vonLN Redakteur*in 25.10.2022

Lateinamerika Nachrichten

Seit 1973 kritische, solidarische und unabhängige Berichterstattung über Lateinamerika und die Karibik.

Mehr über diesen Blog

Nach der endgültigen Auszählung aller Stimmen des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl in Brasilien vom 2. Oktober erhielt Bolsonaro 43,2 Prozent der Stimmen, Lula 48,4 Prozent. Ein Vorsprung des Kandidaten der Arbeiterpartei (PT) von fast fünf Millionen Stimmen. Aber die Wahlumfragen hatten für Bolsonaro nicht mehr als 35 Prozent prognostiziert. Dieses Wahlergebnis fordert Erklärungen und ermöglicht verschiedene Lesarten.

Nach viel Regen und Kälte schien in São Paulo endlich mal wieder die Sonne. Die Stimmung am 2. Oktober war gut – insbesondere unter den Wähler*innen von Luiz Inácio Lula da Silva. Die letzten Umfragen vor der Wahl ließen einen Wahlsieg Lulas im ersten Wahlgang möglich erscheinen. Die Hoffnung wuchs, die Schreckensherrschaft von Jair Bolsonaro noch an diesem Tag beenden zu können. Leider kam es anders. Eine schlechte Nachricht nach der anderen verdarb die Stimmung. Die entscheidende: Bolsonaro schnitt erheblich besser ab als erwartet und zuvor durch die Umfragen suggeriert.

Nach der endgültigen Auszählung aller Stimmen des ersten Wahlgangs erhielt Bolsonaro 43,2 Prozent der Stimmen, Lula 48,4 Prozent. Immerhin ein Vorsprung des Kandidaten der Arbeiterpartei (PT) von fast fünf Millionen Stimmen. Nachdem der erste Schreck abgeschüttelt war, versuchten sowohl die PT-Führung als auch viele andere Linke in den sozialen Netzwerken wieder gute Stimmung und Optimismus zu verbreiten. Verständlich und notwendig, um die Mobilisierung für den zweiten Wahlgang am 30. Oktober zu stärken. Lula hat zwar den Sieg im ersten Durchgang verpasst, aber nur knapp. In den ersten Umfragen zum zweiten Wahlgang liegt er deutlich vor Bolsonaro. Eine am 10. Oktober veröffentlichte Umfrage von Ipec sieht Lula bei 51 Prozent und Bolsonaro bei 42 Prozent der gültigen Stimmen, in einer Umfrage von Datafolha am 14. Oktober beträgt der Vorsprung von Lula nur fünf Prozent. Doch die Umfragen sind tendenziell im zweiten Wahlgang genauer, weil das Szenario übersichtlicher ist. Dies beflügelt einen vorsichtigen Optimismus.

Sieg Lulas im zweiten Wahlgang kein Selbstlauf

Lula hat also weiterhin gute Chancen, die Wahl zu gewinnen. Hinzu kommt, dass bei den letzten Präsidentschaftswahlen immer der Kandidat gewonnen hat, der im ersten Durchgang vorne lag. Positiv für Lula ist auch auch die Tatsache, dass die drittplatzierte Kandidatin bei den Wahlen (Simone Tebet von der Mitte-Rechts-Partei MDB mit 4,3 Prozent der Stimmen) nun mit klaren und deutlichen Worten ihre Unterstützung für Lula verkündet hat. Auch wenn ein Sieg Lulas im zweiten Wahlgang kein Selbstlauf ist, so bleibt er doch Favorit.

Aber es gibt auch gute Gründe für Vorsicht und Pessimismus. Anders als bei früheren Wahlen liegt nun der amtierende Präsident zurück. Und der hat bereits eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, die helfen könnten, das Blatt noch zu wenden. So werden die Transferleistungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung (Auxílio Brasil) vorgezogen, um sie noch vor den Wahlen auszuzahlen. Preise für Gas und Benzin sollen weiter sinken. Und tatsächlich mehren sich die Zeichen für eine leichte wirtschaftliche Erholung nach einer langen Rezession. Für 2022 wird nun ein Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent vorausgesagt und die Inflationsrate sinkt auf 5,5 Prozent.

Die Opposition hält diese Entwicklung der jüngeren Zeit angesichts der katastrophalen Gesamtbilanz der Regierungszeit Bolsonaros für irrelevant. Auch die Anhebung des Auxílio Brasil bereits vor dem ersten Wahlgang schien bisher nicht die gewünschte Wirkung zu zeigen. Aber ein Indikator mahnt zur Vorsicht: Auch wenn Lula wieder im gesamten Nordosten Brasiliens deutlich gewonnen hat, so hat Bolsonaro doch besser abgeschnitten als vor vier Jahren. Seine Stimmengewinne in den ärmeren Teilen Brasiliens könnten darauf hindeuten, dass die Transfermaßnahmen als Wahlgeschenke doch teilweise wirken und somit durchaus Einfluss auf den zweiten Wahlgang haben könnten. Bedenklich ist auch, dass in den letzten Umfragen die Ablehnung Bolsonaros sinkt und die Zustimmung zu seiner Regierung leicht steigt.

Resilienz und Mobilisierungsbasis des Bolsonarismus wurde offensichtlich unterschätzt

Die große Differenz zwischen den Wahlumfragen und dem Ergebnis zeigt auch, dass die Resilienz und die Mobilisierungsbasis des Bolsonarismus offensichtlich unterschätzt wurde und sowohl von Meinungsforschungsinstituten wie von politischen Analysen nur unzureichend erfasst wird. Etwa 40 Prozent der brasilianischen Bevölkerung hat sich offensichtlich in eine riesige Blase oder Parallelwelt zurückgezogen, schaut kein Fernsehen mehr (außer den religiösen Sendern) und informiert sich nicht über Zeitungen. Gleichzeitig verbringen in fast keinem Land der Welt die Menschen so viel Zeit in sozialen Netzwerken wie in Brasilien und nutzen so häufig WhatsApp und Telegram.

Der 2. Oktober war auch Wahltag für Senat und Bundesparlament, sowie für Gouverneure und Landesparlamente. Hier steht ein Ergebnis bereits fest: Der Bolsonarismus und die extreme Rechte sind als klare Sieger hervorgegangen. Die Partei Bolsonaros, die sich liberal nennende PL, wird mit 99 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus in Brasília stellen. Wichtige Minister*innen Bolsonaros wurde zu Senator*innen gewählt, darunter Damares Alves, die Vertreterin der Evangelikalen, als auch Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias, die ehemalige Landwirtschaftsministerin und Vorsprecherin des Agrobusiness sowie der Vizepräsdent Bolsonaros, General Hamilton Mourão.

Bei den Gouverneurswahlen von São Paulo lag der Kandidat der PT, Fernando Haddad, in allen Umfragen vorn, aber am Wahlabend führte der Kandidat und Ex-Minister Bolsonaros, Tarcísio Freitas. Als Minister für Infrastruktur gehörte Freitas zum sogenannten „technischen Flügel“ des Kabinetts von Bolsonaro und profilierte sich eher als Macher, der nicht durch demagogische Ausfälle auffiel. Ein bitteres Ergebnis war auch die Wahl des ehemaligen Bundesumweltministers und Zerstörers der Umweltpolitik Brasiliens, Ricardo Sales, zum Bundesabgeordneten. Zwei weitere Kandidaten, die Bolsonaro unterstützen, haben bereits den ersten Durchgang der Gouverneurswahlen in Minas Gerais und Rio de Janeiro gewonnen. Wird Tarcísio Freitas in São Paulo ebenfalls gewählt, dann würden die drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Brasiliens von Anhängern Bolsonaros regiert. Freitas und der Gouverneur von Minas Gerais, Romeu Zema, wären auch starke Kandidaten, um eine „Neue Rechte“ ohne Bolsonaro anzuführen.

Gefährliches Bündnis von Evangelikalen, Agrobusiness und Bolsonarismus

Insgesamt hat sich mit dieser Wahl ein politisches Bündnis von Evangelikalen, Agrobusiness und Bolsonarismus gefestigt und seine Hegemonie im rechten Lager konsolidiert. Es vereint eine konservative moralische Agenda (gegen Abtreibung und „Genderideologie“), die Befürwortung von Polizeigewalt und die Ablehnung von Menschenrechten, die Glorifizierung des Agrobusiness und die Feindschaft gegenüber indigenen und traditionellen Gemeinschaften, die zusammen mit der Umweltgesetzgebung als Entwicklungshemmnis denunziert werden. Diese „Neue Rechte“ gewinnt durch die Wahl an Konturen und geht über den klassischen Bolsonarismus hinaus. Auch bei eine Wahlniederlage Bolsonaros wird die „Neue Rechte“ kaum wieder verschwinden und eine radikale Opposition gegen eine PT-geführte Regierung machen.

Zum Gesamtergebnis der Parlaments­wahlen gehört aber auch, dass die PT Stim­­­­­­­­­­­­­­­­­men hinzugewonnen hat und die zweitstärkste Fraktion im Bundesparlament stellen wird. Ihr linker Bündnispartner, die PSOL, konnte insgesamt Gewinne und einige bemerkenswerte Ergebnisse erzielen. So wurde Guilherme Bou­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­los, Führungspersönlichkeit der Obdachlosenbewegung MTST, in São Paulo mit den meisten Stimmen zum Abgeordneten ins Bundesparlament gewählt. Ebenfalls über die Liste der PSOL gelangen nun zwei prominente Vertreterinnen der indigenen Bewegung ins Parlament, Sonia Guajarara und Celia Xakriaba. Bemerkenswert ist auch das gute Abschneiden von Erika Hilton, die als trans Person ins Bundesparlament einzieht. Und mit der ehemaligen Umweltministerin der Regierung Lula, Marina Silva, ist eine prominente Umweltschützerin ins Parlament gewählt worden.

Das Bild ist also uneinheitlich und spiegelt die tiefe Spaltung der brasilianischen Gesellschaft wider. Aber das Pendel ist in diesen Wahlen, soweit es das Parlament betrifft, nach rechts geschlagen. Bolsonaro und seine engen Verbündeten verfügen über 37 Prozent der Abgeordneten, das linke Lager um die PT über 28 Prozent. Beide sind daher davon abhängig, ihre Basis zu erweitern. Damit kommt das sogenannte Centrão ins Spiel, ein diffuses Lager von Abgeordneten aus verschiedenen Parteien ohne klare ideologische Ausrichtung, aber mit dem Interesse, an der Macht und den Töpfen der Regierung teilzuhaben.

Hassobjekt: Oberster Gerichtshof

Bolsonaro hatte bereits mit diesem Lager ein Bündnis geschlossen und dafür einen hohen Preis gezahlt, ein Teil des Haushaltes ist nun für dessen Anliegen reserviert. Das Bündnis würde Bolsonaro daher erheblich leichter fallen als Lula. Damit erscheint ein Schreckensszenario möglich: Eine zweite Regierung Bolsonaro, die über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt und damit die Verfassung ändern könnte. Vor allem aber könnte sie den Obersten Gerichtshof (STF) umstrukturieren, der zu einem großen Hassobjekt Bolsonaros geworden ist, weil der STF sich nicht der Regierung untergeordnet hat. Eines jedenfalls steht fest: Ein zweite Regierung Bolsonaro hätte erheblich mehr Potential, ihre sinistre politische Agenda durchzusetzen. Amazoniens Ökosystem würde weitere vier Jahre Bolsonaro wohl kaum überleben.

Lulas Sieg bei den Präsidentschaftswahlen ist die letzte Chance, den Durchmarsch der extremen Rechten zu verhindern. Zwar müsste Lula erhebliche Zugeständnis machen, um die Abgeordneten des Centrão auf seine Seite zu ziehen, aber unmöglich ist das nicht. Lula stände vor einer schweren Aufgabe und würde viele Erwartungen der brasilianischen Linken nicht erfüllen, das ist allen klar. Aber angesichts der Bedrohung durch Bolsonaro treten solche Überlegungen in den Hintergrund.

Doch erst muss die Wahl gewonnen werden. Bolsonaro versucht durch Lügen („Lula will die Kirchen schließen“), Schmutzkampagnen (angeblicher Missbrauch von Kindern) und Wahlgeschenke das Blatt noch einmal zu wenden. Dies spielt sich wieder vorwiegend über WhatsApp ab, ohne Faktencheck oder Korrekturen. Dort gibt es auch eine positive Entwicklung: Durch das gute Abschneiden Bolsonaros und seiner Verbündeten sind plötzlich die Stimmen verstummt, die das elektronischen Wahlverfahren anzweifelten und einen großen Betrug zugunsten Lulas an die Wand malten. Es wird Bolsonaro nun schwerer fallen, einen Wahlsieg Lulas im zweiten Wahlgang anzuzweifeln. Aber Achtung, Spoiler: Bolsonaro hat keine Angst vor dem Absurden.

//Thomas Fatheuer

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/lateinamerika/zwischen-furcht-und-hoffnung/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert