vonlukasmeisner 28.09.2022

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Bekanntlich machen Latour und Konsorten seit Jahren Kritik und Theorie und am besten gleich die kritische Theorie als solche verantwortlich für den grassierenden „climate change denialism“. Die bürgerlichen Zeitungen folgen ihnen darin spätestens seit Corona und den entsprechenden Phantasmagorien. Im Hintergrund der Verschwörungstheorien jedoch steht keine dialektische Totalitätsanalyse, theoriegesättigt, vermittelt mit dem Nicht-Identischen und dergestalt als Gewalt darstellbar, wie durch die erste Generation der Frankfurter Schule bekannt. Im Hintergrund von Verschwörungstheorien steht vielmehr der Poststrukturalismus selbst, also Latours eigene Wiege, das raunende „Dispositiv“, die mystische „Macht“ sowie der überall und nirgends sich umhertreibende „große Andere“. Denn Verschwörungstheorien sind keine Theorien, sondern ihr Verfall. Umso weniger überzeugend oder glaubwürdig ist es, wenn das andere Erbe des Poststrukturalismus – die heutigen Linksliberalen – sich identitätspolitisch desto mehr abzukapseln versucht von den „fake news“ der „Populisten“, je deutlicher ihre gemeinsame Herkunft ist. (Die sogenannte italienische Theorie um Agamben und Esposito beweist die Herleitung Poststrukturalismus -> Verschwörungstheorie hinreichend.)

Nun sind Verschwörungstheorien so etwas wie Postmoderne fürs Volk: wobei sie weniger populistisch und damit demokratisierbar als Pop und folglich bloß warenförmig vermarktbar sind. Entsprechend personalisiert der Verschwörungs-Pop die anonyme Prostratio vorm Gegebenen des Poststrukturalismus, wobei beide gleichsam total verfahren. Während die eine Prostratio total ist, indem sie wabert, vage bleibt, wild herumspukt mit halbleeren Signifikanten (Poststrukturalismus), ist die andere total, indem sie einzelne Mächtige zu den Strippenziehern des Welttheaters aufspreizt (Verschwörungstheorien). In beiden Fällen wird gelenkt, „gesteuert“, kontrolliert, „manipuliert“, taktiert, „regiert“ aus dem Verborgenen heraus, hier als „Dispositiv“, da als Bill Gates. Verschwörungstheorien sind so das getreue Spiegelbild einer Krisis der Kritischen Theorie, die ident ist mit ihrer Liberalisierung und Postmodernisierung: weil sie inzwischen so wenig strukturale Analyse oder radikale Alternativen bietet wie das permanente Sommerloch der Feuilletons, ist mittlerweile horizontweit Platz übrig für Verschwörungstheorien, um den Hunger nach Erklärung einer systematisch absurd eingerichteten Welt umso absurder – umso maßloser – mit Fast Food für die desorientierten Herzen zu stillen.

Nicht zuletzt der Feind ist daher ein geteilter: der Staat. Auch im Ziel sind sich Verschwörungstheorien und Poststrukturalismus also einig: es kann bloß darum gehen, das „rohe Leben“, das „Erlebnis“, die Begierden“, „die Freiheit“ zu enthemmen – das heißt ideologiekritisch übersetzt: dem lebensphilosophisch verklärten Raubtierkapitalismus weiter Tür und Tor zu öffnen.

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