vonkirschskommode 07.11.2019

Kirschs Kommode

Komplett K: Kommodenfächer & Kurzwaren, Krimi & Kinder, Klasse & Küche, Kypris & Kirche, K-Wörter & Komfort.

Mehr über diesen Blog

Was bisher geschah: Eine Serie von Sachbeschädigungen an Gräbern mittels Zeitbomben wird zu einem Mordfall. Und dann zu einem Politikum, als die Presse, namentlich der Spiegel (und nicht der ermittelnde Kommissar Wengath) herausfindet, dass eine sich S.A.F. nennende Gruppe für die Anschläge verantwortlich ist. Ihr mutmaßliches Motiv: Die Begrabenen waren Mitglieder der NSDAP. Unter Druck geraten vernimmt Wengath eine Berliner bildende Künstlerin ein zweites Mal, auf die er bei einem Besuch in der Uhrenfabrik Time’s East gestoßen war, jener Firma, aus der die Weckeruhren an den Zeitzündern der Bomben stammten. Time’s East hatte der Künstlerin 2160 der Uhren für ein Kunstprojekt zur Verfügung gestellt. Und tatsächlich waren davon 240 während einer Ausstellung verschwunden. Aber das wusste Wengath alles bereits aus der ersten Vernehmung der Künstlerin. Entsprechend zäh gestaltet sich nun die zweite:

Die Künstlerin gibt an, dass sie das Verschwinden der ersten sechzig Plastikwecker nicht bemerkt habe.
Schwittmann dehnte jedes Wort, das er aus dem Protokoll verlas, die reine Zeit- und Ohrenschinderei:
Erst nachdem im Verlauf der Ausstellung eine weitere Reihe verschwand, sei ihr die Sache merkwürdig vorgekommen. Gezählt habe sie allerdings erst, nachdem schon eine dritte Reihe, insgesamt 180 Wecker, entwendet worden waren. Eine Anzeige des Diebstahls habe sie unterlassen, nachdem die Herstellerfirma ihr signalisiert habe, auf Schadensersatz verzichten zu wollen. Bis zum Schluss der Ausstellung seien noch einmal sechzig Geräte verschwunden. Den Rest, 1920 Geräte, habe sie, wie abgesprochen, entstaubt, in die Originalkartons zurück gepackt und mittels eines entliehenen Kleintransporters nach Gera zurückgefahren.
Ist das alles?
Alles, Chef.
Schwittmann setzte sich gequält in seinem Stuhl zurecht:
Außerdem steht das alles schon im letzten Protokoll. Wort für Wort.
Und Sie haben dem nichts hinzuzufügen, Frau Mayer?
Nein, nichts.
Nichts?
Wirklich nicht!
Was ist zum Beispiel mit den Verpackungen der von Ihnen nicht zurückgegebenen Wecker passiert?
Mit den Verpackungen? Aber –
240 Pappschachteln. Weiß Gott keine Kleinigkeit. Sie werden sich erinnern.
Aber was haben Sie denn jetzt mit den Verpackungen? Die habe ich doch längst weggeschmissen.
Weg? Wohin?
Ja, in den Altpapiercontainer. Wohin denn sonst?
In den Altpapiercontainer. So. Hm.
Was schaute Schwittmann denn so irritiert zu ihm herüber? In seinen Fingern begann Wengath seinen Bleistift hin und her zu rollen. Nur nicht aufsehen. Hier waren seine Finger und der Bleistift, eine winzige Drehung des Kopfs nach rechts war das Verhör: Sie würden die zusammengekrümmte Künstlerin an den Stuhl fesseln müssen, damit sie sich nicht unter die Tischkante bog. Nach zwei Wochen ungefähr würde Schwittmann sich bis zur Unkenntlichkeit in seine Schreibmaschine eingearbeitet haben: Als ein von Fett schmierig gewordener Flaum auf den Tasten liegen und ansonsten im Raum nur noch als Geruch wahrnehmbar sein. Einzig und allein er hielte sich noch aufrecht. Zweiundzwanzig Polizisten würde er verschleißen, nach Futter schreiend wie ein mutterloses Kätzchen. Und zweiundzwanzig andere damit, dass sie seinen Urin wegtragen mussten. Danach würden die Reinemachefrauen kommen, die Künstlerin, die sich beim Zusammenkrümmen längst in winzige Stückchen zerkniffen hatte, fortfegen, würden ihn in die Garderobe hängen, die Schreibmaschine feucht abwischen und Schwittmanns sonstige Reste zum Fenster hinauslüften. Die vierundvierzig verschlissenen Polizisten würden gewendet und später von einem privaten Wachdienst übernommen werden.
Er bohrte die Bleistiftspitze in einen Radiergummi, schob beides mit dem Handrücken zur Seite, erhob sich, ging zum Fenster und riss es auf. Die eiskalte nasse Luft des Berliner Herbstes brachte ihn für einen Moment wieder zu sich. Nach Abgas roch es, nach verschwelenden Braunkohlebriketts.
Protest!
Schwittmann hatte die Hände erhoben, im Zimmerdunkel über ihm schwammen zwei weißliche Flecken:
Ich bin schon erkältet.
Wengath schloss das Fenster wieder. Der Spätherbstgeruch verflog und der Muff des Verhörzimmers schlug ihm betäubend in die Nase:
Also, lies vor, was wir haben.
Es ist nichts dazugekommen, großer Kommissar. Alles noch genau wie vorher. Bis ins Kleinste.
So?
Wengath setzte sich langsam auf seinen Drehstuhl und schob sich dann mit den Füßen ganz nah an den Verhörtisch heran:
Und wozu haben Sie diese schöne Geschichte auswendig gelernt, Frau Mayer? Was ist es denn, was Sie uns nicht erzählen wollen?
Auf die Lichtinsel im dunklen Vernehmungszimmer, auf die von der nach unten gezogenen Lampe beleuchtete Schreibtischplatte platschte ein dicker Tropfen. Frau Mayer zog den Rotz hoch; die Tischplatte bekam einen kleinen Stoß, die Schluchzer, von oben nach unten über den gebeugten Oberkörper laufend, ließen die Lichtinsel mitvibrieren. Konnte Wengath gar nicht anders, sah die Brüste der Frau, wie sie sich hoben und senkten. Runde Brüste unter dem Feinrippstoff eines T-Shirts, die langen schweren Locken der Frau fielen auf sie hinab, die unteren Kringel der Haarsträhnen strichen im Rhythmus der Schluchzer über sie hin: Das kitzelte bestimmt an den Brustwarzen. Stachen sie schon, zwei Fingerspitzen, von innen gegen das Shirt? (Schlucken und schnell zu Schwittmann sehen!) Schwittmann starrte in die Schreibmaschine, die Hände auf die Tastatur gelegt. Das Weinen Bettina Mayers füllte den Raum bis hin zu den kaum geahnten Wänden in der Dunkelheit.

Selbstverständlich war alles an einem Regentag gewesen. Zwar war es Juni und es hätte Juniwetter geben sollen. Aber der Sommer hatte sich schon Anfang Mai verausgabt gehabt. Mit Gradzahlen, die innerhalb einer Woche von unter zehn bis fast an dreißig ebenso schnell zunahmen wie zeitgleich die Gespräche über die Klimakatastrophe. Doch jetzt überschritten die Temperaturen keine 13 oder 14 Grad. Dennoch hatten die Verantwortlichen des Ausstellungszentrum im Fernsehturm am Alexanderplatz keine Notwendigkeit gesehen, die Heizung einzuschalten. Auf die 21 Werke der 21 Berliner Künstlerinnen aus 21 Berliner Bezirken passten vier Frauen auf, eine pro Saal. In den restlichen Räumen des Zentrums lief zur gleichen Zeit eine andere Ausstellung, Kinder sehen unsere Zukunft, die nicht durchgehend bewacht wurde, es kam nur hin und wieder ein Angestellter eines privaten Sicherheitsservices vorbei. Sie bestand aus endlos vielen Stelltafeln mit Wachsmalkreide- oder Filzstiftzeichnungen, auf denen tote Bäume und kranke Planeten zu sehen waren, darunter kleine Zettel: Pia, 8 Jahre, Dennis, 6 Jahre. Wenn eine der vier Aufpasserinnen aus dem Nachbarsaal zu sehr fror, konnte sie zu den Kinderbildern hinübergehen. Dann erinnerte sie sich schon wieder, dass ihre Gänsehaut und ihr Zähneklappern halfen, den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren. Rettet das Aprilwetter!
Die vier Aufpasserinnen waren von den Künstlerinnen selbst gestellt, bei der Organisation von zeitSprünge -zeiten­Sprung war der Posten Bewachung einfach vergessen worden. An diesem vernieselten und kalten Donnerstag im Juni war Bettina Mayer zum Aufpassen eingeteilt. In der zweiten Schicht von zwei Uhr mittags bis zum Geschäftsschluss der umliegenden Warenhäuser abends um halb neun.
King Kong ging durch alle vier Säle der zeitSprünge-zeitensprung hindurch, mit King Kong-typischem Watschelgang an allen 21 Kunstwerken der 21 Künstlerinnen vorbei, eine große Tasche hinter sich her ziehend. Gefolgt von fünf Mitaffen in ähnlichen Kostümen und vier aufgeregten Aufpasserinnen, darunter Bettina Mayer, die dicken dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und jetzt mit roten Flecken auf den Wangen, am Punkt, laut loszuschreien:
Raus hier! Raus! Wehe, ihr tut den Sachen was!
Fünf der sechs Affen hoben die Hände, griffen in die Latexwangen ihrer Masken und zogen die Mundwinkel zu einem Lächeln zurecht, so gut es ging. Der sechste verbeugte sich und drückte den erschrockenen Frauen ein kleines Flugblatt in die Hand:

Kunst, ein Affentheater?

Darin waren all die entwürdigenden Umstände und Schwierigkeiten aufgezählt, unter denen die Ausstellung zustande gekommen war. Vom Geld angefangen, das die Künstlerinnen ausgegeben hatten, um sich einmal ausgestellt zu sehen, über die Kunstbürokraten, die ihre halbherzige Unterstützung noch als große Wohltat angerechnet wissen wollten, bis hin zur Ateliernot durch die Explosion der Mietpreise und den immer versprochenen, aber nie eingeführten Mieterschutz für bildende Künstler. In fünf Minuten niedergeschrieben, so altbekannte Tatsachen enthielt es. Aber es wirkte. Bettina Mayer atmete tief durch, strich ihr Haar zurück, das, da zusammengebunden, ihr gar nicht in die Stirn gefallen war. Und statt ängstlich schauten ihre braunen Augen vorsichtig interessiert:
Eine von uns müsste zur Tür gehen. Dass niemand kommt, solange die Sachen nicht bewacht sind.
King Kong winkte, ein Affe ging, einen Packen Flugblätter in der Hand. Dann öffnete er die Tasche, hob einen winzigen Campingtisch heraus, drei Thermosflaschen, eine Flasche Rum, ein Paket Würfelzucker, Löffel und Plastikbecher. Und einen Ghettoblaster. Die drei anderen Aufpasserinnen lächelten und fingen ebenfalls an, sich zu entspannen.
Vielleicht hatten King Kong und seine Mitaffen ursprünglich an Sekt gedacht, als sie die Aktion planten. Das kalte Wetter musste sie jedoch überzeugt haben, dass es besser Teegrog sein sollte. Aber da hatten sie die geliehenen Affenkostüme noch nicht länger als eine halbe Stunde ausprobiert gehabt. Sie schoben mit dicken schwarzen Fingern die Affenlippen auseinander, setzten die Plastikbecher an ihre Münder und tranken. Die Hitze lief ihnen die Speiseröhre hinunter, drang mit dem Schweiß durch die Haut, fing sich im Latexkostüm und nahm dadurch noch einmal zu. Die vier Frauen wärmten ihre Hände und Nasen an den Plastikbechern, bliesen in den Grog, um den warmen Dampf an ihren Wangen zu fühlen, die schon wenig später rosarot überschlagen waren. Durch den Dampf hindurch lachten sie die Affen an, ihre Bewegungen wurden von Becher zu Becher gelöster, sie legten ihre Schals ab, die Schnupftücher verschwanden, die Strickjacken schwangen offen über ihren T-shirts oder Blusen. King Kong hatte den Ghettoblaster angestellt. Sie begannen zu tanzen. Salsa. En la mar, en la mar mi pena pudo calmar (¡húsa!). Bettina Mayer und ihre Kolleginnen waren alle gut über dreißig. Genau im richtigen Alter für Salsa. Ein Affe tanzte allein, die anderen vier jeweils mit einer der Bewacherinnen. Augenblicklich klebten ihnen die Pyjamas am Leib, die sie unter den Kostümen trugen. In den Nacken rann ständig neue Flüssigkeit, bis die Musik nicht mehr zu hören war, nur das Quietschen zwischen Gummi und Hals, Gummi und Ohrläppchen, Gummi und Nase, Gummi, auf jedem schweißtriefenden Flecken nackter Haut hin- und herrutschend. Vom Nacken rann ihnen das Wasser den Rücken hinunter, durch die Arschritze, die Innenseite der Schenkel entlang, kitzelte in den Kniekehlen und sammelte sich schließlich an den Füßen in solchen Mengen, dass man ab und an einen Hahn hätte öffnen können, um es abzulassen wie an einer Posaune den Speichel. Die Frauen legten die Strickjacken ab, jetzt hätten sie einen normalen Tänzer gewärmt mit der von ihrer Haut strahlenden Hitze; vier Frauen, die verschwitzten Affen hielten und drehten sie in ihren Gummiaffenarmen und wateten dabei im eigenen Saft wie ein Reparaturtrupp im Leitungsgestrüpp einer noch glühenden Heizungsanlage. Endlich riss die Musik ab. Die Kassette war zu Ende.
Wir wollen die Wecker kaufen.
Es war das erste Mal, dass einer der Affen sprach: King Kong, noch halb keuchend. Bettina Mayer sah ihn, dann nacheinander die anderen Affen mit aufgerissenen Augen an.
Vier Reihen. Von oben. Zehn Mark, Stück.
Aber die Plastik.
Zehn Mark das Stück. Dann hast du die Unkosten raus und noch etwas über.
Sie sind nur geliehen.
Bettina Mayer hatte sich unwillkürlich zu ihrer Arbeit begeben, wie um sie gegen einen bevorstehenden Angriff zu verteidigen. King Kong ließ den Deckel des Tapes aufspringen und drehte die darin liegende Kassette um. Es knisterte etwas, dann hörte man mehrmals ein Freizeichen.
Firma Time´s East, guten Tag.
Ja, guten Tag, hier Mayer, können Sie mich mit dem Herrn verbinden, der bei Ihnen für Öffentlichkeitsarbeit, Kunst und sowas zuständig ist?
Mit Herrn Niehoff? Ich verbinde.
Ein Klacken. Dann:
Niehoff.
Ja, hier Bettina Mayer. Es ist mir sehr unangenehm, aber es sind Wecker verschwunden. Ich habe es zuerst nicht gemerkt.
Ah! Die Künstlerin! Guten Tag auch, Frau Mayer.
Ah, guten Tag, ja, Entschuldigung.
Klappt etwas nicht bei Ihrer Ausstellung?
Es sind Wecker verschwunden. Ich habe es zuerst nicht bemerkt. Erst nachdem drei Reihen weg waren. Man sieht es nicht sofort, verstehen Sie?
Man sieht es nicht?
Nein, es fällt nicht sehr auf. Wenn man die Plastik kennt, ja. Deswegen habe ich angefangen zu zählen. Es fehlen zweihundertvierzig Stück.
Einige Sekunden lang war nur das Rauschen der Telefonleitung zu hören. Bettina Mayer starrte mit offenen Mund auf den Kassettenrekorder.
Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Mayer.
Niehoffs Stimme klang ruhig und ein wenig amüsiert:
Bringen Sie uns einfach den Rest zurück. Es ist nett, dass Sie Bescheid sagen. Aber der Wecker ist eher ein Ladenhüter. Sagen Sies nur niemanden.
King Kong schaltete das Gerät ab, griff in die große Tasche, um ein dickes Bündel Zehnmarkscheine hervorzuholen:
Zweihundertundvierzig
Bettina Mayer schüttelte langsam den Kopf, aber um ihren Mund spielte ein Lächeln:
Unglaublich. Es ist einfach völlig unglaublich. So eine Dreistigkeit.
Mit einem Ruck drehte sie sich zu King Kong, kam ein paar Schritte auf ihn zu und griff nach den Scheinen.

Vier Seiten lang war Schwittmanns Protokoll geworden. Eine unter Tränen vorgebrachte Aussage, die sie ohne alle Zwischenfragen angehört hatten. Nämlich im Zustand größter Verblüffung. Und darunter befanden sich endlich die Unterschriften: Bettina Mayer, Michael Schwittmann und seine eigene, Daniel Wengath. Musste er nur noch auf dem grau überpuderten Kohledurchschlag des Protokolls mit Kugelschreiber anstreichen, welchen Dingen sie den nächsten Tage nachgehen sollten. Drei Zeuginnen gab es für den Auftritt der Affen von der S.A.F., die anderen Aufpasserinnen. Ein Kostümverleih, der sechs Affenkostüme auf einmal verliehen hatte, würde sich an das Geschäft sicherlich auch noch erinnern. Und schließlich waren die Flugblätter irgendwo konzipiert, geschrieben und gedruckt worden. Der Triumph würde natürlich der Dienstvermerk sein, mit dem sie ihre Akten für heute schliessen konnten: Die Beschuldigte ist dem Haftrichter vorgeführt worden.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/kirschskommode/keine-kunst-5/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert