meine Belange unerheblich und habe auf die Authentizität meiner Schauplätze großzügig verzichtet.
Mir ging es um etwas Anderes. Ich musste mir Luft machen, weil mich das zu ersticken drohte, was seit der Wende in der Luft lag: das große Reinemachen, das Wehe den Besiegten nach dem ideologischen Sieg der Grundtorheit der Epoche. Wobei das Anti bereitwillig auf alles ausgedehnt wurde, was je mit der Farbe Rot in Berührung gekommen war, seit in der französischen Revolution weiße Tücher in das Blut geköpfter Adliger getaucht worden waren – auf die selbiger Revolution vorausgegangene europäische Aufklärung in einem Aufwasch gleich mit. Alles, was in den letzten Jahrhunderten einmal mit Sympathie für den Sozialismus gedacht worden war oder zu ihm hinführte, wurde als verbrecherisch gegeißelt. Und mancher national gesinnte Kommiskopp, Tyrann, Massenmörder oder Judenschlächter kam als Freiheitsheld auf einem Sockel zu stehen, insbesondere in Osteuropa, weil er so schön Antikommunist gewesen war.
Es war diese Stimmung, die mich dazu brachte, einen fiktiven Herausgeber eines nicht minder fiktiven Spiegels einen Leitartikel schreiben zu lassen, der in der letzten hier veröffentlichten Folge von Keine Kunst das Kernstück war: „Der Hunger der Sowjetzeit”, augsteinigte ich mehr oder minder gekonnt, „ist eben nicht mit dem Hunger vergleichbar, den wir aus Zeiten der freien Marktwirtschaft kennen. In die Marktwirtschaft greift, Gott sei Dank, nur wenig politischer Machbarkeitswahn ein, im Idealfall regelt allein das Gesetz von Angebot und Nachfrage das zu Regelnde. Die Konsequenzen dieses Laissez-faire sind auf unserem überbevölkerten Planeten sicherlich manches Mal tragisch mit anzusehen. Doch es verwechsele niemand die Dinge, Tragik ist etwas Anderes als planwirtschaftliche Schreckensherrschaft. Die auf dem ganzen Globus mit jedem Tag mehr Terrain gewinnende Demokratie ist ohne alle Frage verbesserungswürdig. Machen wir uns aber nichts vor, Tragödien wird es immer wieder geben, auch in einer vollkommenen Demokratie.“ – ganz als ob es den Hungernden nicht völlig gleichgültig sein kann, was ihre Herrschaft sonst noch im Kopf hat und an Sonntagsreden schwingt, während sie das Schicksal der Verelendeten kühl ignoriert.
Aber wenn ich die Textpassage nach über zwanzig Jahren wieder lese, frage ich mich, ob sie überhaupt noch als Satire begriffen werden kann. Wirkt sie nicht ganz so, als könnte sie in wirklich fast jeder Zeitung stehen oder von Politikern fast aller Parteien sinngemäß vorgebracht werden, ohne dass sich irgendjemand darüber empören würde? Dass das weltweite Wirtschaften täglich ungezählte Todesopfer vor allem unter Armen und Schutzlosen fordert, lässt sich kaum leugnen. Warum eigentlich werden diese Opfer nicht genauso als Opfer einer ideologisch motivierten Wirtschaftspolitik wahrgenommen wie die Opfer der Kollektivierungsmaßnahmen in der Sowjetunion unter Stalin? Und umgekehrt, eingedenk offenbarer Schwierigkeiten, denen sich die Sowjetunion auf dem Weg zur Industrienation ausgesetzt sah, warum diese Opfer nicht auch nur ein einziges Mal und nur ein ganz wenig als Opfer tragischen Geschehens? Warum dürfen in der Marktwirtschaft, über ihre ganze lange Geschichte hin bis heute, Menschen ins Elend geraten, von perfiden bis martialischen Strafmaßnahmen in Schach gehalten und verfolgt werden oder auch verhungern, und es ist eben so oder es ist eben tragisch, während bei allem, was Kommunisten und Sozialisten, abgesehen vom Paradies auf Erden, nicht hinbekommen haben, von Stümperei, Mangelwirtschaft, Unfreiheit, Diktatur, Regime, Schreckensherrschaft, blutiger Unterdrückung usw. die Rede ist? Ist meine Satire noch verständlich? Oder ist das, was ich damals durch den Kakao ziehen wollte, das Maßnehmen mit zweierlei Maß, inzwischen nichts als reinste und klarste, unhinterfragbare Selbstverständlichkeit?