vonLN Redakteur*in 26.10.2022

Lateinamerika Nachrichten

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Der ehemalige Häftling Nummer 198 und heutige nicaraguanische Staatspräsident Daniel Ortega verbrachte sieben Jahre in einem Kerker der Somoza-Diktatur, bis er 1974 zusammen mit anderen Gefangenen von einem Guerilla-Kommando befreit wurde. Zu diesem Kommando gehörte auch der im Februar 2022 in der Haft verstorbene Hugo Torres Jiménez.

Man könnte meinen: Wer selbst solche Grausamkeiten erlebt hat, hat Skrupel, diese auf andere anzuwenden. Doch unter Ortegas einstigen Weggefährt*innen war Hugo Torres das erste Opfer der gegen politische Gefangene verhängten strengen Einzelhaft und Verweigerung rechtzeitiger medizinischer Versorgung. Mehrere Dutzend politische Gefangene sind nun gegen diese unmenschlichen Haftbedingungen in Hungerstreik getreten.

Am 24. September bestätigte die Demokratische Union der Erneuerung UNAMOS, dass deren Vorsitzende und Ex-Guerillera Dora María Téllez (66) in den Hungerstreik getreten ist und die Aufhebung der Isolationshaft und Zugang zu Lesematerial fordert. Bestätigt ist auch, dass die politischen Gefangen Róger Reyes, Irving Larios und Miguel Mendoza einen Hungerstreik begonnen haben. Seither hat sich die Zahl der Streikenden im Gefängnis La Modelo um weitere 20 politische Gefangene erhöht. Sie waren nach Informationen von Familienangehörigen am 26. September in einen unbefristeten Hungerstreik getreten, um ihre Freilassung zu verlangen. Zu befürchten ist, dass die unmenschlichen Haftbedingungen in Nicaragua weitere Todesopfer fordern könnten.

Miserable Haftbedingungen führen zu Hungerstreik

Insgesamt befinden sich derzeit schätzungsweise 205 Personen aus politischen Gründen in verschiedenen Gefängnissen des Landes, während die Repression gegen Aktivist*innen, Journalist*innen und Oppositionelle weitergeht. Seit sich die Angriffe auf die katholische Kirche in den vergangenen Monaten intensiviert haben, werden auch Priester verhaftet, ein Bischof wurde unter Hausarrest gestellt.

Für die Haftbedingungen, denen die politischen Gefangenen ausgesetzt sind, trägt das Präsidentenpaar Ortega-Murillo die Verantwortung. Dabei treten die zerstörerischen Auswirkungen auf die physische und psychische Integrität der Häftlinge immer deutlicher zutage. Ortega-Murillo scheinen mit ihrer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Gefangenen entschlossen zu sein, sogar deren Tod in Kauf zu nehmen. Über die Haftsituation und den Gesundheitsstatus der politischen Gefangenen dringen nur spärlich Informationen nach außen.

Da nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen die Beobachtung und Überwachung der Lage der politischen Gefangenen vor Ort verweigert wird, beschränkt sich das Wissen über ihre Haftbedingungen im Wesentlichen auf Aussagen von Familienangehörigen und Anwält*innen der Gefangenen, die sich nach jedem Besuch in der Haftanstalt El Chipote entsetzt über den körperlichen und psychischen Verfall der Häftlinge äußern.

Zwei mal zwei Meter Strafzelle und strenge Isolation

„Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie nicht einmal drei Mahlzeiten am Tag bekommen? Und wenn Sie etwas zu essen bekommen, ist es mangelhaft, von schlechter Qualität und manchmal sogar verdorben”, zitiert das Informationsportal DIVERGENTES Bertha Valle, die Frau des politischen Gefangenen Felix Maradiaga. Vilma Núñez, Präsidentin des Nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte (CENIDH) warnt, dass einige politische Gefangene ihren Angehörigen erzählt haben, sie könnten sogar die „15 Bohnen in dem schlecht gemachten Gallopinto” (nicaraguanische Hauptmahlzeit aus Bohnen und Reis, Anm. d. Red.) zählen und gingen hungrig zu Bett.

Seinen Familienangehörigen hat Medardo Mairena, eine der Führungspersönlichkeiten der Bauernbewegung, berichtet, dass er manchmal das Gefühl habe zu ersticken. Durch häufige Verhöre werde dieses Gefühl noch verstärkt. In der zwei mal zwei Meter messenden Strafzelle, in der er seit mehr als einem Jahr in strenger Isolation gehalten wird, gibt es kaum Luftzirkulation. Ob es Tag oder Nacht ist, kann er nur erkennen, wenn er durch ein kleines Fenster schaut.

Edgar Stuardo Ralón, Berichterstatter der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) für die Rechte von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, und für die Verhütung und Bekämpfung von Folter, verwendet zur Definition der Haftbedingungen, denen die politischen Gefangenen in Nicaragua unterworfen sind, den Begriff „weiße Folter”. Der Begriff wird verwendet, wenn Bedingungen wie die drastische Einschränkung sinnlicher Wahrnehmung und Unterbindung jeglicher Kontaktmöglichkeiten durch extreme Isolationshaft gegeben sind. In der Praxis des Strafvollzugs gehören dazu unter anderem Maßnahmen wie die Unterbringung in Zellen, in denen 24 Stunden das Licht brennt oder völlige Dunkelheit herrscht, der Entzug von Sonnen- oder Tageslicht, Entzug jeglichen Lese- und Schreibmaterials, Briefzensur oder die Willkür der Gefängnisadministration bei Entscheidungen wie der Zulassung oder dem Verbot von Besuchen.

Schwerer körperlicher Verfall durch Haft

Das Gefängnis El Chipote, in dem mehr als 30 der politischen Gefangenen strenger Isolationshaft unterworfen sind, ist nicht Teil des allgemeinen nicaraguanischen Strafvollzugssystems, sondern eine Sonderhaftanstalt, in der die Isolierung der Gefangenen von anderen Häftlingen ermöglicht wird. In diesem Gefängnis befinden sich auch die vier weiblichen politischen Gefangenen und Mitglieder der Direktion von UNAMOS: Tamara Dávila, Suyen Barahona, Ana Margarita Vijil und Dora María Téllez. Am 17. September warnte das Nicaraguanische Zentrum für Menschenrechte (CENIDH), dass das Leben von Téllez aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und des schweren körperlichen Verfalls, den sie während der mehr als einjährigen Haft erlitten habe, in Gefahr sei.

Seit ihrer Verhaftung haben die vier Frauen mehr als 460 Tage allein in strenger Einzelhaft verbracht. In einem Interview des Journalisten Carlos F. Chamorro mit dem US-amerikanischen forensischen Psychiater Terry Kupers auf dem Youtube-Nachrichtenkanal Esta Semana beschreibt der Journalist deren Haftbedingungen: „Sie hatten noch nie das Recht, mit anderen Menschen zu kommunizieren, ein Buch zu lesen oder zu schreiben. Und sie werden nur einmal pro Woche für ein paar Minuten Sonnenlicht und frische Luft aus ihren Zellen geholt und erhalten nur alle 45 Tage Familienbesuche.”

Nach den kurz- und mittelfristigen gesundheitlichen Auswirkungen der in El Chipote angewandten Isolationshaft für die Betroffenen befragt, antwortet Kupers: „Was du beschreibst, ist Folter. Dies ist nach allen Definitionen Folter“. Als Experte für die Gesundheit von Gefangenen in den Vereinigten Staaten hat Kupers mehr als 30 Mal vor US-Gerichten über die psychiatrischen und physiologischen Auswirkungen des US-Gefängnissystems auf Gefangene ausgesagt und war als Berater für Menschenrechtsorganisationen tätig.

„Informative” Anhörung politischer Gefangener

In einer gemeinsamen Erklärung hatten die Familienangehörigen am 29. August in einer Pressekonferenz wiederholt angeprangert, dass die an die Gefangenen verabreichten Essensrationen auf ein lebensbedrohliches Maß reduziert worden seien. Offenbar als Reaktion darauf hatten Ortega-Murillo zwischen dem 30. August und 1. September eine fragwürdige „informative” Anhörung einer ausgewählten Gruppe von bereits zu langjährigen Haftstrafen verurteilten politischen Gefangenen vor Gerichten in Managua angeordnet. Für dieses einmalige Prozedere gibt es im nicaraguanischen Justizwesen keinerlei Rechtsgrundlage, vielmehr ist anzunehmen, dass es darum ging, einige der prominentesten Gefangenen der Öffentlichkeit vorzuführen, um ihre gesundheitliche Unversehrtheit zu beweisen.

Hierzu wurden in regierungsnahen Medien Fotos von Gefangenen in Gefängniskleidung veröffentlicht, die allerdings zu nichts weniger taugten als zu einem Beweis für den guten Gesundheitszustand der Häftlinge. Einige sahen deutlich geschwächt und blass aus, es war ihnen anzusehen, dass sie einen starken Gewichtsverlust erlitten haben. Nach übereinstimmenden Aussagen von Familienangehörigen wurden vor der Vorführung die Essensrationen kurzzeitig erhöht, was manche der männlichen Gefangenen aufgrund ihrer Statur kräftiger aussehen ließ, um die Portionen anschließend wieder auf das niedrigere Maß sinken zu lassen. Eine Lebensmittelversorgung über die Angehörigen ist nicht erlaubt.

Mit zunehmender Häufigkeit setzen Gefangene in Hungerstreiks ihr Leben aufs Spiel, um Hafterleichterungen zu erreichen wie sie in der Erklärung von UNAMOS zum Hungerstreik von Dora María Téllez gefordert werden: „Das muss aufhören, alle Personen müssen Zugang zu Lese- und Schreibmaterial erhalten, Besuche müssen reguliert werden, die Ernährung muss verbessert werden und die von den Verwandten bereitgestellten Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente müssen vollständig und rechtzeitig geliefert werden, mit einem Wort: Ihre Rechte, die jeden Tag von der Diktatur verletzt werden, müssen respektiert werden.”

Rache an einer zivilgesellschaftlichen Bewegung

Die Anwendung systematischer Folter ist ein Kennzeichen totalitärer Regime, die „weiße Folter” findet hingegen auch in den Gefängnissen von Demokratien statt, zum Beispiel zur Bestrafung von Häftlingen. In Nicaragua hat die Folter die offensichtliche Funktion, Rache an einer zivilgesellschaftlichen Bewegung zu nehmen, die mit friedlichen Mitteln eine Änderung der Verhältnisse suchte. „Es gibt eine Politik der Rache, und zwar nicht nur gegen die sichtbarsten Personen. Sie rächen sich an den Bürgern und Bürgerinnen, die massenhaft auf die Straße gegangen sind, denn das ist ein enormer Affront gegen ein Regime, das es gewohnt war, jede Form der Bürgermobilisierung an sich zu reißen”, zitiert DIVERGENTES die Soziologin María Teresa Blandón, feministische Aktivistin und Leiterin von La Corriente, einer der 2.000 Nichtregierungsorganisationen, deren Schließung im Juli 2022 angeordnet wurde. Blandón selbst wurde nach einem Auslandsaufenthalt die Einreise in ihr Land verweigert.

Der Wirtschaftswissenschaftler Enrique Sáenz ist der Meinung, dass das Ortega-Murillo-Regime darauf setzt, die Moral der politischen Gefangenen „nicht nur physisch, sondern auch psychisch“ zu brechen. Doch hätte Ortega das bei zehn oder fünfzehn von ihnen geschafft, hätte er sie bereits auf einem Podium präsentiert und sie hätten gegen ihren Willen behauptet, dass sie sich ‚geirrt haben‘, dass sie ‚dankbar für Ortegas Großzügigkeit‘ sind.“ Von daher mahnt Sáenz selbstkritisch an: „Wir haben den Widerstand (der politischen Gefangenen) immer noch nicht ausreichend gewürdigt“.

// Elisabeth Erdtmann

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