vonlukasmeisner 30.04.2022

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

Mehr über diesen Blog

Es herrscht Krieg in Europa, es herrscht Krieg in der Welt. Die Krisen sind zur Normalität geworden. Da mag es aufbauen, etwas an den Optimismus erinnert zu werden, der realistischer ist als alle Zynismen, weil er grundsätzlicher ist als die Geschichte der Katastrophen.

Der erste Satz dieses Optimismus lautet: Wie er auch sei, der Mensch, er ist gut. Denn er ist fähig zum Guten. Gegen alle theologischen Erbsündennarrative – gerade auch die säkularisierten von Hobbes bis Hayek – brauchen wir keine höhere Instanz (ob Staat, ob Markt, ob Gott höchstselbst), an die unsere Verantwortung abzugeben ist. Vielmehr können wir uns auf uns selbst verlassen, wenn wir nicht länger kollektiv verdrängen, dass der Kern unseres jeweiligen Selbst die Verletzlichkeit ist. Machtgeilheit ist da lediglich die Klimax der Entfremdung. Bewusstsein ist genau deshalb vonnöten: nicht, um uns zu ermächtigen übers „Sein und Seiende“, sondern um die Macht selbst als Entfremdung zu durchschauen. Unser tiefstes Bedürfnis ist eines nach Sinn und Bedeutung, die es nur mit anderen gibt: in Interesse, Anerkennung, Resonanz. Vernunft ist die Kraft, dieses Urteil unseres Körpers mitzuteilen. Es gibt nicht nur Rhetorik, sondern auch das bessere Argument, und es folgt nicht aus Sieg, sondern aus Einigung und Gleichheit. Tiefer noch als alle Herrschaft ist unser Zusammenkommen, unser Wunsch nach Kommunikation, Kooperation und Kollaboration, unsere Veranlagung zur Solidarität. Und zudem: jetzt und hier ist unsere Wirtschaft so produktiv und überproduktiv, dass wir unsere Arbeitszeit radikal reduzieren könnten, um endlich das zu tun, was wir tun möchten in unseren Leben. Dafür müssen wir nur das Profitgesetz durch unser Gesetz ersetzen: durch menschliche Autonomie, die alles Nichtmenschliche mitbedenkt. Utopie wäre zum Greifen nah und absolut realistisch.

Genau für diesen Optimismus aber, damit er realistisch auch bleibe, ist die Struktur auszumachen, die unsere Intersubjektivität – unsere politische Autonomie – verhindert. Denn die Realität ist: Das Gute wird andauernd verhindert. Wir müssen gegen diese Verhinderung ankämpfen. Die Kritik, die Resistenz und die Negation sind nur die Kehrseite der Umarmung, des Einlassens und des Positiven. Sie gehören zusammen oder werden beide gleichermaßen falsch. Nichts, insofern, ist so optimistisch wie radikale Kapitalismuskritik.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/kriterium/der-mensch-ist-gut/

aktuell auf taz.de

kommentare