vonlukasmeisner 19.02.2022

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Alle nicht-kritische Psychotherapie beschränkt sich auf die (frühe) Kindheit, inklusive der systemischen. Da liegt dann der Ursprung meiner Ichschwäche etwa darin, dass Mama nicht schnell genug gelaufen kam, als ich Baby geschrien habe. Was diesem Blick vollends entgeht, ist etwa, was die Schule mit den Kindern anrichtet – eine Schule, heißt das, die nicht Bildung des Menschen zum Ziel hat, sondern Konditionierung von Humankapital. Wo ist eigentlich die Relevanz der Pubertät in der frühkindlichen Fixierung der Psychotherapie? Wird das Ich in der Adoleszenz nicht am meisten eingehegt, gebrochen, zurückrasiert in die Raster des Gegebenen? Was ist mit den Gewalten des Notensystems als Schicksalsmacht und stetiges Damoklesschwert über den Jugendlichen, als ewig wiederholte Drohgebärde: ‘wenn du jetzt nicht funktionierst, hast du deine Zukunft verspielt’? Nicht zu sprechen von der Phase der 20er in unseren Leben, in der das jeweilige Ich jemeinig dazu gezwungen wird, zurückzufallen vor allen Protest und sich gefügig zu machen für die aufoktroyierte Karriere? Die Hilflosigkeit, die als Kind empfunden wurde, wird hier wieder aufgelegt, aber diesmal, um dem Markt hörig zu werden: Ichstärke als Fertigkeit zum Konformismus. Solange sich Psychotherapie auf die Kindheit beschränkt, muss sie Apologie einer infantilistischen Gesellschaft bleiben. Es braucht endlich nicht nur die Kritik der Psychopathologisierung, sondern dessen, was uns realiter krank macht. Wollen wir aber die kritische Psychotherapie, die wir brauchen, dann müssen wir sie einfordern: politisch. Heilung wäre hierin nicht mehr privatisierbar, denn erst vergesellschaftet könnte Gesundheit mehr werden, als Schlachtruf in den normalisierten Wahnsinn. Das bedürfte jedoch eines grundsätzlichen Wandels schon im Gesundheitssystem, das heute nicht Gesundheit, sondern das Krankmachende – Profitabilität – als Zweck eingeschrieben hat. Wie wäre es, wenn wir in puncto self-care einmal hier begännen: in der öffentlichen Daseinsvorsorge? Dann wären wir mal nicht nur neoliberal. Wer sollte uns das zutrauen.

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