Ein bedauerlicher Irrtum? Eine Ironie der Geschichte? Oder doch mehr als ein Zufall? Noch immer streiten sich manche Gelehrte, ob der amerikanische Kontinent seinen Namen zu Recht nach Amerigo Vespucci (1451-1512) trägt – jenem Kaufmann und Seefahrer, der heute vor 500 Jahren gestorben ist.
Fest steht: Wie sich die Europäer in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts die „Neue Welt“ vorstellten, geht maßgeblich auf die in vielen Variationen erschienenen Reiseberichte Vespuccis zurück.
1507 veröffentlichte der Freiburger Kartograf Martin Waldseemüller seine Weltkarte, auf der sich zum ersten Mal die Bezeichnung „America“ findet – dort, wo heute Brasilien liegt. Begleitet wurde die kunstvoll gestaltete Weltkarte von 2,28 mal 1,25 Metern Größe von einer Einführung in die neue Weltkunde des Entdeckungszeitalters und einer kleinen Globus-Segmentkarte. Die gedruckten Einzelteile ergaben – ausgeschnitten und auf eine Holzkugel geklebt – einen Globus.
Waldseemüller und sein Kollege Matthias Ringmann begründen in dieser „Cosmographiae Introductio“ ihre Entscheidung: Die vom griechischen Geographen Ptolemäus bereits aufgezeichnete Welt sei zwar von anderen erweitert, aber der Menschheit erst durch Vespucci „wahrhaft zur Kenntnis gebracht“ worden. Und: „Da auch Europa und Asien weibliche Namen erhalten haben, ist nicht einzusehen, warum es jemand verbieten sollte, diese neue Region nach dem scharfsinnigen Mann, der sie entdeckt hat, America zu nennen“.
Ihrem Text fügten sie eine lateinische Version des „Briefs des Amerigo Vespucci über die jüngst auf seinen vier Reisen gefundenen Inseln“ bei, der zuvor auf italienisch in Florenz erschienen war. In seiner früheren Flugschrift „Mundus Novus“ hatte Vespucci geschrieben, er habe südlich des Äquators einen Kontinent gefunden, den man „eine neue Welt nennen dürfe“ – anders als Christoph Kolumbus, der 1506 in der festen Überzeugung starb, die Westküste Indiens erreicht zu haben.
Der Florentiner bereiste zunächst die Karibik und anschließend die Küstenregionen bis hin zum heutigen Südbrasilien. „Mit seinem unwiderstehlichen Talent für Werbung“, so der brasilianische Anthropologe Darcy Ribeiro, „erklärte und wiederholte Amerigo Vespucci bis zur Erschöpfung, dass jene seine so liebliche, grüne, bewaldete, blühende, erspießliche, fruchtbare, wohlklingende, schmackhafte, vogelreiche, musikalische, wohlriechende und bunte Neue Welt nur der Garten Eden sein könne“.
Doch Vespucci berichtete auch von angeblichen Begegnungen mit Menschenfressern und lieferte dadurch eine handfeste Rechtfertigung für die Unterwerfung der amerikanischen Urbevölkerung. Ohne ein Wort des Bedauerns schilderte er, wie die Konquistadoren unter jenen Ureinwohnern wüteten, die ihnen feindlich gesonnen waren. Dass die „edlen Wilden“ zur Not mit Gewalt zur Raison gebracht werden mussten, stand für ihn außer Zweifel.
Auch Dank des Buchdruck-Booms in Europa entwickelten sich Vespuccis Berichte zu regelrechten Bestsellern: Allein von der deutschen Fassung des „Mundus Novus“ erschienen zwischen 1505 und 1508 mindestens zwölf Auflagen. Zahlreiche Illustratoren wurden durch sie angeregt, die zwiespältige Haltung der Europäer zu den kolonisierten Völkern Amerikas grafisch umzusetzen. Kannibalische Indianer – beides Wortschöpfungen von Kolumbus – gehörten dabei zu den beliebtesten Motiven.
Seit 1507 hat „America“ eine weitere Bedeutungsverschiebung erfahren: Die Weltmacht USA, deren Territorium Martin Waldseemüller noch als „Terra Incognita“ bezeichnet hatte, beansprucht den Begriff meist ausschließlich für ihr eigenes Land. So befindet sich auch das einzige bekannte Exemplar der Waldseemüller-Karte in der Library of Congress. Das deutsche Kulturgut gelangte 2001 für zehn Millionen Dollar nach Washington.