vonlukasmeisner 31.10.2022

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

Mehr über diesen Blog

Das erstaunliche Phänomen, dass der Durchschnitt des Volks souveräner, selbstbewusster, renitenter zu sein scheint als die Intellektuellen in Wissenschaft, Kultur und Medien, ist circa drei Jahre alt. Das besagt nichts über Wahrheit oder Unwahrheit jeweiliger Positionen, sondern über die Verteilung jener subjektiven Dispositionen, entweder düster Widerstand zu leisten oder das Fähnchen frohlockend in den Wind zu halten. Seit Covid und dem Ukrainekrieg wird die Einsicht zunehmend unabweisbarer, dass die Trägheit der kritischen Überlieferung mehr „Avantgarde“ fasst als der wieselhafte Reflex-Opportunismus der je von der neuesten Hegemonie geupdateten Gebildeten. Wie sonst wäre es erklärbar gewesen, dass zu Zeiten des medialen Fokus auf Corona die Kritik an der oligopolisierten Pharmaindustrie von oben so sehr zurückgefahren wurde wie die an der Privatisierung des Gesundheitssystems – d.h. die Kritik an den zwei tatsächlich rationalen Gründen von Skepsis (nicht von fake news, sondern von Skepsis) gegenüber staatlich verordneter, privatwirtschaftlich profitabler Politik im bitteren Ende des Neoliberalismus? Oder wie hätte es sein können, um nur ein einziges Beispiel aus kürzerer Zeit herauszugreifen, dass die selbstverständliche Kritik an Atomkraft, die sich bis vor einem Jahr selbst bis ins konservative Lager hinein zur Standardattitüde verselbständigt hatte, von einem Moment auf den anderen geschlossen von allen Seiten gekippt wurde, wenn hinter herrschender Meinung nicht zunächst und zumeist die Meinung der Herrschenden stünde, sondern tatsächlich das bessere Argument? Die Orwellsche Grammophonmentalität dessen, was Kraus einst Journaille nannte – die keinerlei forcierter Zensur bedarf, da dieselbe Platte in freiwilliger Knechtschaft allgegenwärtig sich selbst ununterbrochen aufgelegt bzw. auferlegt wird – färbt, wie es Lukács einst hellsichtig befürchtete, also zunehmend auf alle Arbeitenden des Kopfes ab. Und es ist besonders beunruhigend, wenn sie vom gemütlichen Mitte-Rechthaben der allzeit siegreichen Liberalen auf die Linke als Stimme einer Vernunft abfärbt, die mehr sein will als Rationalisierung. Es scheint, die Verdinglichung ist heute umso mehr in die verkalkten Strukturen der „Gehirne der Lebenden“ gebannt, je mehr Flexibilisierung die Leiber ertragen müssen, um im alltäglichen Existenzkampf der Arbeit nicht unterzugehen. Wenigstens noch auszusprechen, was ist, sollte jedoch denen kein Dorn im Auge sein, die sich über nichts so sehr zu echauffieren vermögen wie über die Absurditäten von post-truth.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/kriterium/gegen-den-reflex-opportunismus-des-geistes/

aktuell auf taz.de

kommentare