vonPeter Strack 20.11.2019

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Heute ist der 30. Jahrestag der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Sie definiert die Rechte aller Kinder und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, weltweit. Etwa das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung (Artikel 24) oder der Schutz vor sexueller Gewalt (Artikel 34). In Zusammenarbeit mit Caritas Schweiz und Interteam, setzt sich ENDA für die Rechte von Mädchen in El Alto ein.

Von SIMONA BÖCKLER

ENDA ist eine Nichtregierungsorganisation in El Alto, die seit 1988 in Zusammenarbeit mit Caritas Schweiz, Kinder und Jugendliche unterstützt, die Opfer von Gewalt geworden sind, Drogenmissbrauch oder andere Verhaltensauffälligkeiten nachweisen.

Ziel der Organisation ist es, die soziale Gefährdung in El Alto durch Betreuungsmaßnahmen, Bildung, Prävention und politischer Einflussnahme zu reduzieren. Ihre Arbeit soll sozialer Marginalisierung von Kindern und Jugendlichen vorbeugen, die sozio-familiären, pädagogischen und beruflichen Dynamiken verbessern und die Integration in die Gemeinschaft begünstigen.

Mit der Präventionsarbeit werden auch Kinder und Jugendliche aus den Schulen der Viertel von El Alto betreut. Denn in dieser Gegend sind die Jüngeren stark gefährdet, Opfer oder Täter zu werden. Gewalt, Schulabbrüche, Drogenmissbrauch und Banden sind hier an der Tagesordnung.

Jedes Jahr nutzen ca. 1500 Kinder und Jugendliche und 900 Familien das Angebot von ENDA.

  • Das Zentrum „Minka“
Zentrum „Minka“ (credit: Simona Böckler)

Ein zentrales Projekt von ENDA ist das „Centro de Atención Integral Minka“ (Zentrum „Minka“). Das Haus bieten aktuell 12 Mädchen im Alter zwischen 6 und 18 Jahren, die Opfer von Gewalt geworden sind, Unterschlupf und Schutz.

Ziel der Arbeit ist es, die Rechte der Mädchen zu verteidigen. Das Team arbeitet mit Einzel- und Gruppentherapien, Therapieeinheiten mit den Familien, Hilfsgruppen für Mütter, Väter und Tutoren und Unterstützungsmaßnahmen in der Bildung und Weiterbildung. Durch diese Aktivitäten sollen Prozesse des Empowerments und der sozialen Resilienz gefördert werden.

  • Körperarbeit als Teil der Therapie
Handbuch INTERTEAM (credit: Simona Böckler)

Ein wichtiges Element des Angebots für die Mädchen ist die Körperarbeit. Das Team verwendet das Handbuch „El cuerpo que soy“ (Der Körper, der ich bin) der Schweizer Organisation INTERTEAM, das ENDA auch bei der Organisationsentwicklung unterstützt: Das Handbuch umfasst Entspannungs- und Dehnungsübungen, unterschiedliche Atmungsmethoden und Visualisierungen. Die Aktivitäten werden in der individuellen Therapie sowie als Gruppenaktivität wöchentlich durchgeführt.

Koordinatorin und Therapeutin Milenka Villalobos erläutert die Hintergründe dieser Übungen. „Gewalt impliziert eine körperliche Übertretung, bei der die eigenen körperlichen Grenzen verletzt werden. Im Gewaltakt verlieren die Opfer die Kontrolle über ihren Körper. Sie machen die Erfahrung, nicht mehr Herr ihres eigenen Körpers zu sein.“

Der zentrale Punkt in der therapeutischen Körperarbeit ist dementsprechend das Wiederherstellen des Vertrauens in den eigenen Körper. Es ist essenziell den Körper wieder als Teil der eigenen Person integrieren zu können.

Milenka fügt hinzu, dass „die Mädchen Opfer eines Traumas sind und dieses sich auch körperlich in Form von Stresserscheinungen, Angstzustände und Depressionen manifestiert. Der Körper speichert sozusagen die traumatische Erfahrung. Wir müssen also auch aktiv auf den körperlichen Teil des Traumas einwirken, damit die Mädchen wirklich genesen können.“

Schließlich sollen die die jungen Frauen auch ein effektives Werkzeug an die Hand bekommen, damit sie wieder Kontrolle über ihren Körper und ihre Emotionen erlangen können, wenn sie eine Krise erleben.

  • Ein Stunde Körperarbeit mit den Mädels

Ich durfte an einer Stunde mit den Mädels teilnehmen. Die Therapeutin Carolina Portugal erklärt mir die Übungen und dessen Hintergrund.

Die Körperarbeit soll den Körper von Außen nach Innen verbinden. Wir beginnen mit der Dehnung. Wir gehen die einzelnen Körperteile durch, damit wir unseren Körper spüren können. Wir nehmen unseren Körper wahr, wir arbeiten uns an den körperlichen Erinnerungen, an den körperlichen Anspannungen langsam ab.

Wir machen mit einer Atemübung weiter. Die Atmung hilft den Mädels ihr Inneres mit der Außenwelt zu verbinden. Im ersten Schritt sollen wir versuchen, die Atmung in den unterschiedlichen Körperbereiche zu spüren. Anschließend sollen wir die Aufmerksamkeit auf die Ein- und Ausatmung fokussieren. Diese Übung können die Mädels beispielsweise dann eigenständig einsetzen, wenn sie Hyperventilieren. So können sie wieder die Kontrolle über ihren Körper und ihre Emotionen zurückgewinnen.

Schließlich leitet Carolina eine Übung zur positiven Visualisierung an: Wir sollen uns einen sicheren Raum vorstellen, uns in diesem Raum geschützt fühlen. Es ist wichtig, dass die Mädchen lernen einen fiktiven Raum zu visualisieren, den sie als sicheren Rückzugsort in schwierigen emotionalen Momenten nutzen können.

Körperarbeit in „Minka“ (credit: Milenka Villalobos)
Körperarbeit in „Minka“ (credit: Milenka Villalobos)
  • Interview mit Antonella

Antonella (fiktiver Name) ist 16 Jahre alt und wohnt seit 8 Monaten im Zentrum „Minka“. Zuvor lebte sie bei ihrem gewalttätigen Onkel, bis sie aus der Wohnung geworfen wurde. Sie hat keine anderen Angehörigen, die sie nach der Zeit in „Minka“ aufnehmen könnten.

Frage: Wie gefällt es dir hier im Zentrum „Minka“?

Ich fühle mich hier sehr wohl. Das Zentrum tut mir gut, ich bin viel stärker und selbstsicherer geworden seitdem ich hier bin. Wir machen viele schöne Dinge und ich lerne viel Neues. Wir haben unterschiedliche therapeutische Einheiten, Einzeltherapie mit der Psychologin aber auch Gruppentherapie wie beispielsweise die Körperarbeit. Wir machen auch einen Computerkurs, einen Schneiderkurs und wir haben eine große Küche in der wird Mandelgebäck backen. Wir machen auch noch Yoga und dürfen in den Pausen Fußball im Hof spielen. Ich habe einen sehr vollen Tag.

Unter der Woche bin ich vormittags immer in der Ausbildungsstätte. Ich absolviere nämlich eine Ausbildung in der Gastronomie unten in La Paz. Ich profitiere sehr von dieser Möglichkeit, denn ich habe keine Familie und werde finanziell selber für mich sorgen müssen, sobald ich hier raus bin. Ich liebe es zu kochen und kann es nicht erwarten, bald in einem Restaurant zu arbeiten.

Frage: Du hast mir erzählt, dass die Körperarbeit deine Lieblingsaktivität hier drinnen ist. Wieso?

Raum für Körperarbeit (credit: Simona Böckler)

Die Dehnungsübungen und das Yoga machen meinen Körper flexibler. Auch die Atmungsübungen finde ich sehr hilfreich. Die Körperarbeit hilft uns, unsere Gefühle besser wahrzunehmen und zu kontrollieren. Wenn wir negative Empfindungen haben, können wir durch bestimmte Übungen diese in Schach halten.

Beispielsweise war ich an einem Tag so traurig, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Ich habe so heftig geweint, dass ich fast keine Luft mehr bekommen habe. Es war richtig schlimm. In der Verzweiflung viel mir dann ein, dass wir eine Atemübung für genau diese Notfälle gelernt hatten. Ich habe die Methode der Wechselatmung angewendet. Und wie auf Knopfdruck war alles vorbei. Ich habe wieder Luft bekommen und habe aufgehört zu weinen. Es war wie ein Wunder! Und das einzige was mir an diesem schrecklichen Tag geholfen hat. Ich bin Carolina so dankbar, dass sie mir die Übung beigebracht hat.

Frage: Welche Rolle spielt „Minka“ für dein Leben?

„Minka“ hat mein Leben stark verändert, ich wäre nicht der Mensch der ich jetzt bin, wenn sie nicht gewesen wären. Sie unterstützen mich in meinem Ausbildungsvorhaben. Sie haben großes Vertrauen in mich. Das macht mir große Freude. Hier haben sie mir auch viel über Kinder- und Frauenrechte, über meine eigenen Rechte beigebracht. Oft wissen wir Kinder und Jugendliche nicht welche unsere Rechte sind und schweigen deswegen über schlimme Dinge, die uns passiert sind. Hier drinnen habe ich gelernt, dass wenn jemand unsere Grenzen nicht respektiert, wir die Pflicht haben uns zu verteidigen. Jetzt kenne ich meine Rechte!

Frage: Gibt es noch irgendwas, dass du den LeserInnen gerne sagen würdest?

Ich will allen Mädchen und Frauen dort draußen Mut zusprechen. Wenn schlimme Dinge im Leben passieren, dann ist es nie umsonst. Das sind Erfahrungen, die uns für eine bestimmte Zeit im Leben zeichnen, aber das Leben geht weiter, wir dürfen uns nicht davon aufhalten lassen. Wir müssen stark sein, denn schmerzhafte Erfahrungen können überwunden werden. Es kommt irgendwann der Punkt, an dem es wichtig und richtig ist sich zu sagen, dass man ab heute nach vorne schaut und seinen Träumen nachgeht.

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