vonlukasmeisner 27.08.2022

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Die Linke, will sie ihre Krise überwinden, muss wieder wissen: sie vertritt die Mehrheit. Wir sind die 99%. Didier Eribon ist zwar in aller Munde, doch seine (ebenso wie Cornell Wests oder Nancy Frasers) Kernbotschaft, nämlich, dass die Linke nicht die Arbeiterinnenklasse im Stich lassen dürfe, wenn sie keine rechte Reaktion möchte, scheint bei wenigen nur angekommen zu sein. Diese Arbeiterinnenklasse jedoch sind die 99%. Hier liegt das Ei des Kolumbus.

Damit haben weder Sahra Wagenknecht noch ihre Feinde recht. Weder profitiert die Mehrheit der Bevölkerung im Westen vom neokolonialen Kapitalismus noch muss diese sich vor den Flüchtenden aus dem Rest der Welt in Sicherheit bringen. Vielmehr sitzen wir alle, wenngleich auf unterschiedlich bequemen Sitzen, im selben Boot („Planet Erde“) und müssen dessen Untergang gemeinsam aufhalten: „zu Hause“ werden Menschen in die Armut sowie in Burnout, Depression und Angststörung geschickt aufgrund desselben Wertgesetzes, das andere andernorts dazu zwingt, ihre Heimat verlassen zu müssen. Wenn eine Linke nun die einen gegen die anderen ausspielt, hat sie versagt – schon, indem sie notorisch wiederkäut, die ersteren seien „privilegiert“, als bilde „der“ Westen „der“ Weißen einen homogenen Block, was nur rechtes Einheitsdenken (etwa der Nation) reproduziert. Das Hauptanliegen der Linken muss vielmehr sein, die reale gemeinsame Ausbeutung in einen gemeinsamen realpolitischen Kampf zu übersetzen.

Gegen den Moralismus sozialer Distinktion von oben ist einzuwenden: tatsächlich profitiert keine Arbeiterin, die im globalen Norden ausgebeutet wird, von der diversifizierten Ausbeutung ihrer Genossinnen im globalen Süden. Stattdessen profitiert, wie immer, das Kapital (jede andere Interpretation folgt blind der Ideologie von trickle-down). Nach vierzig Jahren Neoliberalismus in Europa und den USA können prekarisierte Proletinnen berechtigterweise nicht nachvollziehen, warum sie privilegiert sein sollen. Und noch weniger, dass ein Duktus und ein Jargon ihnen im Schnelldurchlauf behördlich antrainiert werden sollen, deren Beherrschen vor allem als Habitus einer „Kulturelite“ wahrgenommen wird. Es muss, anders gesagt, endlich Schluss sein mit der aktivistischen Wiederholung der polit-ökonomischen Spaltung der Gesellschaft, von Milieu bis Identität.

Stattdessen ist der einzige Weg, die Rechte zu besiegen, die Klassenfrage, das Klassenbewusstsein, den Klassenkampf wiederzubeleben auch bei uns: für eine klassenlose Gesellschaft. Die Klasse der Arbeit steht gegen die Klasse des Kapitals, weil der Mehrwert, den erstere schafft, von letzterer enteignet und privatisiert wird. (Privare heißt Berauben.) Die Klasse der Arbeit heißt Proletariat und ist und war nie – schon zu Marxens Zeiten nicht – exklusiv ‚einheimisch‘, männlich oder industriell; sie ist die Klasse, die ausgebeutet wird, ob vertraglich einwandfrei mittels Lohn oder in den Höllen der Informalität, ob halbwegs würdevoll bezahlt, illegalisiert oder in Sklaverei. Solidarität ist darum nicht nur, Empathie zu haben mit den Verdammten dieser Erde (und noch weniger, den „Gürtel enger zu schnallen“, weil „wir“ im Westen „über unsere Verhältnisse gelebt haben“), sondern Solidarität ist, die gemeinsamen Interessen gemeinsam zu vertreten. Die Botschaft der neuesten Linken muss lauten: wir sind die 99%, und die Linke ist unsere Stimme.

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https://blogs.taz.de/kriterium/vom-universalismus-der-99-1-2/

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