vonlukasmeisner 30.04.2023

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

Mehr über diesen Blog

„Wenn die Fahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete“ – ein wichtiges ukrainisches Sprichwort in unseren Zeiten. Denn es erinnert daran, dass Fahne Fahne bleibt, und als solche Verhüllung der Tatsachen. Der Verstand rutscht nämlich leider auch in die Trompete, wenn ukrainische Fahnen wehen. Der gute alte Verstand ist da nicht parteiisch – außer gegen sich selbst. Vor über einem Jahr erschallten, fahnenumwoben, die Fanfaren der Marschmusik, die von Osten bis Westen schmetterten, um zu zerschmettern. Endlich, atmeten alle konservativen Kräfte von West bis Ost zugleich auf, war die heiße Seite des Kalten Krieges doch zurück. Wie stets, um Kriege zu führen, müssen seither beide Seiten das klassische Herr-der-Ringe-Niveau eines schwarzweißen Weltbildes aufbieten: Wir sind die Guten, die sind die Bösen, hier ist das Licht, dort ist das Dunkel, hier Auenland, dort Mordor. Ohne ein solches Schmittsches Freund-Feind-Denken könnte kein denkender und fühlender Mensch Waffenstillstand und Verhandlungen an sich ablehnen. Insbesondere heute nicht, wo ein Stellungskrieg sinnloses Sterben hüben wie drüben erzwingt.

Das Wort, das den Verstand in die Trompete rutschen ließ, während man die Fahnen hisste, war in der Bundesrepublik das der „Zeitenwende“. Natürlich kam es vom Kanzler, dem Statthalter der Kritik der Vernunft, nach der von Vernunft nicht einmal Verstand noch geblieben ist. Wir leben also, mal wieder, in Zeiten der Wende. Da schießen erneut die Wendehälse wie Pilze aus dem Boden – wie Atompilze, die sich selbst, so scheint es, für eine akzeptable Zukunftslösung halten. Denn wenn Fahnen gehisst werden, ist auch Konjunktur für all jene, die ihr Fähnchen stets schon in den Wind hielten. „Zeitenwende“ heißt insofern, nüchtern betrachtet: Das Maß gefälliger Unsäglichkeiten wird von keiner Seite mehr limitiert. In unlimited edition trompetet sich darum das große Soll von den Kanzeln, im Vergleich zu dem selbst der Kanzler inzwischen fast moderat wirkt. An dieses Soll hat sich gefälligst zu halten, wer nicht diskreditiert werden möchte. Die Werte des Westens, von der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bis Pluralismus und Debattenkultur, rieben sich die Augen – wären sie aus Fleisch und Blut und nicht viel eher Schall und Rauch.

Das Soll spricht also zu uns wie der Herrgott. Zu Beginn des russischen Angriffskrieges der Ukraine sollte hierzulande nicht nach Hintergründen oder gar der Geschichte des Konflikts gefragt werden. Dieses war das erste Soll. Wer gegen es verstieß, galt als „emotionslos“, denn Differenziertheit lässt sich affektiv schlecht aufladen. Anschließend sollte nicht gesagt werden, was faktisch der Fall ist, nämlich, dass der Westen einen Wirtschaftskrieg gegen Putins Russland führt – ein Soll, das insofern einen Wahrheitskern besitzt, als dieser Wirtschaftskrieg weniger Putin trifft (da er fröhlich mit China und co. weiterverhandelt) als uns alle mittels Inflation, also die eigene Bevölkerung. Dieses war das zweite Soll. Es diente vor allem dazu, uns die Übergewinne der heimischen Energieriesen noch als Maßnahme zur Wiederherstellung des Völkerrechts zu verkaufen. Doch damit nicht genug. Denn ein drittes Soll musste her. Inzwischen soll gar jedes Menschenwesen, das für Waffenruhe, für Friedengespräche, für Diplomatie oder für Verhandlungen eintritt, schon eines sein, das das ukrainische Volk im Stich und den Russen vor der Tür in die Stube lassen wolle. Spätestens hier wurde der Pazifismus wieder zu jenem Prügelknaben aller, der er unter der Decke stets geblieben war. Der Hass auf die Pazifist*innen ist in Deutschland also offen zurück – jener Hass, der aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts zur Genüge bekannt sein dürfte.

Während die Soziologin Eva Illouz bzw. die Redaktion der Zeit ernsthaft für einen „totalen Sieg“ werben durfte (inzwischen wurde die Überschrift zurückgenommen und ins Gegenteil verkehrt als „Endspiel ohne Ende“, von Goebbels zu Beckett gewissermaßen im Assoziationsraum…), wurde ihr Kollege Jürgen Habermas als Putinversteher denunziert. Warum? Weil er ein „Plädoyer für Verhandlungen“ ausgesprochen, vor einem Atomkrieg gewarnt und gegen das „Schlafwandeln am Rande des Abgrunds“ angeschrieben hat. Wie kann man so etwas nur tun! Es grenzt ja fast an Vernunft. Dabei ist der Verstand doch in der Trompete, sodass nur die Musik der Unvernunft gespielt werden darf, die Fahnen wehen und die Zeiten sich gewendet haben. Doch einzig zum Besseren, denn: Wir sind die Guten! Deutschland darf wieder hurrapatriotisch und militaristisch sein, ganz offiziell, wenngleich auf Umwegen des go west, wie schon im Irakkrieg vorgemacht. Der Deutsche kennt sich inzwischen nämlich wieder aus und ist Experte darin, wie Aufrüstung Frieden schaffe. Die deutsche Rüstungsindustrie selbstredend dankt es ihm. Und viele in der Linken, gerade die auf modische Meinung bedachten, stimmen ein ins Trompeten: Schließlich war nie etwas linker, als Geld in Waffen zu stecken statt etwa in Schulen oder Krankenhäuser – gegen die unser schwäbischer Hausmann Christian Lindner stets die Mär ausbreitet, es sei „kein Geld“ da. Eben nur so lange, bis mal wieder geschossen werden kann… dann tauchen plötzlich 100 Milliarden € auf.

(1/2)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/kriterium/kein-segnen-der-waffen-bringt-ewigen-frieden-1/

aktuell auf taz.de

kommentare