03.01.2023
Die herrschende Meinung, hier einmal als allegorische Person aufgefasst, hat den genialen Trick gefunden, das Misstrauen der Beherrschten gegen sie zu neutralisieren: Sie bewirtschaftet es als einen Markt alternativer Wahrheiten. Während ich als junger Mensch mit vielen anderen wusste, dass gelogen wird wie gedruckt und es daher besser sei, niemandem, vor allem niemals den Großkopferten, allzu viel zu glauben, geht heute die Ablehnung der lügenden Lügenpresse mit ausgefuchster und ausgefeilter Besserwisserei einher, die nichts mehr von Misstrauen gegen Großkopferte enthält, sondern lediglich anderen, anders verfertigten Wahrheiten folgt. Das hat für die herrschende Mehrheitsmeinung den großen Vorteil, dass ihre Wahrheiten gefühlt umso wahrer werden, je stärker sie von alternativen Wahrheiten umbrandet sind, sie wachsen geradezu zu Felsen, auf denen die Vernunft ihre Tempel bauen kann. Genau dadurch muss es aber auch die Mehrheitsmeinung mit den Fakten nicht mehr allzu genau nehmen: Um in der öffentlichen Wahrnehmung mit den richtigen Fakten zu glänzen, reicht es, wenn die anderen vermeintlich die falschen haben. Beim Recht haben und behalten, kommt es infolgedessen immer weniger darauf an, was einer einer sagt, und dafür umso mehr, wer etwas sagt.
Das aber ist Lagerdenken, wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wobei ich nicht sagen kann, was letztlich zuerst da war, das Lagerdenken oder das eifrige Bewirtschaften des alternativen Faktenmarktes. Beide bedingen und potenzieren sich gegenseitig; jeden Tag erscheint es mir aussichtsloser, gegen den Lärm, der dabei produziert wird, andenken und anreden zu wollen. Ich bin unfähig, mich gedanklich ausschließlich in den Bahnen eines Entweder-Oder zu bewegen. Und nun, da alle Welt will, dass ich Partei nehme, schafft genau diese grundsympathische und menschenfreundliche Un- und Überparteilichkeit, mein Versuch, alles und jeden zu verstehen, mir nicht unbedingt Feinde, aber allerorten Misstrauen, auch eigenes Misstrauen: Wird mich überhaupt noch jemand anhören wollen? So fühlt es sich also an, einsamer zu werden.
In der Nacht zum 2. Januar sind ein paar Tropfen gefallen, es war windig von Süden her und die Luft war warm. Auf den schrägen Dachfenstern sind die Tropfen deshalb sehr schnell wieder verdunstet. Umso erstaunlicher war, was sie auf den Scheiben hinterließen, leuchtend gelbe Ränder und Flecken über die gesamte Fensterfläche, als hätte die Knallerei in der Silvesternacht die Luft mit reinem Schwefel gesättigt und kein Morgenwind den Feinstaub verweht. Aber ich kannte den Anblick von der Ahornblüte, es war Pollen, was da lag. Pollen von der Erlenallee längs des Friedhofes gegenüber meiner Wohnung – zwei düstere Reihen nichtheimischer Bäume, von denen bekannt ist, dass sie etwas zeitiger blühen können als die heimischen Verwandten. Etwas zeitiger heißt 2023: Neujahr. 1. Januar, Frühlingsboten, Pollenflug.
Vor drei Jahren wagte sich der Vorfrühling das erste Mal, für mein ganz persönliches, doch immerhin schon sechzigjähriges Gespür für Jahreszeiten noch mitten im Winter, nämlich Ende Januar hervor. Und ich habe mit den untenstehenden Versen dagegen protestiert. Wir sind gut vorangekommen seither. Wer klebt mir die Großkopferten auf der Straße fest, bis sie es endlich kapieren?
Vorfrühling, 27. 01. 2020
Der Osten leicht verschleiert,
im Westen milchig grau,
das Licht hat ausgefeiert,
die Schatten: ungenau.
Wenn März-April es wäre
und nicht erst Januar!
Der Zweige Griff ins Leere
ist aufgeweicht statt starr.
Das Gärende im Trüben,
es treibt. Zu viel. Zu weit.
Und vorwärts gehts in Schüben.
Wo bleibt die klare Zeit?