vonGerhard Dilger 05.07.2020

latin@rama

Seit 2008 Nachrichten vom anderen Ende der Welt und anderswoher.

Mehr über diesen Blog

Einer der Knackpunkte des Handelsabkommens ist die starke Asymmetrie. Multis würden profitieren, Hunderttausende ihren Arbeitsplatz verlieren.

Von Verónica Ocvirk, Erstveröffentlichung Página 12

“Herr Präsident, das Abkommen steht!” war in der emotionalen, wenig später viralen WhatsApp-Audiodatei zu hören, die Argentiniens Außenminister Jorge Faurie an Mauricio Macri sandte, als vor einem Jahr die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur (Gemeinsamer Markt des Südens) abgeschlossen schienen.

Über 16 Jahre lang hatte sich das Tauziehen zwischen Funktionären und Unternehmern auf beiden Seiten des Atlantiks hingezogen, bis die Gespräche 2016 neuen Auftrieb erhielten und am 28. Juni 2019 der Abschluss der Beratungen – nicht jedoch die Unterzeichnung – des Handelsabkommens angekündigt wurde. Die Regierung des rechtsliberalen Präsidenten Macri präsentierte dies damals als einen „Meilenstein für die Umstrukturierung der argentinischen Produktion”.

Das Abschlussdokument soll demnächst durch die Parlamente der Mercosur-Länder geprüft werden und muss sich dann gleichzeitig den Weg durch das komplexe Netz der Institutionen in Europa bahnen, zu denen neben nationalen auch einige supranationale Instanzen wie das Europaparlament und der Europarat gehören.

Im vergangenen Jahr sprach sich der österreichische Bundestag gegen das Abkommen aus, und vor Kurzem wurde es auch von den Niederlanden abgelehnt – eine Entscheidung, die zwar nicht bindend ist, aber auf stärker werdenden politischen Gegenwind hindeutet.

 Offene Fragen

Doch welche Auswirkungen hätte das EU-Mercosur-Abkommen letztendlich? Wer würde davon profitieren, wer Nachteile erleiden? Und welche Folgen könnte es für die Umwelt haben, wie würde es sich auf die Volkswirtschaften auswirken, wie auf die Beschäftigung und das alltägliche Leben der fast 800 Millionen Menschen, die Teil dieser Märkte sind?

Während der Verhandlungen gelangte kaum eine Information an die Öffentlichkeit, rigorose Umweltverträglichkeitsprüfungen blieben Fehlanzeige. Und auch die derzeitige Prüfung (legal scrubbing) findet hinter verschlossenen Türen statt.

Bald suchten Abgeordnete der Fraktion „Die Grünen/EFA” im Europaparlament Expert:innen mit der Fähigkeit, eine umfassende, seriöse, akute und minutiöse Wirkungsstudie zu verfassen. Die Wahl fiel auf Luciana Ghiotto, Politologin der argentinischen Universität San Martín und Attac-Aktivistin, sowie auf den Rechtsprofessor von der Universität Buenos Aires Javier Echaide, der ebenfalls Mitglied von Attac-Argentinien ist.

Ghiotto und Echaide untersuchten Abschnitt für Abschnitt das 400-seitige Abkommen und veröffentlichten die Ergebnisse in einem Buch mit dem Titel „El Acuerdo entre el Mercosur y la Unión Europea. Estudio integral de sus cláusulas y efectos“ (Das Abkommen zwischen Mercosur und Europäischer Union. Integrale Untersuchung seiner Klauseln und Auswirkungen), dessen spanische Fassung kürzlich vom Lateinamerikanischen Rat für Sozialwissenschaften CLACSO in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde.

Weitreichende Auswirkungen

„Die heute verhandelten Vereinbarungen gestalten langfristig den gemeinsamen Handel. Industrie und Regierungen passen sich an die aus ihnen resultierenden Regeln an, Handelsströme ändern ihre Richtung, Entwicklungskonzepte werden durch ihren Inhalt geprägt. Ihre Auswirkungen werden die Volkswirtschaften in ihrer Gesamtheit spüren”, warnen die Europaabgeordneten der Grünen/EFA-Fraktion Anna Cavazzini und Yannick Jadot in ihrem Vorwort.

„Wir sehen nicht nur die Auswirkung auf die Produktion und den Handel, im Sinne von ‘soundso viele Arbeitsplätze gehen in einer bestimmten Branche verloren’ oder ‘die Vereinbarungen haben für diese oder jene Industrie die folgenden Konsequenzen.’ Selbstverständlich ist das alles von Bedeutung, wir haben aber auch noch Kapitel zu Dienstleistungen, zu öffentlichen Aufträgen und zu geistigem Eigentum hinzugefügt“, erklärte Ghiotto während der Buchvorstellung Anfang Juni, an der zudem Echaide, Cavazzini und die Vizesekretärin für den Mercosur und Internationale Wirtschaftsverhandlungen des argentinischen Außenministeriums, María del Carmen Squeff, teilnahmen.

Hier wurde ein eingebetteter Medieninhalt blockiert. Beim Laden oder Abspielen wird eine Verbindung zu den Servern des Anbieters hergestellt. Dabei können dem Anbieter personenbezogene Daten mitgeteilt werden.

Das Video mit englischen Untertiteln von Tony Phillips

Ghiotto fügte hinzu: „Hier geht es um Faktoren wie den Zugang zu Medikamenten, medizinischer Versorgung, Bildung, Wasser – also um Auswirkungen im weiteren Sinne. Heutzutage kann man kein Freihandelsabkommen unterzeichnen, wenn man nicht weiß, welche Folgen es für die Frauen haben kann. Für eine Diskussion brauchen wir nicht nur einige Zahlen, sondern einen ganzheitlichen Blick auf die Folgen, die sich nicht nur für die verschiedenen Bereiche der Produktion ergeben, sondern für die Gesellschaft insgesamt”.

Asymmetrien

Das Abkommen ermöglicht es dem Mercosur, einige seiner Erzeugnisse zollfrei, andere zu einem Vorzugstarif auf den europäischen Markt zu bringen. Die EU erhält im Gegenzug den Zugang zur am stärksten entwickelten Region Südamerikas.

Der Ausgang der lang anhaltenden Verhandlungen belohne die Bemühungen der EU, international zur Speerspitze des freien Handels zu avancieren, meinen die Autoren. Im Gegensatz zu den USA, die sich in ihrem Handelskrieg mit China auf die Verteidigung ihrer eigenen Wirtschaft zurückzuziehen scheinen, sei die EU zu einer geradezu „zwanghaften Befürworterin” von Handelsabkommen geworden, um sich durch die Senkung von Einfuhrzöllen und die Vereinfachung des Kapitalumlaufs Vorteile zu verschaffen.

Ein Knackpunkt der Vereinbarungen sei das asymmetrische Handelsverhältnis zwischen beiden Wirtschaftsblöcken. „Historisch ist es so, dass die Mercosur-Länder vorwiegend Agrarprodukte ausführen, die EU dagegen Erzeugnisse mit mittlerer und hoher Wertschöpfung,” sagte Ghiotto. „Die Vereinbarungen verstärken diese Asymmetrie weiter, indem sie Anreize für das weitere Wachstum eines auf Einsatz von Glyphosat und chemischer Düngemittel beruhenden Agrarmodells fördern. Doch das ist kein Anreiz für die einheimische Industrie – ganz im Gegenteil”.

Sie zeigte außerdem auf, dass die Einfuhr europäischer Produkte sich in sensiblen Branchen wie der Automobilindustrie sowie bei deren Zulieferern auswirken wird, ebenso dem Maschinenbau, der Chemie- und Pharmaindustrie sowie in der Textil- und Schuhindustrie.

Argentiniens Industrie, die heute durch Zölle von 35 Prozent bei Autos und 14 bis 18 Prozent im Maschinenbau geschützt wird, soll über eine Frist von maximal 15 Jahren ab Unterzeichnung des Abkommens verfügen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit an die der europäischen Unternehmen anzupassen. Letztere hat jedoch im allgemeinen geringere Finanzierungs- und Energiekosten, worin einer ihrer größten Vorteile liegt. Und allein bei den Zöllen würde das Abkommen für die EU-Firmen zu einer Ersparnis von vier Milliarden Euro im Jahr führen.

In den Mercosur-Ländern sieht das Panorama für die Industrie dagegen ganz anders aus: Wird ein Teil der inländischen Produktion durch Importe aus Europa ersetzt, hat das Folgen für die Wertschöpfungsketten in der Region. Zwar hat sich der Mercosur auf den Export von landwirtschaftlichen Erzeugnissen spezialisiert, im Binnenhandel besteht der Handel zwischen den Brasilien und Argentinien jedoch vorwiegend aus Industriegütern, davon zu einem großen Teil aus Fahrzeugteilen.

Mit dem EU-Mercosur-Abkommen würde Brasilien seine Einfuhr argentinischer Waren reduzieren, sowohl bei Metallwaren und Autoteilen als auch bei weiterverarbeiteten Agrarprodukten wie Olivenöl und Käse. Diese Branchen der argentinischen Industrie würden ihre Hauptkunden verlieren. „Die zunehmende Präsenz europäischer Produkte in den brasilianischen Supermarktregalen ginge auf Kosten der argentinischen und teilweise auch der uruguayischen Industrie”, wird in der Studie betont, gleichzeitig aber auch festgestellt, dass es dort bislang kaum eine organisierte Opposition gegen das Abkommen gebe.

Umweltaspekte

Auf ein Zustandekommen des Abkommens wird nicht nur aus Europa gedrängt, faktisch werden jedoch bisher vorwiegend dort kritische Stimmen laut, vor allem aus der Landwirtschaft. Auch gab es bereits Kontroversen um die Umweltpolitik, vor allem, als im August 2019 die vermutlich zur Ausdehnung der Weideflächen gelegten Waldbrände im Amazonasgebiet weltweit Schlagzeilen machten.

Die Standards für die landwirtschaftliche Produktion im Mercosur liegen deutlich unter jenen der EU, weshalb „zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken nicht nur im Handel, sondern auch bei den Regulierungen Asymmetrien bestehen“, heißt es in der Studie. Dies wird anhand des frappierenden Beispiels des unter der Bezeichnung „Operation Schwaches Fleisch” bekannt gewordenen Gammelfleischskandals im Fleischexportweltmeisterland Brasilien aufgezeigt.

Der Skandal brach aus, als die brasilianische Bundespolizei die wichtigsten Fleischhersteller des Landes – darunter die Marktführer JBS und BRF – bei dem Versuch entdeckte, verdorbenes Rind- und Hühnerfleisch zu exportieren. Dazu manipulierten sie das Verfallsdatum und verbargen den Fäulnisgeruch mit Chemikalien. „Dieses Thema wird extrem sensibel für die europäischen Verbraucher:innen werden”, so die Autoren.

Ebenso Vorsicht geboten sei angesichts des Einsatzes des in Brasilien erlaubten, aber in der EU verbotenen Hormons Ractopamin in der Schweinezucht, mit dessen Hilfe die Muskelmasse der Tiere erhöht wird. Und auch bei gentechnisch veränderten Organismen, deren Zulassung in der EU nicht einheitlich ist. „All diese Probleme”, so Ghiotto und Echaide, „haben bedeutende Auswirkungen darauf, was die Verbraucher in den Supermarktregalen vorfinden”.

Der Bericht ist zudem voller Beispiele für die Irrationalität des internationalen Handels, so bei Nahrungsmitteln, die oft noch wenige Kilometer von Hergestellungsort komsumiert werden, künftig  aber über „10 000 Kilometer, zum Beispiel von Rom nach Montevideo, transportiert werden sollen”.

Staatliches Beschaffungswesen

Ein weiterer Aspekt sind die öffentlichen Aufträge, da das Abkommen den Staaten erlauben soll, zu gleichen Bedingungen wie mit den Firmen vor Ort Verträge mit europäischen Unternehmen zu schließen. Diese Öffnung soll laut Echaide auf allen Ebenen erfolgen, also ebenso auf der nationalstaatlichen (Ministerien, Agenturen und Universitäten) wie auf nachgeordneten (Provinzen und Kommunen): „Zu Betroffenen könnten sogar Cafés staatlicher Universitäten werden, die normalerweise von Kleinunternehmen oder Kooperativen betrieben werden. Sie würden sich dann eventuell dem Wettbewerb mit transnationalen Firmen wie Segafredo stellen müssen“ – einer Gastronomiekette, die weltweit an Flughäfen und in Einkaufszentren aktiv ist.

„Ich sehe ein großes Ungleichgewicht. Und ich glaube, die aktuelle Regierung, deren Teil ich bin, sieht dieses Abkommen nicht positiv ,” sagte Squeff während der Buchpräsentation. Sie erinnerte daran, dass die Parlamente ihm zustimmen müssen („wobei wir unsere Position klar machen können“) und erwähnte auch, dass das argentinische Außenministerium bereits Gespräche mit betroffenen Unternehmensverbänden führe.

Ein Vampirvertrag

Gerhard Dilger vom Cono-Sur-Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung sagte zu Beginn der  Veranstaltung, die mit dem Hashtag #TratadoVampiro beworben wurde: „Warum Vampirvertrag? Ja, die transnationalen Unternehmen versuchen den Süden auszusaugen, aber diese Vereinbarungen werden auch im Dunkeln der Nacht, unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgearbeitet”.  Und: „Solche Abkommen können sterben, wenn die Zivilgesellschaft mit Studien wie dieser hier Transparenz herstellt, sie dem Tageslicht aussetzt.”

Übersetzung: Katrin Zinsmeister

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/latinorama/argentinien-wuerde-verlieren/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert