vonlukasmeisner 29.10.2022

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Die Vorbehalte der Intellektuellen einst gegen das „Taschenbuch“, die heute belächelt werden aus den Regalen der Klatschpresse und der Pfennigromane, sind zu verteidigen. Sie waren berechtigt nicht, weil durchs Taschenbuch Literatur mehr Menschen zugänglich gemacht werden konnte, sondern weil in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts „Literatur“ erst zu Belletristik und Sachbuch werden konnte, da sie zum Konsumfetisch, zur verdinglichten Ware, zur bloßen Größe eines Angebots herabkam. Umso berechtigter erscheinen die einstigen Vorbehalte, wenn einem gewahr wird, wie die Umpolung der Intelligentsia durch Technophilie und Postmoderne keinerlei kritisches Gespür übrigließ für eine Überprüfung und Beurteilung jener Medien und Kanäle, die uns heute das bunte Menü der Hegemonie vorgemust als Happy Meal präparieren.

Im Ergebnis gibt es inzwischen neoliberale Formate der Distribution von Gedanken, die Linke wie Liberale wie Rechte gleichermaßen gern nutzen, als könne, was dahintersteckt, gleichermaßen neutral bleiben: die Sozialisierungswege der ‚Alternativen‘, von Instagram und Twitter über Reality Shows und Youtube, sind dieselben wie jene des Establishments. Was dergleichen Indifferenz motiviert, ist letztlich Theorie- und Dialogferne, also Unvermitteltheitskult und blubbernder Narzissmus. Dass keine Bücher mehr gelesen werden, ist insofern keine Klage eines elitären Kulturpessimismus, sondern Verteidigung des Universalismus gegen die neue Kleinstaaterei des Geistes: Anti-Intellektualismus und Identitätspolitik nämlich gehen Hand in Hand schon medial, schon betreffs ihrer Produktivkräfte, bereits bezüglich ihrer Technologien.

Die Linke heute ist zerrissen zwischen culture wars da und class consciousness hier, zwischen Popkultur hüben und Marxismus drüben, und ihre Misere wird nicht besser davon, dass erstere ihre eigene Neoliberalisiertheit nicht durchschauen, während letztere zur Totalminderheit eingekapselt in ihrer Monade verbleiben. Um ihre Entzweiung zu überwinden, müsste die Linke die Geschichte ihrer eigenen Krise durchschauen: und damit lernen, dem Fortschrittsglauben, der sich technokratisch verhüllt, zu misstrauen. Stattdessen triumphiert eine Linke als kulturalistisch-liberalisierte über das Begräbnis ihrer früheren Selbstverständnisse, die sie sich selbst vollmündig als Darüberhinaus einredet: „ganz schön progressiv für vor 50 Jahren!“ Als sei seit den 70ern nicht alles eingeknickt, was bis dato noch Hoffnung aufrechterhielt. Es zeigt sich hier erneut: kein Bewusstsein für Klasse – und nicht bloß Klassismus! – und falsches Bewusstsein meinen dasselbe, und sie sind synonym zur Geschichtsvergessenheit, die identisch ist mit technophiler Fortschrittsmimikry.

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