vonlukasmeisner 28.02.2023

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Wir leben in lustigen Zeiten. Als sich selbst disqualifizierende Polarisierung gilt inzwischen allerorten, etwas mehr Differenzierung einzufordern. Wer etwa nicht in alter Kalter-Kriegs-Manier die Achse des Bösen von Iran/ Irak nach Russland/ China zurückverlegt, muss vom Kreml oder von Peking bezahlt sein. So, wie sich kürzlich noch, wer Islamophobie problematisierte, sagen lassen musste, dass dies den Terrorismus decke. Doch damals kam dergleichen Unfug noch von rechts. Inzwischen erfreut er sich von allen Seiten beliebiger Beliebtheit. Auch Verschwörungstheorien sind in der Mitte angekommen, von explodierenden Gaspipelines über Wahlmanipulation zum Spionageverdacht. Folglich ist auch die Paranoia vor Hochverrat wieder unter uns.

Die Verschiebung der Mitte in den Wahnwitz hat spätestens 2020 begonnen. Davor war sie eindimensional neoliberal, also eindeutig rechts. Heute ist sie einfach nur irre, also verirrt, irrig in ihren Selbstauskünften und Ferndiagnosen. Wer etwa zu Zeiten der Pandemie davor warnte, alle, die ihren politischen Widerspruch mit demokratischen Mitteln auf der Straße kundtaten, als Nazis zu verunglimpfen, wurde grundsätzlich schon als ‚Querfrontler‘ verdächtigt. Wer zudem fragte, ob die Zweifel der Menschen an der Gesundheitspolitik nicht rationale Elemente hätten, weil sie auf die Verflechtungen dieser mit der Pharmalobby hinwiesen, wurde zum ‚Schwurbler‘ degradiert. Das alles ist inzwischen fast vergessen, weil mittlerweile Fehler betreffs Coronapolitik ganz offiziell eingestanden werden dürfen und sollen. Immerhin – das ist zu begrüßen. Nicht zu begrüßen ist, dass Kritik stets erst post factum erlaubt ist, also dann, wenn alle Entscheidungen längst Geschichte sind. Wer heute etwa fragt, ob es nicht wichtig wäre Debatten um das Wie des Feminismus zu führen, beispielsweise zur Frage gendergerechter Sprache, damit der Anspruch der Inklusion nicht seinerseits von oben, außerhalb oder gegen demokratische Teilhabe geschehe, wird leicht als ‚alter weißer Mann‘ aus dem Diskurs verabschiedet. Auch das nur als ein Beispiel. Bloß: woher kommt dieser geballte avantgardistisch getarnte kollektive Verlust politischer Urteilskraft?

Es scheint sich um eine perfide, kürzlich noch unbekannte Legierung aus urrechter Grundgesinnung, pseudolinksextremer Sektenbildung und liberalistischer Fundamentalapologie zu handeln. Nehmen wir das kurz auseinander. Urrechte Gesinnung bleibt, wie stets, Verteidigung des Kapitalismus und seiner Nationalismen, seiner Brutalität, seiner chauvinistischen Zentren, d.h. in Deutschland: ‚deutscher Interessen‘ und ihrer ‚Wertegemeinschaft‘. Von der pseudolinksextremen Sektenbildung hat man sich dagegen abgeschaut, wie das mit den Bubbles, den Filterblasen, der Ingroup funktioniert, die allen, die außerhalb stehen, das Recht auf Existenz absprechen wollen, indem sie jede Differenz zu sich selbst moralisch diskreditieren. Weiter naheliegendstes Beispiel unserer Tage für diese zweite Unart sind abgedriftete Antideutsche, die automatisch alle für antisemitisch halten, die gegen den Imperialismus sind – womit sie die antisemitische Gleichsetzung von Kapital und Judentum reproduzieren, statt sie zu dekonstruieren. Übernommen von den Liberalen hat man außerdem ganz allgemein die Fundamentalapologie des Status Quo, innerhalb welcher kulturalistisch umso buntere Westchen verteilt werden dürfen – solange sie, versteht sich, nicht gelb sind. (D.h.: FDP-gelb schon.) Im Liberalismus ist und war das Spektrum der Meinungen bekanntlich schon immer ähnlich bunt wie das der Waren. Das Einzige, was in diesem Bunt weiterhin nicht vorkommt, ist die grau anmutende materialistische Frage der Produktionsbedingungen. Der Verlust politischer Urteilskraft und sein Erschlaffen der Vernunft scheinen sich jedenfalls aus einer Kontraktion dieser schizophrenen Trinität zu ergeben. Im Ergebnis ist endlich möglich z.B. eine Menage aus Militarismus, Moralismus und Apologetik in einem Kopf mitsamt Kopflosigkeit – Gratulation.

Im Kern jener Legierung befindet sich, das ist das Neue, seit sich viele Linke der Mitte anzuschließen meinen mussten, der Linksliberalismus, welcher weite Teile der opportunistischen Intelligentsia beherrscht. Nun ist zu betonen, dass nichts so illiberal und nichts so wenig links ist wie der Linksliberalismus unserer Tage. Dieser Überbau deckt sich mit der Basis. Schließlich ist nichts so unpluralistisch wie der westliche Kanon zur Verteidigung des westlichen Pluralismus, zur Not mit Kanonen. Insofern haben sich die vernünftigen Stimmen mal wieder ins marxistische Lager zurückgezogen. Nur ist dieses weiterhin sehr überschaubar. Glücklicherweise siegt die Rechte noch immer nicht durchgehend, da auch im sogenannten Volk trotz aller irrationalistischen Guerilla von oben noch etwas Vernunft übriggeblieben ist. Wenn das nicht dazu aufmuntert, an ein aufgeklärt optimistisches Menschenbild zu glauben – was sonst?

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