vonkirschskommode 30.07.2024

Kirschs Kommode

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Bruchreis

Jeder Reis enthält einen Anteil Bruchreis, je höher die Qualität des Reises umso kleiner ist er. Als selbstständiger Artikel, eine Packung Bruchreis, ist er in normalen Supermärkten nicht zu finden.

In den späten Sechzigern und frühen Siebzigern gab es das noch. Ich habe als Kind so oft Bruchreis gekauft, dass ich das Regal des Edeka-Ladens noch vor mir sehen kann, in dem die Packungen lagen. Ganz unten. Bruchreis war vor allem eins: Hundefutter. Meine Mutter verkochte ihn mit Lauch zu einem Brei, den wir oft aßen. Porree-Reis hieß das Gericht bei uns.

Wenn ich ein Wort wählen sollte, das mir mein Verhältnis zu meinem Vater zusammenfasst, dann wäre Bruchreis nicht das schlechteste. Mein Vater hat, von außen besehen, in maßvoll geordneten Verhältnissen gelebt, eine Berufslaufbahn als Beamter im gehobenen Dienst, vier Ehen, zwei mit, zwei ohne Trauschein, die nächste hoffentlich immer besser als die vorhergehende, sechs hübsche und begabte Kinder, die alle ihr Abitur bestanden haben, geschmackvoll bescheidene Wohnungen in besten Lagen. Er war zudem musikalisch, literarisch und kulturell interessiert, kannte sich in der Natur, vor allem in der heimischen Flora aus, hatte gute Manieren, war spirituell aufgeschlossen. Und ist hochbetagt verstorben, zu Hause, im Kreis von Menschen, die ihm nahestanden.

Wie kommt das Hundefutter auf den Tisch seiner Kinder? Mit welchen Folgen? Ich bin jetzt 57, bald 58 Jahre alt. Ziehe ich Bilanz, habe ich über vierzig Jahre meines Lebens unter großen Anstrengungen versucht, meinen Kopf gegen meine depressiven Neigungen hochzuhalten und mein überaus schwankendes Selbstbewusstsein mit Disziplin auszugleichen. Innere Unruhe und Getriebenheit haben mich weit herumkommen lassen, ein Gefühl von Heimat zu entwickeln, fiel mir immer schwer. Vor rund fünf Jahren hat mir die Krankenkasse eine Psychotherapie bewilligt, die gut angeschlagen hat. Seitdem lebe ich zufriedener, stabiler und deutlich weniger von Ängsten geplagt.

In knappen Worten erzählt geht die Geschichte vom Hundefutter so: Mein Vater, zu diesem Zeit­punkt Vater von fünf Kindern im Alter von zwei bis neun, verliebt sich in die Nachbarsfrau, ihrer­seits Mutter von zwei Kindern, und zusammen machen die beiden ein achtes Kind. Es gibt schönere Geschichten, aber frei nach Lukas 7, 47: Ihre vielen Sünden seien vergeben, denn sie haben viel geliebt. Unappetitlich wird die Geschichte im nächsten Schritt. Die Trennung von der fünfmaligen Mutter wird unvermeidlich, aber einen Sieben-Personen-Haushalt zu verlassen, ist kostspielig. Mein Vater, Volljurist, setzt einen Vertrag auf, in dem er meiner Mutter und seinen Kindern Unterhaltszahlungen garantiert, die beträchtlich unter denen lagen, zu denen ihn das Gesetz verpflichtet hätte. Wir haben Bruchreis mit Lauch gegessen, weil am Ende des Monats das Geld für bessere Nahrung nicht mehr ausgereicht hat. Wir haben Rabattmarken geklebt, um Bruchreis kaufen zu können.

Nun hält sich nicht nur unter Wohlhabenden das Gerücht, Erfahrungen wie diese, ein wenig Lebens­härte, hätten noch niemandem geschadet. Aber das ist ein Gerücht, so etwas schadet. Allen voran Kindern. Es unterminiert das im weiteren Leben so unverzichtbare Grundvertrauen. Der amerikani­sche Psychologe Al Pesso nennt fünf Bedürfnisse, deren Befriedigung für eine gesunde kindliche Entwicklung unerlässlich ist: Platz, Nahrung, Schutz, Unterstützung und Grenzen. Von denen sind hier wenigstens drei verletzt, Nahrung, Schutz und Unterstützung, wenn nicht auch noch ein viertes, Platz. Denn eine absichtsvoll zu knapp bemessene monatliche Überweisung enthält eine Botschaft. Sie ist nicht der subtilste Weg, jemandem zu sagen, dass er eine Belastung oder, aus kind­licher Perspektive formuliert, in dieser Welt als Mensch nicht sonderlich erwünscht ist.

Zu bestreiten ist dabei im Übrigen nicht, dass meine Mutter hier ebenfalls nicht gerade verantwort­lich gehandelt hat. Was hat sie gezwungen, einen solchen Vertrag zu ihren und ihrer Kinder Lasten zu unterschreiben? Ein gerade in die Tonne getretenes Selbstbewusstsein entschuldigt manches, aber nicht alles. Allerdings war mein nun verstorbener Vater in jenen verliebten Tagen, als er seinen Vertrag aufsetzte, der weitaus Stärkere. Juristisch war seine Hundefutter-Verordnung ganz bestimmt nicht zu beanstanden. Sie war sauber gemacht. Ein Raubüberfall war sie dennoch.

Es gibt allerdings schlimmere Geschichten von meinem Vater als die des fein ertricksten Unterhalts light. Verjährt ist schon seit Jahrzehnten, was für die Betroffenen nie wirklich verjährt, sein Vergehen des sexuellen Missbrauchs an seinen zwei Stieftöchtern aus zweiter Ehe. Meine Schwester wusste ein Fachwort dafür, unser Vater sei ein Frotteur. Seine Art des Missbrauchs bestand demnach darin, den Töchtern seiner zweiten Frau auf ihren Wegen durch das gemeinsam bewohnte Haus in den Weg zu treten, sie an sich zu drücken, um sie gierig und fest abzutasten. Das ist die freundliche Beschreibung: Auflauern, einfangen, festklammern und abgrabschen wären ebenfalls passende Wörter. In meiner eigenen körperlichen Erinnerung finde ich diesen Zug meines Vaters abgemildert wieder. Seine Art von Zärtlichkeit bestand in Abkitzeln, mit dem er selten aufhören konnte, bevor es nicht Tränen oder sogar blaue Flecke gab. Das Verbindende ist, dass hier einer keine Grenzen kennt und ihm Berührung leicht umschlägt in ein Anderes, in Sexualität oder, eng verwoben damit, in Aggression. Ich kann daraus nur schließen, dass mein Vater seinerseits elterliche Zärtlichkeit und körperliche Geborgenheit nicht oder kaum einmal erfahren hat. Ich erinnere mich an meine Großeltern übrigens zu gut, um hier viel anderes zu erwarten.

Ab den Achtzigern, wenn ich böse auf meinen Vater war, habe ich oft davon geträumt, es möge ihn jemand wegen des Missbrauchs anzeigen, ihm der Prozess gemacht werden. Jemand. Ich hätte es selbst tun können, wenn ich nur so weit in die Materie eingestiegen wäre, um zu verstehen, dass Missbrauch kein Delikt ist, das nur auf Antrag der Betroffenen verfolgt wird. Mal abgesehen davon, dass eine Anzeige vielleicht wenig genützt hätte – vor Ende der Neunziger werden solche Fälle von den Strafverfolgungsbehörden kaum einmal wirklich ernst genommen – ich misstraue meinen Motiven. Neben aller moralischer Empörung, neben allem hilflosen Mitgefühl mit den mir nahstehenden, lieb gewonnenen Stiefschwestern, neben allem Ekel vor diesem Beispiel mir innig verwandter, körperlich ähnlicher Männlichkeit hatte mein grimmiger Tagtraum von Rache vor Gericht wohl doch ein anderes Motiv: Bruchreis. Oder, anders gesagt, die Wut darauf, dass sich da einer nimmt und grabscht, was immer er möchte, ohne jede Rücksicht auf die, die er damit schädigt, ohne Ansehen ihres Leids, und dass er damit immer durchkommt, ganz einfach immer wieder durchkommt, immer weiter sein gut bürgerlich anständiges Leben führen kann. Nicht das Gute siegt, der, dem es gut geht, siegt. Mein Vater bleibt, was immer er anstellt, ein angesehener, mit sich kühl im Reinen und in behaglichen Verhältnissen lebender Mann. Ich dagegen halte mühsam den Kopf oben, strampele mich ab und schlucke doch ewig weiter an meinem Bruchreis. Das war es, was mich rasend machte. Durch die Straßen meiner Kindheit konnte ich über viele Jahre nicht einmal spazieren gehen, ohne dafür mit depressiven Verstimmungen zu bezahlen.

Nun weiß ich nicht, was mein Vater im Laufe seines langen Lebens noch verstanden und welche seiner Handlungen er vielleicht bereut, welche seiner Zerstörungen und Verluste er beklagt und betrauert hat. Zum endgültigen Bruch zwischen ihm und mir kommt es Anfang der Achtziger Jahre. Meine Mutter war nach der Trennung meiner Eltern passiv genug gewesen, niemals den Mietvertrag auf sich umschreiben zu lassen, obwohl die Hausverwaltung es ihr öfter nahegelegt hatte. So konnte mein Vater bei ihrem Auszug sich das Haus grabschen, aus dem er gut anderthalb Jahrzehnte zuvor, mit Nachbarin und gemeinsamem Kind im Schlepptau, geflohen war. Um neben demselben Nach­barn, dem er einst in freier Liebe die Hörner aufgesetzt und dessen Töchter er missbraucht hatte, und in derselben Küche, in der es zugunsten seines Kontos oft nur Bruchreis gab, mit der nächsten Lebenspartnerin ein wunderbares, neues Leben anzufangen. Dabei vergleichsweise billig wohnen in schöner Umgebung – zwei meiner Geschwister waren noch aus dem Haus zu ekeln, Kleinigkeit – eine fabelhafte Rechnung, wie immer juristisch ganz einwandfrei. Auch sie ging natürlich auf.

Der Verlust des Kontakts zu mir war eine feste Größe in dieser Rechnung gewesen; ich hatte meinen Vater bekniet, von seinen Plänen Abstand zu nehmen, angekündigt, dass ich mich in jedem anderen Fall zurückziehen würde. Diese Ankündigung war nachträglich nicht mehr zu streichen. Es hat ein paar Versuche gegeben, sowohl auf Initiative eines meiner Brüder als auch auf meine eigene. Sie blieben letztlich fruchtlos. Der Schaden war irreparabel.

Ich weiß selbstverständlich genau, was vor ungefähr 15 Jahren meinen letzten Versuch motiviert hatte, den Graben zwischen uns zu überwinden: mein Wunsch, mein Vater möge an meinen Kindern, seinen Enkeln, wenigstens symbolisch etwas von dem gut machen, was er mir und meinen Geschwistern angetan hatte, er möge sie fördern und unterstützen, sie begleiten, für sie Großvater, für sie da sein. Obwohl ich gern einräume, dass mein verletzter Stolz einen Umgang mit mir alles andere als leicht gemacht hätte, bin ich bis heute verwundert darüber, dass er sich diese Chance entgehen ließ. Warum schlug er sie aus? Warum hatte er keinen Wunsch, seine Enkel kennenzulernen, ihnen Bücher zu schenken oder Reisen oder Museums- und Konzertbesuche, oder etwas für ihre Ausbildung zurückzulegen? Warum blieb es so unabänderlich bei Bruchreis?

Ich habe darauf keine Antwort, nur eine These. In der Generation der Flakhelfer und Kriegskinder, der mein Vater angehörte, hat man hierzulande den Bogen mit dem Trauern herausbekommen. Wir wissen alle „in deutschem Namen“ begangenen Untaten zu benennen, stehen tief betroffen an Gräbern und Denkmälern, identifizieren uns und weinen mit den Opfern. Aber wenn es zum Beispiel darum geht, osteuropäischen Zwangsarbeitern auch nur die Renten auszuzahlen, für die man sie zuvor in die Rentenversicherung hatte einzahlen lassen – von den abgepressten, nie bezahlten Arbeitsstunden einmal ganz zu schweigen – dann geht plötzlich nichts mehr. Man bedauert die Schäden aufrichtig und wortreich, aber weigert sich rigoros, sie zu reparieren. Das Mitgefühl, das Beteuern, dass es uns selber auch alles sehr weh tue, soll die Münze sein, die alles Unrecht, alle Schäden, alle Schmerzen bezahlt. Ist das, was die Nation im Großen macht, auch das, was ich hier im Kleinen erlebe?

Das würde immerhin eine Art Schuldbewusstsein voraussetzen. Ich nehme zugunsten meines Vaters an, dass er es hatte. Dennoch ist Mitleid mit sich selbst, mit dem schuldig gewordenen und fehlerbe­hafteten Menschen, einseitig und kein Ersatz für die tätige Wiedergutmachung des angerichteten Schadens. Mir hat eine Therapie erlaubt, meinen inneren Frieden mit meinem Vater zu schließen. Aber auch der innere Friede ist kein Ersatz für Versöhnung, auch er ist einseitig. Es bleibt dabei, dass mein Vater sich selbst aus seiner Vaterrolle herausgegeizt und mir wie den meisten seiner Kinder gegenüber sein Herz ein Leben lang fest im Portmonee verschlossen gehalten hat. Hier hat einer nicht vollständig Mensch sein können, nicht warm, nicht weich, nicht mitfühlend, nicht großzügig. Ein Kriegskind, das sich rücksichtslos auf Kosten Dritter grabschen und festhalten musste, was es irgend bekommen konnte. Wenn ich ihm Frieden wünsche, dann nachträglich den, den ich für alle Zeit allen wünsche, den äußeren. Den, und nicht Nazis, Drill und Weltkrieg, hätte er als Kind dringend gebraucht.

Markkleeberg bei Leipzig, im Januar 2018

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kommentare

  • Lieber Karl Kirsch, Ihr Text ist sehr berührend. Ob das Bedauern von angerichtetem Schaden ohne die Bereitschaft, diesen Schaden zu reparieren, ein deutsches Phänomen ist, darüber muss und werde ich nachdenken. Ich finde es sehr schwierig und es verletzt mein Gerechtigkeitsgefühl, dass jemand grabschend und geizend durchs Leben tänzeln konnte, ohne eine einzige Schramme am eigenen Prestige des Volljuristen. Dass Ihr Text hier erscheint, bei unseren taz-Blogs, rückt dieses Unrecht wieder gerade. Darüber freue ich mich sehr und es gibt mir Hoffnung. Herzliche Grüße vom benachbarten Blog, Ihr Darius Hamidzadeh

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