vonlukasmeisner 27.08.2022

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Erinnern wir an das Selbstverständliche, weil es heute so relevant ist wie ehedem. Die Stimme der Linken wird in dem Moment universell, in dem die Klassenfrage zentral geworden ist. Ihre Praxis, der Klassenkampf, kämpft dafür, endlich nicht mehr kämpfen, konkurrieren, antagonisieren zu müssen. Wir können erst in dem Augenblick die Waffen der Kritik niederlegen, in dem wir uns als im selben Kampf verstehen. Der Klassenkampf ist insofern das einzige Mittel zum ewigen Frieden; und der ewige Frieden die einzige Legitimation des Klassenkampfes. Die neueste Linke sagt: wir sind die 99%, und unser Pazifismus ist militant. Gegen alle Mimesis an den Krieg aller gegen alle – „Wettbewerb“ – im Politischen als „Agonales“ ist die ‚befriedete Existenz‘ (Marcuse) hochzuhalten und die zynismusfeindliche Vernunfteinsicht, dass nicht aller Konsens Gewalt sein muss. Gleichheit heißt nämlich nicht zuletzt: noch der Kapitalist ist als Kapitalist bloß Charaktermaske des Kapitals; zu bekämpfen sind Strukturen, nicht Menschen. Die 1% bringt man nicht zurück in die 100%, indem die Guillotinen aufgefahren werden, sondern indem die Überbesitzenden enteignet werden, was sie eingemeindet zurück in die Kommune. Schon für die Menschlichkeit auch der Reichsten ist dieses Vorhaben ein Gebot der Nächstenliebe. Die CDU könnte mal in die Bergpredigt linsen.

Ohne Angst vor „Essentialismus“ ist weiter auch ein linker Universalismus gegen die Partikularismen zurückzugewinnen, in dem die Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, Interdependenz der Lebewesen gegen die Nekropolitik des Kapitals zum gemeinsamen Nenner werden. Ohne kritische Theorie des Problems ist jedoch keine nicht-kontraproduktive Lösung auffindbar. Diese Theorie muss neo- statt postmarxistisch sein, womit ihre ‚Intersektionalität‘ nicht postmodern-linksliberal sein darf, nicht ontologisierend, psychologisierend, kulturalisierend und moralisierend, sondern strukturales Zusammendenken dessen, was zusammengehört: Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus. Jenes Zusammendenken ist heutzutage nur zu haben wie zu machen als Totalitätsanalyse des Kapitalismus, der ein Vergesellschaftungsprogramm ist und keine bloße ‚differenzierte‘ Sphäre der ‚Ökonomie‘. Seine Totalität totalisiert sich differenziell, d.h. auch: in ‚Sektionen‘, in Peripherie und Zentrum; doch jene Sektionen können lediglich dann nicht-künstlich, nicht-willkürlich hinreichend zusammengedacht werden, wenn sie – was sie seit der Moderne notwendig sind – als kapitalistische Totalität begriffen werden. Zudem kann nur mit einer Totalitätsanalyse, in deren Zentrum der Universalismus kapitalistischer Ausbeutung steht, auch der emanzipatorische Universalismus der 99% artikuliert werden.

Gerade als Linke ist die richtige Theorie – die marxistische Überwindung des Linksliberalismus und des Postmodernismus – also notwendig für die richtige Praxis und kann nicht als Elfenbeinturmbeschäftigung aus dem politischen Kampf outgesourct werden. Instagrams bzw. Twitters aufgepeitschte Bubbles für Atomisierte sind noch keine Politisierung. Gegenhegemonien bilden sich nur in Koalition von Bewegungs-, Parteien- und Kulturpolitik. Der Klassenkampf für befriedete Existenz entspringt dem Universalismus der 99% – diese Vision, die demokratisch-sozialistisch zurückgeht auf Marx, muss die Vision sein der neuesten Linken.

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https://blogs.taz.de/kriterium/vom-universalismus-der-99-2/

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