26.April 2016
Re: Deine Reise nach Venezuela
Liebe Hildegard,
Warte, ich mache mal so eine Art Liste, was Du für Dich brauchst:
- Toilettenpapier (ich hab zwar etwas hier, aber bring Dir zwei Rollen mit, für unterwegs).
- Medikamente, die man sonst auf Reisen mitnimmt (gegen Durchfall, Fieber, etc.). Keine Aspirin, sondern Atamel oder Acetaminofén (wegen dem Dengue).
- Shampoo.
- Wenn Du gerne Milch trinkst, nimm Milchpulver mit. Ich habe schon seit Wochen keine Milch in den Läden gefunden, und so auch andere Leute, die viel öfters zum Laden gehen wie ich.
- Zucker, wenn Du Kaffee oder Tee mit Zucker nimmst. Obwohl, es gibt Papelón (Zuckerrohr), ich habs nur nie gekauft.
- Eine Taschenlampe mit Batterien, auch für unterwegs, da seit diesem Montag in den meisten Gegenden (außer Caracas, Vargas und Nueva Esparta) jeden Tag 4 Stunden der Strom abgeschaltet wird. Also, in Puerto Ordaz und Barquisimeto werden wir das bestimmt brauchen. Ich hab nur eine.
Ich glaube, das ist das Wichtigste. Frag mich, vielleicht hab ich was vergessen.
Viele Grüsse, bis bald,
Deine Gabi
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Venezuela war immer ein Land des Schlange-Stehens. Nur dass jetzt, wo ich nach 10 Jahren wieder nach Venezuela zurückkehre, die „Cola“, die „Schlange“, einen ganz anderen Sinn bekommen hat: man steht nicht mehr mit seinem neuen Auto im Stau auf einer der Stadtautobahnen von Caracas, sondern man steht stundenlang in einer Schlange, um eines der begehrten Lebensmittel zum regulierten Preis zu bekommen.
Die Menschenschlangen und die leeren Shopping-Malls sind die ersten Anzeichen dafür, dass irgendetwas gewaltig schief läuft in Venezuela. Die Venezolaner lieben sonst ihre Einkaufszentren, wo sie sich, ganz nach US-amerikanischem Vorbild, konsumierend vergnügen. Vergnügten. Das Einkaufszentrum von Chacaito mitten in Caracas ist um 5 Uhr nachmittags schon wie ausgestorben: die meisten Läden sind geschlossen. Um 7 Uhr schliessen sie sowieso. Um Energie zu sparen. Aber nicht nur. Nach 7 Uhr geht in Caracas niemand auf die Strasse aus Angst, einem „malandro“, einem Banditen, in die Hände zu fallen. Caracas ist die Stadt, in der weltweit am meisten Menschen ermordet werden.
Nur auf der Autobahn scheint Caracas ganz die Alte. Die neuen Autos, die breiten Stadtautobahnen, die gewaltigen Hochhäuser machen immer noch Eindruck, zumal für jemanden, der, wie ich, in Peru lebt. Aber die leeren Läden und Restaurants sehen mehr nach einem Land im Kriegszustand aus. Hinter seinen Autos und Hochäusern, tut sich in Venezuela ein Abgrund auf. Die Menschen erscheinen erst, wie aus dem Nichts, auf der Strasse, sobald das Gerücht umgeht, dass ein Sack Milchpulver, Maismehl oder Shampoo in einem Laden eingetroffen ist.
Und dabei habe ich das Schlimmste noch gar nicht gesehen. Noch bewege ich mich in der venezolanischen Mittelschicht. Auch wenn sich dort die Jungen nur mehr auf die Auswanderung vorbereiten, und wenn man auch dort Stunden damit verbringt, Windeln, Brot, Kaffee oder Seife zu er-stehen– so bekommt man es doch. Noch habe ich den Hunger nicht gesehen. Noch bin ich nicht in Puerto Ordaz und Barquisimeto gewesen.
Preisliste Venezuela
1 Liter Benzin: 6 Bolívares
1 Liter Milch: 600 Bolívares
1 gefüllte Arepa und ein grosser Kaffee (Standardfrühstück in Venezuela): 1600 Bolívares
1 einstündiger Inlandsflug von Caracas nach Puerto Ordaz: 5000 Bolívares
1 Mindestlohn: 15 000 Bolívares
Inflationsrate: 720% auf Ende 2016 (laut IWF, die venezolanische Zentralbank veröffentlicht keine Inflationsraten mehr)
Wechselkurs auf dem Schwarzmarkt: 1 US-Dollar = 1000 Bolívares
Wenn man Erdöl essen könnte, wäre Venezuela keine Volkswirtschaft vor dem Ruin, sondern ein Paradies. Alle Regierungen versprachen „das Erdöl zu säen“, mit dem Erlös des Erdöls Landwirtschaft und Industrie aufzubauen. Die eine oder andere Regierung hat das halbwegs hingekriegt; die Regierungen von Hugo Chávez und Nicolás Maduro dürften als – gelinde gesagt – die unfähigsten in die Geschichte eingehen. Um das Scheitern in Augenschein zu nehmen, begebe ich mich an die Ufer das Orinoco, nach Puerto Ordaz, die Stadt, die das industrielle Herz Venezuelas werden sollte. Heute herrschen dort Gewalt, Angst und Hunger.
Puerto Ordaz: “Wir leben in einem Kriegszustand”
Damián Prat verliert seinen Humor nicht so schnell, auch nicht in der schlimmsten Krise, die sein Heimatland durchleidet. „Früher schauten wir ja gerne den hübschen Frauen nach, heute interessiert uns nur noch, was sie in ihrer Plastiktüte haben, und wo sie es bekommen haben“, scherzt der Journalist mit dem weisshaarigen Schnauzbart aus Puerto Ordaz. Wir sind gut 680 Km südlich von Caracas, am Zusammenfluss der Flüsse Orinoco und Caroní. Die Krise betrifft ganz Venezuela, aber die Implosion des einst reichen Erdöllandes erscheint in Puerto Ordaz besonders tragisch. Die Stadt wurde vor 60 Jahren auf dem Reissbrett erschaffen, um hier die Schwerindustrie anzusiedeln, die aus dem Erdölerlös bleibenden Wohlstand machen sollte. „ Hier gab es alles, was es dazu brauchte“, sagt Damian Prat, der seit 1976 de Auf und Niedergang der sogenannte Aluminium- und Eisenverhüttung in Puerto Ordaz aufmerksam beobachtet. „Es gab Bauxit- und Eisenvorkommen, einen Fluss mit genügend Gefälle zur Stromerzeugung, und einen Fluss, der als Wasserstrasse bis an den Atlantik führt“.
“Zu seinen besten Zeiten produzierte Puerto Ordaz 25% der Exporterlöse, heute sind es gerade noch 5%”. Die Hüttenwerke in Puerto Ordaz stehen still. Es gibt nicht genügend Strom, obwohl nur 80 Kilometer entfernt der Guri-Stausee 70% des venezolanischen Stromverbrauchs lieferte. „ In den letzten Jahren hat die Regierung den Guri überbeansprucht, das war billiger als in alternative Ölkraftwerke für Notzeiten zu investieren. Nun haben wir ein Dürrejahr, der Guri hat nicht genügend Wasser und wir nicht genügend Strom“, erzählt Damian Prat. Das Ergebnis: wie in allen Städten Venezuelas, ausser Caracas, wird auch in Puerto Ordaz 4 Stunden am Tag der Strom abgestellt. Die Stadt mit ihren Hochhäusern, breiten Stadtautobahnen und heruntergekühlten Einkaufszentren wird dann zur Hölle für die Bewohner, die dann nur noch in ihren Hochhäusern ohne Internet und Fernsehen vor sich hin schwitzen können.
Die Air Condition ist das geringste Problem für Pfarrer Carlos Ruiz de Cascos im benachbarten San Félix. Wohnen in Puerto Ordaz die Manager und Ingenieure des Aluminiumwerkes, so haben sich in San Félix auf der anderen Seite des Flusses Menschen aus dem ganzen Land niedergelassen, die zu ihren besten Zeiten einen Job als Fahrer, Maurer, Putzhilfen oder Köche in Puerto Ordaz fanden. Heute leiden sie Hunger oder sind kriminell geworden.
Zwei Jugendliche klopfen an die Tür des Pfarrhauses. Pfarrer Carlos gibt jedem von ihnen eine Scheibe Toastbrot. „ Gut 20 mal pro Tag klopfen hier Leute an und bitten um Essen“, sagt der Priester, der aus dem spanischen Burgos kommt und seit 13 Jahren in San Félix Pfarrer ist. „Ich habe 10 Jahre lang als Priester in Spanien gearbeitet und hatte nie mit einem Mord zu tun. Seit 13 Jahren bin ich in San Félix und habe an die Tausend Ermordete beigesetzt“. Das grösste Risiko, ermordet zu werden, haben dunkelhäutige Männer zwischen 15 und 30 Jahren. Sie fallen entweder Bandenkriegen oder einer Razzia der Polizei zum Opfer.
Bis vor wenigen Jahren war San Félix eine Bastion der Chavisten, die Partei, die sich nach dem 2013 verstorbenen Hugo Chávez nannte, der eine sozialistisch-bolivarianische Revolution zugunsten der Armen anführte. Der jetzige Präsident Nicoás Maduro war sein Vizepräsident und Dauphin. „Heute wollen die Leute Maduro loswerden“, sagt Pfarrer Ruiz de Cascos. Jedoch würden die Parteien der Opposition, die seit Dezember 2015 im Parlament die Mehrheit haben, keine grosse Begeisterung hervorrufen, sie würden zu sehr mit der alten Oligarchie assoziiert. Auch wenn sie nicht mehr für die Chavisten stimmen – die Menschen haben Angst, dass ihnen das wenige genommen wird, was ihnen die Revolution gab. Ein Häuschen, ein Auto oder auch nur einen Beutel mit Lebensmitteln.
Es bleibt die Angst. Im Pfarreizentrum lernen ein paar Jugendliche, wie man Haare schneidet, in der Hoffnung, damit später etwas Geld zu verdienen. Wieviele von ihnen schon einen Mordfall in der Familie hatten ? Zaghaft gehen die Finger hoch. Und wie sie denn die aktuelle Krise beurteilen würden ? Stille, Seufzen, dann sagt Marly Adrian, Mutter von drei kleinenKindern: „Es ist alles so kompliziert“.
In seinen stundenlangen Ansprachen, die alle Radio- und TV-Sender übertragen müssen, erklärt Nicolás Maduro, dass eine Verschwörung von Imperialismus und einheimischen Unternehmern das revolutionäre Regime mit einem Wirtschaftskrieg in die Knie zwingen will. Die Oppositionsparteien dagegen bezichtigen die Chavisten der Unfähigkeit, der Korruption, der Diktatur. Den Bewohnern von San Félix bleibt nur die Angst: Angst vor der Repression der Regierung; Angst vor den Jugendbanden im Viertel; Angst, am nächsten Tag nicht genügend Essen für die Familie zu ergattern. „Hier im Viertel hat praktisch jede Familie ein Mitglied durch Mord verloren“, erzählt später der Pfarrer. 95% der Morde würden nie aufgedeckt und verurteilt, sagt er. Deswegen hat er in seiner Kirche ein Solidaritätsvikariat ins Leben gerufen – der Anspruch ist bescheiden:„Erst mal sollen die Menschen zumindest merken, dass es nicht normal ist, was sie erleben“. Dass es nicht normal ist, in einem permanenten Kriegszustand zu leben, obwohl der Krieg nie erklärt wurde.
Wehe dem, der krank wird in Venezuela
Dialog in einer Apothek in Puerto Ordaz
Haben Sie Aspirin ? – Nein, nur Cardiopirin
Paracetamol ? —- Nein, meine Liebe
Metaclopramido ? – Nur als Ampulle, zum Spritzen
Insulin – Nein….. Irgendein Insulin, warte mal
Etwas gegen Bluthochdruck ? – Neeein , tut mir leid
Die venezolanischen Apotheker füllen ihre Regale mit Coca Cola und Chips und hausgemachten Hustensäften. Mehr haben sie nicht im Angebot. Gnade Gott dem, der dieser Tage in Venezuela krank wird.
Dabei sind die venezolanischen Krankenhäuser besser bewacht als die Flughäfen des Landes. Auch in der staatlichen Spezialklinik für Geburten und Fraunkrankheiten „Maternidad Concepción Palacios“ in Caracas stehen drei Männer in olivgrünen Anzügen – sogenannte Milizen – und bewachen den Eingang des mehrstöckigen Baus. Unter dem Vorwand, für eine wissenschaftliche Untersuchung die neuesten Zahlen zum Zika-Virus in Venezuela zu erforschen, gelingt es uns, die Wachen zu überzeugen. Sehr freundlich geleitet uns ein Milizionär zu einem rund 10 Quadratmeter grossen Raum hinter einer mit einem Vorhang verhängten Glasscheibe. Dort sitzt eine unscheinbare ältere Dame mit graumeliertem Haar und filigraner Brille vor einem Bildschirm. Es ist Dr Gladys Zambrano, die zuständige Epidemiologin des Krankenhauses. Sehr freundlich erklärt sie uns, wie es um das Zika-Virus in Venezuela bestellt ist. Kurz gesagt: man weiss nicht viel, weil es kaum Mittel zur Feststellung des Virus gibt. Dabei sind die weiteren Statistiken, die die Ärztin bereitwillig bekannt gibt, weitaus alarmierender. Zwischen Januar und März 2016 ist die Kindersterblichkeit im Krankenhaus um 69% angestiegen, im Vergleich zum Vorjahr. Kurven, die an die jäh ansteigenden peruanischen Anden erinnern, zeigen die Zunahme der Infektionskrankheiten Dengue, Malaria und Chingunkunya.
Auf einmal bricht aus der Ärztin all die Wut und Frustration heraus: “Dieses Krankenhaus sollte eigentlich zugemacht werden”, sagt sie, die sonst eher zu den Stillen im Lande zu gehören scheint.
„30% der OP- und Kreisssäle funktionieren nicht. Wir haben kein Desinfektionsmaterial für die Böden. Kein Essen für die Patienten. Nicht mal Plastiksäcke für die Plazentas. Die müssen wir in Kartons wegwerfen”. Gladis Zambrano hört gar nicht mehr auf in ihrer Katarsis. Ob wir ihren Namen veröffentlichen dürfen, frage ich sie. „Ich bin schon 60 Jahre alt, und verdiene umgerechnet 30 Dollar. Sollen sie mich doch rausschmeissen, schlimmer kann es nicht mehr werden“.
Wir wollen uns mit eigenen Augen vom Zustand der Kreisssäle überzeugen. Wir werden in den Keller geschickt, wo der einzig funktionierende Kreisssaal sein soll. Wir wollen gerade in einen langen leeren Gang einbiegen, als eine schneidende Stimme aus dem Nichts ertönt: „Wohin wollt Ihr ?“
Die Stimme kommt aus einem kleinen Kabuff, das einem Chavez-Heilgtum gleicht: An den Wänden hängen Poster von Hugo Chávez mit roter Fliegerkappe, Hugo Chávez mit Baseball-Mütze, Hugo Chávez als Silhouette hinter einem Psalm-Text, Hugo Chávez mit Nicolás Maduro, und Nicolás Maduro mit Hugo Chávez. Auf einem Schreibtisch döst eine dicke Katze, dahinter erhebt sich die Eigentümerin der Stimme: Francisca León, ganze 1, 55 Meter gross, das graue Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie hat einen Sohn bei dem ersten Hungeraufstand, dem sog. Caracazo 1992 verloren, dafür von Chávez höchstpersönlich eine Medaille erhalten. Sie ist die Sprecherin der Arbeiter des Spitals.
Was sie denn arbeite ? – „Wachfrau“. „Ich will Ihnen nicht zunahe treten, aber mit ihren zierlichen 1, 55 Meter möchten Sie das Krankenhaus bewachen ?“ – „Da siehst Du mal“, Francisca León streckt sich auf 1, 56 Meter, „klein, aber oho“.
„Uns in Venezuela geht es gut“, ist ihre Rede. „Die Regierung sät bereits, wir werden bald ernten“. „Ob sie das auch den gebärenden Müttern sagt, die aber jetzt Hunger haben ?“- „Uns geht es gut“. In Ermangelung von Argumenten erhebt Francisca León ihre Stimme zum warnenden Ton. Sie wiederholt, was auch Präsident Nicolás Maduro nicht müde wird, zu verkünden: dass eine Verschwörung des Imperialismus mit den venezolanischen Unternehmern einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung führe, indem sie ihre Lebenmittel zurückhielten.
Barquisimeto
Das Debakel der venezolanischen Wirtschaft begann nicht erst mit dem Fall des Erdölpreises Anfang 2014. Es begann mit der Einführung der Devisenkontrolle vor 13 Jahren. Während der Jahre der hohen Erdöleinnahmen profitierten viele vom künstlich tiefgehaltenen Dollar: Unternehmen, die billiger im Ausland einkauften; Bürger, die für ihre Auslandsreisen billige Dollar erhielten, die sie nach ihrer Rückkehr teuer auf dem Schwarzmarkt verhökerten. Bis die Petro-Dollars ausblieben, und der Staat keine Lieferanten mehr bezahlte. Zig Lieferanten im Ausland blieben auf ihren offenen Rechnungen sitzen und weigern sich bis heute, Venezuela mit neuer Ware zu beliefern. Zudem vernachlässigte der Staat den Landwirtschaftssektor, es war billiger Lebensmittel einzuführen als selber anzubauen.
Das Ergebnis kann man auf der Strecke von Caracas ins 350 Kilometer entfernte Barquisimeto besichtigen : rechts der Autobahn wuchs dort einst das Zuckerrohr für den berühmten venezolanischen Santa Teresa-Rum. Heute stehen dort staatlich gebaute Treibhäuser – leer. Dort ist noch nie eine Tomate oder ein Salatkopf geerntet worden. Venezuelas Versorgungsproblem ist nicht einfach Spekulation oder Korruption: in Venezuela werden einfach zu wenig Lebensmittel selber angebaut. Viele Bauernhöfe und Güter wurden zudem enteignet oder gaben auf, nachdem paramilitärische Banden Druck auf die Grundbesitzer ausübten. Einmal verstaatlicht, kümmerte sich der Staat sehr wenig darum, dass die neuen Genossenschaften gut wirtschaften Heute steht die venezolanische Regierung vor einem katastrophalen Versorgungsproblem. Dies zuzugeben wäre ein Eingeständnis des Scheiterns. Deswegen lässt die Regierung auch bis heute keine ausländische Lebensmittelhilfe ins Land.
Krank in Barquisimeto
Die Krankenpfleger und Ärzte haben als erste in Venezuela ihre Angst verloren. „ Letzte Woche bekamen wir drei Kinder mit Vergiftungen rein. Sie hatten Reis gegessen, der wegen seiner Vermischung mit Rattenkot und anderen Verunreinigungen nur Tieren zu essen gegeben wird. Der fünjährige Bub hat es nicht überlebt“, bricht es aus der Kinderkrankenschwester Yarisma Molero entrüstet hervor.
Jesús Guarecuco hat Medizin studiert, um Leben zu retten. Das kann er immer weniger. „Letzte Woche kam ein junger Mann mit einer Schussverletzung“, erählt der 29 Jährige Assistenzart der Chirurgie am staatlichen Krankenhaus von Barquisimeto, der viertgrössten Stadt Venezuelas. „Ich hatte nichts, um ihn zu operieren, und er verstarb“. In der Notaufnahme des Krankenhauses sind die Liegen zum Teil blutverschmiert; Matratzen liegen schon lange keine mehr drauf. Vor der Tür des Röntgenraumes hängt ein Vorhängeschloss. „Der Apparat ist schon lange kaputt“. Der andere funktioniert nicht, weil die Lösungsmittel zur Entwicklung der Röntgenbilder fehlen. Der einzige Ultraschall des Krankenhauses macht fehlerhafte Bilder, erkennt nur die weichen Gewebeteile. Eine Krankenschwester in der Ultraschall-Praxis legt Papiertücher zusammen, mit denen sich die Patienten nach der Untersuchung das Gel abwischen. „Das Papier haben die Patienten mitgebracht“, sagt sie ernüchtert. Auch, dass sie Chavista sei, sagt sie. Es klingt nicht nach Bekenntnis, sondern wehmütig nach einer längst vergangenen Hoffnung. “Wir operieren nur mit klinischer Diagnose, ohne bildgebende Diagnostik“, bestätigt Dr. Guarecuco.
Einige der Apparate sind schon seit Jahren funktionsuntüchtig. Weil der Lieferant gewechselt wurde, oder auch weil sich ein Staatsangestellter ungebührlich bereichert hat. Oder weil die Regierung Chávez systematisch ein paralleles Gesundheitssystem mit den sog. „Misiones“ aufgebaut hatte: Polykliniken in den Armenvierteln, in denen kubanische Ärzte arbeiteten. Die bezahlte Venezuela mit Rohöllieferungen an den kubanischen Staat. Nun sind die kubanischen Ärzte weg, und die Polikliniken in den Barrios, sind, so Augenzeugen, in einem ähnlich desolaten Zustand.
Auch im Krankenhaus von Barquisimeto gelangen wir in den Keller. Dort arbeitet José Pérez seit 20 Jahren in der Küche. Ein rundlicher, gemütvoller Mann, der mit seiner Kelle in einem grossen Aluminiumtopf rührt. “Chinesische Bohnen” kommentiert er bedauernd, denn es sind sehr kleine, harte Bohnen. Die einzigen, die er auftreiben konnte. Die grossen schwarzen Bohnen, „caraotas negras“, das Nationalgericht der Venezolaner, hat er schon lange nicht mehr in seinem Topf gehabt. Auf einem Blech warten Maismehl-Knödel darauf gekocht zu werden.
900 Mahlzeiten zaubert er hier täglich, „aber das erste Mal in meinen 48 Jahren, dass ich hier Hunger sehe“. Seine Küche ist ein dunkles Loch, die Wände voller Russ, die Farbe längst abgeblättert. Gleich daneben ein heruntergelassenes Gitter. Dahinter sieht man nagelneue rostfreie elektrische Kochtöpfe für Grossküchen. Seit 8 Jahren ist die neue Küche fertig, sagt Dr Guarecuco. In Betrieb genommen wurde sie nie. Vermutlich wegen der politischen Rivalität zwischen dem Gouverneur von Barquisimeto und der Zentralregierung. Der Gouverneur, einst als Chavista angetreten, sei inzwischen zur Opposition gewechselt, und eine Neueinweihung wollte die Regierung dem politischen Gegner nicht zugestehen.
Heute kann man in Venezuela nur darum beten, nicht krank zu werden. Gladys Corderos Gebet wurde nicht erhört. Die 61 jährige Krankenschwester wurde zwei Tage zuvor wegen eines Darmtumors operiert. Nun wartet sich auf die Ergebnisse der Biopsie. Hoffentlich nur Strahlentherapie. Denn Chemotherapie ist schwierig zu beschaffen und teuer. Für ihre Operation musste sie alles mitbringen. Und alles bedeutet ALLES: Handschuhe für die Chirurgen, Fäden, Verbandsstoff, Tupfer, Anästhesie. „Ich weiss nicht, wie meine Familie die 300 Dollar dafür aufbrachte“, sagt sie mit leiser Stimme. Als ich mich schon verabschiedet habe, ruft sie mich nochmal zurück: „Schreiben Sie, dass das Essen hier schlecht ist, total ungeeignet für einen Kranken. Die Maismehl-Knödel sind hart wie Stein“.
Am Abend spricht Präsident Maduro in einer seiner landesweit ausgestrahlten Ansprachen. Alle Fernseh- und Radiosender müssen gleischalten, wenn der Präsident spricht. Der Bildschirm ist geteilt. Auf der linken Seite ein hemdsärmeliger Nicolas Maduro in jovial-revolutionärer Pose, auf der linken Seite frenetisch klatschende Menschen in weissen Anzügen, Ärzte und Pflegepersonal. Die Gesundheitsministerin verkündet, dass sie ein neues Gesundheitskonzept einführen würden , eines, das die Gesundheit ganzheitlich betrachte und viel mehr auf Naturheilmittel setze, um von den multinationalen Pharmaunternehmen unabhängig zu werden.
Der Hunger
Vor 30 Jahren sah ich zum ersten Mal ein Kleinkind mit Hungerbauch. Es war in Venezuela, ich war damals eine 18-jährige Freiwillige in einer Gemeinde eines Armenviertels in Barquisimeto. Es waren die 80-er Jahre, es gab eine recht breite Mittelschicht mit AirCondition in allen Zimmern, mindestens zwei Autos und halbjährlichen Shopping-Trips in die Einkaufszentren von Miami. Es war aber auch das Venezuela der „barrios“, wie die Armenviertel heissen, mit Menschen, die vom Erdölreichtum nur Brosamen abbekamen, die sich ihr täglich Brot jeden Tag neu suchen mussten. Wenn die Armut in Venzuela auch nicht die schlimmste auf dem südamerikanischen Kontinent war, so war sie doch die unverblümteste, die schamloseste, denn sie existierte direkt neben den Hochhäusern und Einkaufszentren der Mittel- und Oberschicht. Es wurde nicht einmal versucht, den Anschein zu vermitteln, als ob die Armen wichtig wären – bis der Fallschirmjäger Hugo Chavez kam und die Armen Venezuelas zum Volkssouverän und zu seinen treuesten Anhängern machte. Einige sind es bis heute, obwohl das Scheitern des Chavismus offensichtlich ist.
Nelly Herrera hat sich von Chávez nie täuschen lassen. Vor 30 Jahren war sie eine der Säulen der Pfarrei: vormittags arbeitete sie als Haushaltshilfe am anderen Ende der Stadt, um ihre drei Kinder alleine durchzubringen. Nachmittags war sie in der Pfarrei unterwegs, kümmerte sich um Jugendliche, Kinder und um noch Ärmere.
30 Jahre später ist die Wiedersehensfreude gross: Nelly Herrera ist auch mit 71 Jahren fast die gleiche geblieben mit ihren schulterlangen, pechschwarzen Haaren. Nur die Schultern sind ein wenig eingefallener, das Lachen ist das gleiche. Und sie engagiert sich weiterhin für andere, sie ist zuständig für die Altkleiderkammer der Pfarrei. „Aber die Leute bringen keine Altkleider mehr“, sagt sie, „Lebensmittel zum Verteilen schon sowieso nicht“. Nelly Herrera hat vor 12 Jahren bereits ein Abwahlreferendum gegen Hugo Chávez unterschrieben. Deswegen, so ist sie überzeugt, wird ihr Rentenantrag bis heute nicht bearbeitet. Dennoch hat sie auch das diesjährige Abwahlreferendum gegen Nicolás Maduro wieder unterschrieben.
Ähnlich wie im Krankenhaus, sind die Menschen aus der Pfarrei im Cercado von Barquisimeto nur zu bereit, von ihrem Alltag zu berichten: vom stundenlangen Schlange-Stehen, um einen Liter Milch, ein Shampoo oder ein Paket Maismehl zu erstehen. Von der Enttäuschung, wenn man nach Stunden an die Reihe kommt, und es nichts mehr gibt. Sie erzählen von den “bachaqueros”, von der neuen Zunft der Schwarzhändler, die ihren Platz in der Schlange mit vorgehaltener Pistole einfordern. Von der Scham, mit anzusehen zu müssen, wie die Not einen selber verrohen lässt. “ Erst letzte Woche fiel ein alter Mann in der Schlange um, niemand, auch ich nicht, half ihm, aus Angst, den Platz in der Schlange zu verlieren”. Eine Dorfschullehrerin berichtete, dass mehrere Schüler nicht mehr in den Unterricht kommen, weil sie nichts zu essen hätten.
Angst und Anarchie
Das deutlichste Zeichen: die Angst der Menschen vor Repressalien, wenn sie ihre politische Meinung laut sagen. Diosdado Cabello, nach Maduro der zweite starke Mann des Chavismus, hat bereits angekündigt, dass Bürger, die das Abwahlreferendum befürworten, keinen Platz im Staat haben werden. Lehrer fürchten nun um ihre Jobs, diejenigen, die ein Häuschen bekamen, dass ihnen die Eintragung ins Grundbuchamt verwehrt wird. Oder einfach nur, dass sie bei der angekündigten Verteilung der Lebensmitteltüten leer ausgehen. Das Misstrauen und die Gräben innerhalb der venezolanischen Gesellschaft snd tief.
Die Regierung von Maduro hat kaum noch Unterstützung. Die Chavistas sind gescheitert, und können nur noch mit Repression regieren. Erstaunlicherweise höre ich jedoch wenig Begeisterung für eine der Oppositionsparteien, die seit letzten Dezember im Parlament die Mehrheit stellen. Sie hatten damals versprochen, dass nun alles besser würde. Tatsache ist, dass seitdem für die Venezolaner alles noch schlechter geworden ist. Vielen Menschen erscheinen die verbalen Schlagabtausche im Parlament als ein Spiel der Mächtigen, die von der dramatischen Notlage des Volkes nichts mitbekommen.
Trotz der Angst vor, auch gewaltsamer, Repression und dem ermüdenden Alltag,der neben der Jagd auf Lebensmittel, kaum noch Freiraum lässt, kommt es vermehrt zu sozialen Unruhen. Nicht so sehr wegen der Protestmärsche der Opposition, sondern aus schierer Verzweiflung. Jeden Tag werden Supermärkte und Lebensmittelausgabestellen geplündert, die Nationalgarde rückt an und schlägt die Hungeraufstände mit Gewalt nieder.
Hugo Chávez und Nicolás Maduro wurden von ihren politischen Gegnern vorschnell Diktatoren geheissen, als sie noch jede Wahl an der Urne haushoch für sich entschieden. Heute jedoch habe ich keinen Zweifel daran, dass die Regierung von Nicolas Maduro zu einer Diktatur geworden ist. Oder zu noch etwas Schlimmerem: “In einer Dktatur hätten wir wenigstens Ordnung”, sagt der Menschenrechtsanwalt Manuel Virguez .“Was wir hier haben ist ein Anarcho-Militarismus”. Seine Menschenrechtsbewegung nennt er “vinotinto” – “Rotwein”, nach der Farbe der venezolanischen Fussballnationalmannschaft, “die einzige, die alle um ein Thema vereint”.
Öfter höre ich in Venezuela Anspielungen auf Peru. Hoffnungsvolle Anspielungen. Peru durchlebte Ende der 80-er Jahre ein ähnliches Desaster mit Hyperinflation, Terrorismus und Cholera-Epidemie. Heute gilt das Andenland als Vorzeigeland Südamerikas mit einer stabilen Demokratie, angesichts der Rohstoffbaisse immer noch ansprechenden Wirtschaftszahlen und einer boomenden Gastronomie. „Wenn Peru es geschafft hat, können wir es auch schaffen“, sagt ein Freund. Ich will ihm die Hoffnung nicht vergällen und darauf hinweisen, dass zwischen dem Peru der 80-er Jahre und dem Boom im neuen Jahrtausend, 10 Jahre einer autoritären und überaus korrupten Regierung lagen. Es wäre auch keine Abschreckung. Im Vergleich zu dem, was Venezuela heute erlebt, klingen 10 Jahre autoritäre Fujimori-Regierung fast nach Paradies.
Hildegard Willer
*Matar tigres – Tiger fangen sagt man in Venezuela, wenn man sich mit allen möglichen Jobs irgendwie durchschlägt, um zu überleben. Als freie Journalistin war ich sozusagen auch als Tigerfängerin in Venezuela unterwegs.
** Die Reportage entstand Ende Mai. Damals glaubte ich, es könne in Venezuela nicht mehr schlimmer kommen. Falsch gedacht. Es wird jeden Tag schlimmer. Hunger-Aufstände nehmen zu. Menschen hungern oder sterben, weil behandelbare Krankheiten nicht behandelt werden. Bewaffnete Gewalt – staatliche wie private – allenthalben. Ein schneller Ausweg ist nicht in Sicht. Wer kann, verlässt das Land. Gestern begann die Validierung der Stimmen für das Referendum. Eine Schlange mehr für die Venezolaner, um ihre Stimme unter dem Abwahlreferendum zu bestätigen. Nur mit viel Druck aus dem Ausland könnte es noch dieses Jahr zur Abhaltung des Referendums kommen.
Meinen Glückwunsch! Ich habe selten einen so guten und meiner Meinung nach sehr objektiven Bericht zur Situation des Landes gelesen. Das geht wohl auch nur als blog. Ich selbst bin 22 J in Vzla und sehe mit grösster Bestürzung, wie ein wunderschönes, einst absolut lebenswertes Land, sich in dieser Zeit in ein Desaster verwandelt hat bzw. verwandelt wurde (,denn nichts passiert ohne Grund) aus dem selbst die Einheimischen, die die geringste Chance dazu haben, so schnell wie möglich weg wollen.
Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Artikel soweit es geht in der dt. Community zur Kenntnis genommen wird.