Was bisher geschah: Eine Festnahme hat es gegeben im Kriminalfall, in dem Kommissar Wengath gegen eine Gruppe ermittelt, die sich S.A.F. nennt und Gräber von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP in die Luft jagt: Eine Berliner Künstlerin war im Besitz der Wecker gewesen, die die Gruppe als Zeitzünder verwendet hatte. Nun ist ein Großeinsatz in der Berliner Künstlerszene vorgesehen, aber Wengath hat die Planung dafür seinem Kollegen Schwittman überlassen. Er will lieber weiter die Hintergründe des Todes von Polizeihauptwachmeister Dellman ermitteln, dessen Leiche auf dem zuletzt gesprengten Grab, das von Ludwig Erhard, gefunden worden war. Dort, an demselben Grab war auch eine Patronenhülse aufgetaucht. Doch als Wengath den Gerichtsmediziner, Dr. Siechner am Telefon fragt, ob er Befunde habe, die darauf hindeuteten, dass Dellmann vielleicht noch geschossen habe, reagiert Siechner merkwürdig, sagt, er habe keine Zeit, da er seine Mutter vom Einkaufen bei Karstadt abholen müsse, und legt auf. Wengath lauscht noch eine Weile in den stillen Hörer hinein:
Hatte Siechner also eine Mutter. Holte sie, ganz braver Sohn, eine halbe Stunde vor Ladenschluss vom Einkaufen ab. Eine Frau von Mitte siebzig bis Mitte achtzig, stellte sich den Wecker auf halb fünf, schlurfte auf sein Geklingel zur Garderobe, mühte sich in die gefütterten Halbstiefel, Mantel, Mütze, gehäkeltes Tuch, tappte die Treppenstufen bis zum Erdgeschoss hinab, stemmte sich gegen zwei bis drei mit Türdrückern bewehrte Hof- oder Haustürflügel und schlug sich dann in den Winterabend, durch den stachelnden Graupelbewurf bis zur Bushaltestelle oder zum Eingang der U-Bahn. Um zu Karstadt zu fahren. Um einzukaufen. Gegen zehn vor sechs verabschiedete sich mit einem Lächeln ein freundlicher Angestellter des Warenhauses von ihr. Die große, prall gefüllte Tasche ließ er an der Seite der Schwingtüren stehen, wo auch die alte Dame Platz nahm, die Augen von den Stößen warmen trockenen Muffs gepeinigt – endloser Kampf eines Gebläses im Fußboden gegen die mit den Pendelschlägen der Türen eindringende Eisluft -: Wo bleibt denn nur mein Sohn?
Wengath nestelte unter Jackett und Mantel die Uhr aus seiner Hosentasche. Niemals. Siechner hatte keine Mutter. Geborene Vollwaise der Mensch. Und sollte der einzige Kontakt, den man ihm zutrauen würde, doch der zur Mutter sein, dann wäre es doch bestimmt einfacher, ihr den Bringeservice zu bezahlen, anstatt die alte Dame in diesem Wetter in die dunklen Straßen hinauszujagen. Bis sechs Uhr fehlten noch zwei Minuten. Stand auch keine alte Dame wartend am Ausgang. Weder unter dem Vordach des Eingangs draußen, noch hier. Wo zwischen Büchertischen und einer Parfümerieabteilung der Einkaufsmob beim Eintreten sich aus dem Nass ausdünstenden Winterzeug wickelte. So wie beim Hinausgehen wieder hinein, geläufige Griffe. Auch Wengath zog die Lagen der Schalwolle wieder übereinander, schlug den Mantel fester um sich. Und ließ noch mit der selben Bewegung sich vom Strom der Kunden ergreifen und hinauskreiseln. Sechs Uhr. Es dröhnten auch prompt von irgendwoher dumpfe Kirchenglocken. Elektrische Glockenstühle: Fahrt zum Himmel!
Er sah Dr. Siechners blasses Gesicht erst, als es fast direkt neben ihm in der Menge dunkler Jacken, Mützen und Kapuzen auftauchte. Seine Brauen zuckten unsicher mehrmals, er kniff die Augen zusammen, um Wengath zu erkennen. Dann ein flüchtiges Lächeln. Als er plötzlich den Blick wieder abwandte und heftig auf einen großen kräftigen Mann neben ihm einredete:
Kein Recht haben Sie, ich bin privat hier, meine Angelegenheiten sind das!
Wengath warf den Arm nach vorn zwischen etliche Schultern und Rücken, schob sich an Siechner heran. Etwas bohrte sich mit Wucht in seine Magengrube, ein Knie, aus dem vielen Mantelstoff plötzlich aufgetaucht. Seine Hand glitt von Siechners Arm wieder ab, das klein gemusterte Pflaster des Bürgersteigs schoss auf ihn zu, Schuhe stolperten gegen seine Beine, er lag. Ein Hindernis, von dem jetzt die Leute zurückwichen, wie die Fettschicht auf dem Wasser vor einem hereingefallenen Tropfen Seife. Er war mit knapp ein Meter fünfundsechzig klein, schon dreiundfünfzig Jahre alt, seine Mütze war ihm weggerollt, die grauen schütteren Haare waren allen sichtbar: Half ihm wirklich niemand auf?
Da war er schon halb wieder oben, in der rechten Hand brannte der hineingeratschte Dreck:
Stehen bleiben, Polizei!
Er lief vornüber gebeugt, die Armbeuge gegen den Bauch gedrückt, den zwei Männern hinterher, die Siechner zwischen sich eingehakt davonzogen:
Kriminalpolizei! Halten Sie!
Reifen quietschten, ein schwarzer Golf GTI schlidderte auf den Bordstein zu, die Seitentüren sprangen auf, schluckten Siechner und die zwei Männer, schlugen zu, schon war das Fahrzeug mit einem Satz zurück auf der Fahrbahn und wühlte sich in den dichten Verkehr.
Taxi!
Wengath warf sich dem Mercedes fast vor die Kühlerhaube:
Sehen sie den Golf da?
Er saß schon im Polster des Beifahrersitz, riss die Wagentür an ihren Platz in der Karosserie, griff über die Schulter nach dem Gurt:
Schnell hinterher!
Der Taxifahrer nahm den eingelegten Gang wieder heraus und legte den Schalter der Warnblinkanlage um:
Nun mal langsam, junger Mann. Wir sind hier nicht in Holliwutt.
Ärgerlich griff Wengath unter seinen Mantel in die Jackentasche und zog die Polizeimarke heraus:
Kriminalpolizei. Nun fahren Sie schon!
Es gibt so viel Verrückte. Und Polizeimarken machen die sich alle auch.
Der schwarze Golf war am Ende der Straße nach rechts abgebogen:
Nun fahren Sie, verdammt!
Immer, wenn Sie mir ordentlich sagen, wohin.
Wengath löste den Gurt und öffnete die Wagentür wieder.
Macht fünf Mark, wenn Sie jetzt aussteigen.
Machs dir selbst, Arschloch.
Er lief wieder zu Karstadt hinein, zur ersten Kassiererin, hielt ihr die Marke unter die Nase:
Ich muss sofort telefonieren!
Und rief die nächste Wache an. Endlich nahm jemand ab:
Ein schwarzer Golf GTI? Ist ja gar nicht mal so selten das Auto. Na, ich geb das über Funk raus, wollen sehen, was sich machen lässt. Wir schicken Ihnen den Streifenwagen vorbei, für die Anzeige.
Wengath hängte auf, ein Blick auf die Uhr, und fuhr die Rolltreppe hinab. Lief in die Weinabteilung, Ecke Südweine und langte sich eine Flasche chilenischen Baron Rothschildt, Los Vascos aus dem Regal. Als er an der Kasse bezahlte, plätscherte schon der Rausschmeißschlager Es ist Feierabend aus den Lautsprechern des Kaufhauses, im jovialen Lastwagenfahrer-Bariton und mit Chor: Schnell weg! Draußen vor dem Eingang wartete der Streifenwagen auf ihn. Um halb neun war er zu Hause. Um zwei Uhr nachts wachte er mit Kopfschmerzen auf. Anstatt zu Hause eine ganze Flasche Wein auf vollkommen leeren Magen zu trinken, hätte er eigentlich auch in die Lychener Straße, Nummer 7 fahren können. Zu Dellmann-Nwgabe. Der Taxifahrer fiel ihm ein: Zöpfchen zur Halbglatze, so einer. Frustrierter ehemaliger Student der Film- und Fernsehakademie vielleicht. Er hätte ihm die Dienstpistole auf die Rippen setzen sollen. Ihm das Abenteuer seines Lebens gönnen. Aber vielleicht stimmte es und die Verrückten machten sich wirklich alle Polizeimarken. Und die Dienstpistole – er mochte das Ding nunmal nicht.
Eine Dose Pfeffersardinen in der Besteckschublade. Ein pappiges Brötchen dazu, das er vorgestern in einer Plastiktüte verstaut hatte. Alte Krümel verglühten im Toaster, aufsteigender Blaufilm über dem roten Schlund des Geräts, ein herber Geruch breitete sich in Wengaths kleiner Küche aus. Musik an. Als er sich zu seinem kleinen Radiorekorder auf dem Hängeschrank hochreckte, merkte er, dass er zitterte. Bloß setzen. Die Fische, drei silbrige Dreiecke, spitz, wo die Schwanzflosse, breit, wo der Kopf gewesen war, vorsichtig mit der Gabel über den Rand der Dose hebeln (brechen leicht!). Ein bisschen von dem Olivenöl auf die gebräunte Brötchenhälfte plempern, Fisch rauf, reinbeißen. Die mürben Fasern des Fisches ließen sich mit der Zunge am Gaumen zerdrücken, zarte Gräten und das krosse Brot piekten im Mund, in dem sich augenblicklich und weich das Olivenöl ausbreitete und mit ihm die wärmende Schärfe der Chilischote, die selbst klein und rot noch im Rest des Öls in der Dose schwamm. Er atmete auf. Besser. Über und hinter den Augen fühlte er einen unangenehmen Druck, der sofort Schmerz wurde, wenn er sich zu ruckartig bewegte. Aber auch das würde besser werden, wenn er alle drei Fische und das Brötchen aufgegessen hätte. Er lehnte sich in den Küchenstuhl zurück und aß langsam, mit halb geöffneten Augen.
Musik, Papa Wemba, Farafina, La Lupe: Antonia es una mujer que llora por el dinero. Wohin hatte sich sein Sender verirrt? Keine Lust aufzustehen, klang doch auch lustig, dieser Sender: ¡Ay, mi marido, ay, que angustia, ay, que me caigo por el suelo, ay, ay! Jingle: Radio Multikulti. War das ein Witz? Hießen die so? Und die gabs noch? Zeitzeichen. Acht Uhr war es. Die Nachrichten. Haushaltslöcher. Sparappelle. Richterbund: Deutsche Richter nicht ausländerfeindlich. Nullrunde bei Lohnerhöhungen gefordert. Massaker nach ethnischen Spannungen. In? Nicht hinhören:
Die Berliner Polizei hat heute Morgen im Rahmen der Fahndung nach den Attentätern auf das Grab von Ludwig Erhard mehr als zwanzig Wohnungen und Ateliers durchsucht. Im Verlauf der Aktion wurden zahlreiche Waffen sichergestellt und Planungsunterlagen beschlagnahmt. Bei dem Anschlag auf das Grab des Ex-Bundeskanzlers am vergangenen 24. Oktober in Bonn war ein Berliner Polizeiobermeister ermordet worden.
Er fing die Sardine gerade noch auf. Zwischen seinen gespreizten Fingern hatte die Brötchenhälfte sich gedreht, während er die Nachricht hörte: Der schwereren Seite zu, bis zu dem Ruck, den es gab, als die Sardine über den Rand hinabkippte, in Wengaths im Schreck vorschnellende Hand hinein. Er warf das Stück Brötchen auf den Teller, ließ den Fisch aus der Handfläche darauf gleiten, stand auf und wusch sich den Ölschmier von der Hand. Schwittmann. War entweder ein Organisationsgenie, sogar geschickt genug, es während der letzten zehn Dienstjahre nicht durchblicken zu lassen. Oder -. Wenn er doch Raucher wäre. Könnte er sich eine anstecken. Hätte er wenigstens was von solchen Überraschungen.
In Moabit gab die Telefonistin ihm gleich die Sekretärin von Staatsanwalt Nebelung.
So früh schon am Platz, Frau Leineweber?
Sie sinds, Herr Wengath. Sie müssen sagen: noch. Wir haben Nachtschicht eingelegt.
Dann ist Ihr und mein Chef sicher auch noch zugegen.
Wobei Sie doch noch Glück haben, Herr Wengath, Ihr Chef ist er ja nur, solange die Ermittlungen laufen.
Und verband ihn. War sein Ton doch etwas gequält gewesen, dass sie ihn mit diesem Scherz zu trösten versuchte.