Die linksliberal-bildungsbürgerliche Postmoderne versucht seit einigen Jahren, sich als Avantgarde und einzige Zukunft der Linken zu präsentieren. Dagegen ist entschieden Einspruch zu erheben, will mensch die rechte Barbarei nicht als falsche Notwendigkeit in die Zukunft programmieren. Solange sich die Linke selbst verwechselt mit dem metropolitanen Lifestyle der politischen Mitte unserer Tage, wird sie außerhalb dieses bestimmten Milieus niemanden mehr ansprechen. Das hieße aber, dass den durch die Umstände Radikalisierten mehr und mehr die Rechte als einzige Kraft bliebe, um Unmut, Zorn und Ablehnung – in entsprechend verzerrter Form – zu äußern. Soweit darf es nicht kommen.
Politik der Angst – Politik der Schuld
Ich treffe immer häufiger Menschen, die unter „Linkssein“ nichts anderes mehr verstehen als dessen bildungsbürgerliche-postmoderne Verkürzung. Mehr noch, manche Linke selbst beginnen in diesem Klima, an der eigenen politischen Orientierung zu zweifeln. Wenn, sagen wir, Kritik am Kapitalismus, die Problematisierung totaler Verfügbarkeit oder gleich das emanzipatorische Gesinnen als solches der Unterstellung begegnen können, sie seien respektive antisemitisch, reaktionär oder eurozentrisch – „bin ich dann noch links?“ Was heißt Linkssein überhaupt, wenn in manchen Kreisen zunehmend Islamophob-Amerikafreundliches („Antideutsche“), Desolidarisierend-Partikularistisches („Identitätspolitik“), Technokratisch-Szientistisches („Posthumanismus“) oder Gegenaufklärerisch-Antihumanistisches („Postcolonial Theory“) die Deutungshoheit über das zu haben meint, was wahrhaftig links sei? Ist etwa die „dekoloniale“ Annahme einiger, dass mensch Rationalität nunmehr als totalitär begreifen und die kapitalistische Welt als inkommensurabel pluralistisch verstehen solle, wirklich links zu nennen? Ist es die „identitätspolitische“ Haltung anderer, das Leid mancher zu fetischisieren zum epistemologischen Vorzug, bis die sozialen Positionen als ontologische Differenzen fixiert sind? Ist die „antideutsche“ Vorstellung davon, eine Nation bedingungslos zu verteidigen, links, oder die transhumanistische Idee, die Produktivkraftentfesselung der Naturausbeutung für den neuesten Schrei des Öko-Feminismus zu halten? Ich wage zu behaupten: die angeschnittenen Annahmen, Haltungen, Vorstellungen und Ideen sehen eher aus, als seien sie einem rechten als einem linken Horizont entnommen.
Offenbar also wurde in den Konditionen der Realsatire politischer Postmoderne die letzten Jahre neben vielen anderen Dualismen auch der von Links und Rechts liquidiert. Im Effekt verwirklichte sich, unter verkehrtem Vorzeichen, die alte Mär der politischen Mitte, derzufolge sich Links und Rechts in ihren Extremen träfen. Während somit weiter die steil abseitige These des „impliziten Linken“ behauptet wird, nach welcher CDU und co. sozialdemokratisiert worden seien, scheint es eher, als sei der bildungsbürgerliche Linksliberalismus in der Postmoderne nach rechts gerückt – nämlich partikularistisch, exkludierend, technophil und essentialistisch geworden. Natürlich gibt es in den schlagwortartig benannten, intern hoch differenzierten Strömungen auch Aktivist*innen, die sich aus dem linken Paradigma nicht entfernt, sondern es vielmehr vertieft haben (etwa einige Vertreter*innen des materialistischen Intersektionalismus oder des postkolonialen bzw. interdependenztheoretischen Antikapitalismus). Aber gerade diese innere Differenziertheit wird von den medienwirksam lautesten Stimmen – um welche es im Folgenden gehen soll – hinfort-agitiert.
In der Echokammer besagter lautester Stimmen geht es nun nicht wenigen so, dass sie gar Angst bekommen, das logisch Linke noch offen zu sagen. Obwohl das ein unaushaltbarer Zustand ist, regt sich kaum offener Widerstand dagegen. Die Abwesenheit des linken Protests gegen jene Landnahme von rechts hat wohl damit zu tun, dass die Politik der Angst für gewöhnlich mittels der Politik der Schuld funktioniert. Insofern ist eine rechtsgerückte Pseudo-Linke ein urchristliches, ja abendländisches Phänomen, und schließt an die Bekenntnis-, Beicht- und Bußetradition des europäischen Mittelalters an. Deren Kehrseite ist die Hexenjagd der denunzierenden ad-hominem-Argumente, sodass sich ganze Kasten von Akademiker*innen, Künstler*innen und Journalist*innen mehr und mehr selbst zu ihren eigenen Themen nicht mehr äußern aus Angst, damit ihren Ruf oder Beruf bzw. ihre Karriere zu verlieren. Stattdessen halten sie sich bedeckt und hoffen, die „Mode“ ginge vorüber, ohne zu tiefe Spuren zu hinterlassen. (Diese Hoffnung habe ich schon von mehren international anerkannten Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen in diversen Kontexten gehört.) Gegen solche Regressionen ist hervorzuheben, was emphatisches Linkssein immer schon wollte und auch weiterhin will: nämlich die Gleichheit aller Menschen – „jede nach ihren Fähigkeiten, jeder nach ihren Bedürfnissen“ (Marx) –, die Freiheit der anders Denkenden (Luxemburg) und die Möglichkeit, ohne Angst verschieden sein zu können (Adorno). Jenes Noch-Nicht substanzieller Solidarität ist zu verteidigen gegen die Umdeutung linker Inhalte zugunsten rechter Formatierungen.
Beispiel 1: Die Schwundstufe der Antideutschen
Auch die Antideutschen sind nicht mehr das, was sie mal waren. Was sich heute „antideutsch“ nennt, ist oft nur mehr die Schwundstufe vieler berechtigter Analysen – von den Zusammenhängen zwischen Kapitalismus und Antisemitismus zur Kritik an der Reduktion gesamtkapitalistischer Probleme auf die Distributionssphäre, oder globaler Komplexe auf die Politik einzelner Staaten. In ihrer Schwundstufe jedoch bezichtigen „Antideutsche“ nicht nur jedwede Kritik an Israel, sondern auch Kritiken an der unilateralen Außenpolitik der USA, am Imperialismus als Fortsetzung der Wirtschaft mit politischen Mitteln, an den Deregulierungen des Neoliberalismus oder – mit Vorliebe – am Kapitalismus ganz generell des „strukturellen Antisemitismus“, wenn nicht gleich der „Relativierung des Holocaust“. Jene Titel dienen in ihrer derartigen Verwendung offenbar keiner anderen Sache mehr als der politischen Diffamierung und moralischen Diskreditierung der Gesprächspartner*innen – wie allgemein der Verbreitung eines Klimas der Angst davor, noch Kritik am Bestehenden zu äußern.
Zur Verteidigung des logisch Linken ist gegen das neo-„antideutsche“ Ressentiment zunächst schlicht festzuhalten, dass es mannigfaltige Berechtigungen spezifischer Kritiken an Israel gibt, insbesondere, sofern sie sich nicht auf dieses eine Land versteifen, sich nicht eindimensional auf eine Seite des Konflikts stellen und nicht die Geschichte der Verfolgung der Jüdinnen und Juden ignorieren. (Berechtigte Kritikpunkte reichen etwa von Israels aggressiver Siedlungspolitik bis zur Regierung Netanjahus.) Andersherum bedarf es bereits einer Vielzahl antisemitischer Prämissen, um in solchen Kritikpunkten per se „strukturellen Antisemitismus“ am Werk zu sehen. Zu diesen Prämissen gehören etwa die antisemitischen Verschwörungstheorien, dass die USA von einer im Hintergrund arbeitenden „jüdischen Macht“ unterwandert wären, dass Finanzspekulation ein „jüdisches“ Phänomen des „Schachers“ sei, oder dass der Kapitalismus als „raffendes“, „zinstragendes“, „wucherndes“, „entwurzeltes“ (etc.) System „dem Judentum“ entspringe. Wer dergleichen Prämissen teilt, ist fraglos antisemitisch. Genauso allerdings ist, wer bereits in jedweder Kritik an Israel, an den USA, am Imperialismus, an der Finanzspekulation oder am Kapitalismus den Antisemitismus wittert, selbst auf jene strukturellen Prämissen antisemitischer Verschwörungstheorien hereingefallen, die er* oder sie* anderen unterstellt.
Als mensch noch herumreisen durfte, ließ sich in Gesprächen mit nichtdeutschen Linken denn auch schnell begreifen, dass die derzeitige Schwundstufe der „Antideutschen“ ein urdeutsches Phänomen ist. Genauer ist sie die biedermeierliche Absonderlichkeit des selbstgerechten, stets im Mob auftauchenden, andauernd fanatisierten Bierdeutschtums, dem sich vor allem auf Berliner WG-Partys mit hauseigenem DJ begegnen lässt. Außerhalb Deutschlands blieb und bleibt es in der Linken derweil Konsens, dass zur Kritik am Kapitalismus auch die seiner Zentren gehört (etwa die an Großbritannien, den USA und zunehmend die an China); dass der Imperialismus als Konsequenz des Kapitalismus zu verstehen ist; und dass Islamophobie genauso entschieden bekämpft und dekonstruiert gehört wie Antisemitismus. Demgegenüber sind die meisten „Antideutschen“ nicht einmal mehr „gegen Deutschland“ eingestellt, war Deutschland die letzten Jahrzehnte doch – zumindest, wenn kein Republikaner im weißen Haus saß – stets transatlantisch gesonnen: immer einem „Westen“ treu, der auch Nordamerika-EU heißen könnte, oder TTIP-CETA.
Insofern der Diskurs der nicht mehr sehr antideutschen „Antideutschen“ aber Verteidigung des Neoliberalismus, Imperialismus und Kapitalismus ist, lässt er sich nicht mehr als links verstehen. Auch seine Verharmlosung der Islamophobie bzw. die „strukturelle Islamophobie“ einiger seiner Vertreter*innen macht ihn nicht linker. (Manche „antideutsche“ Platzpatrone hat sich die letzten Jahre nicht gescheut, eine Anti-Einwanderungspolitik gegen Flüchtlinge aus Nordafrika zu fordern, weil diese, häufig in muslimischem Umfeld groß geworden, schließlich die Gefahr mit sich brächten, den islamistischen Antisemitismus nach Deutschland „einzuschleppen“ (!). Mensch sollte sich an dieser Stelle wirklich fragen, was es über das Ausmaß politischer (Des-)Orientierung aussagt, wenn eine Position, die den Massenmord an Flüchtlingen im Mittelmeer mit der Furcht vorm nächsten Holocaust in Europa verteidigt, manchen noch als „links“ gelten kann.) So sehr solche Position auch ein Extrem sein mag, ist sie doch Symptom des Rechtsrucks der bildungsbürgerlich-linksliberalen Postmoderne. Diese allerdings verkauft sich weiterhin als „links“ und terrorisiert all jene, die ihre Abstrusitäten offen zurückweisen, mit ihrer selbstimmunisierenden Politik der Beschuldigung und der Verängstigung.