Für Glenn Switkes
Wir Menschen vom Rio Xingu möchten, dass unsere Wälder stehenbleiben, wir wollen, dass unsere Fische und anderen Tiere leben. Wir wollen unsere Felder und unsere traditionellen Medikamente behalten. Wir brauchen einen sauberen Fluss, um darin baden zu können, und wir wollen Wasser trinken, ohne krank zu werden. Wir wollen in Frieden leben. Wir wollen glücklich auf unserem Land bleiben und auch künftig mit unseren Kindern und Enkeln feiern.
Sheyla Juruna, Altamira, 23. Mai 2008
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Wachstumswahn statt »Gutes Leben«, Autoritarismus und Vetternwirtschaft statt Partizipation, Privatisierung der Natur statt faire Nutzung der Gemeingüter – die Entscheidung der brasilianischen Regierung für den Bau des riesigen Wasserkraftwerks Belo Monte im Amazonasgebiet ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch dafür, wie auch in den progressiv regierten Ländern Südamerikas immer noch Ressourcenkonflikte gelöst werden.
Arg dünn ist das Argument von Präsidentin Dilma Rousseff, die am 1. Januar 2011 ihr Amt antrat, wonach das Megaprojekt für die »Entwicklung« Brasiliens und der Region des Amazonas-Nebenflusses Xingu erforderlich sei. Allein durch eine Modernisierung des maroden brasilianischen Transmissionsnetzes könnte ein Vielfaches jener Energie gewonnen werden, die Belo Monte ab 2015 produzieren soll.
Schlüssig wird die Aussage erst, wenn man sie in den Kontext der letzten Jahrzehnte stellt: Rousseff und ihr Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva knüpfen an die Entwicklungsvorstellungen der Generäle aus den 1970er-Jahren an, die »Menschen ohne Land« nach Amazonien lockten – angeblich ein »Land ohne Menschen«. In jenen Jahren wurde auch die Transamazônica gebaut, jene Lehmpiste, die heute die Xingu-Region mit Belém verbindet, der Hauptstadt des Bundesstaates Pará.
Aus jener Zeit stammen auch die ersten Planungen für den Staudammkomplex am Rio Xingu. Eine erste breite Widerstandsbewegung verhinderte Ende der 1980er-Jahre das Projekt: Die Weltbank hatte nach internationalen Protesten einen Millionenkredit zurückgezogen. Ausgerechnet Lula, jener Exgewerkschafter, der seinen Aufstieg an die Staatsspitze auch den sozialen Bewegungen zu verdanken hatte, belebte das Megaprojekt 2003 neu.
In einer Allianz mit dem einheimischen und internationalen Kapital sowie korrupten Regionaleliten setzte Lulas und Rousseffs Arbeiterpartei Belo Monte gegen die Betroffenen durch – und das trotz anderslautender Zusagen, wie Erwin Kräutler, Bischof von Altamira und Träger des Alternativen Nobelpreises, immer wieder beklagt. Dilma Rousseff geht dem Gespräch mit dem kritischen ökosozialen Flügel ihrer Basis konsequent aus dem Weg.
Nicht nur der volkswirtschaftliche, sondern auch der betriebswirtschaftliche Nutzen Belo Montes ist fragwürdig. Das Baukonsortium Norte Energia ist nur dank staatlicher Stromkonzerne und diverser staatlicher Rentenfonds lebensfähig. Finanziert werden die Aufträge zu 80 Prozent durch günstige Kredite der Entwicklungsbank BNDES, also mit dem Geld der brasilianischen Steuerzahler.
Dennoch dürfte ein Großteil des derart subventionierten Stroms privaten Stahl- und Aluminiumwerken zugutekommen, womit die Rolle Amazoniens als Rohstofflieferant für Europa, Nordamerika und Asien fortgeschrieben wird. Von Aufträgen profitieren brasilianische Baumultis, aber auch europäische Konzerne wie Andritz, Alstom, Voith/Siemens oder Mercedes Benz.
Im August 2011 reichte die Bundesstaatsanwaltschaft Belém eine weitere Klage gegen den Bau von Belo Monte ein – mit der bemerkenswerten Begründung, durch das Projekt würden nicht nur die Rechte der indigenen Völker, sondern auch jene der Natur verletzt. Erstmals wird somit in der brasilianischen Justiz mit den Naturrechten argumentiert, die in Ecuador im Jahr 2008 in der neuen Verfassung verankert wurden.
»Die Menschheit bewegt sich auf die Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt zu«, ist Staatsanwalt Felício Pontes überzeugt, »die Luft hört auf, res nullius zu sein. Sie wird res omnium«. Doch im Zweifelsfall entscheidet die brasilianische Justiz zugunsten der Mächtigen, ebenso wie sich die Umweltbehörde Ibama den Vorgaben der Präsidentin zu beugen hat. Die Abholzung des Regenwaldes beschleunigt sich schon jetzt. Pontes schätzt die gefährdete Fläche auf 5300 Quadratkilometer, zehnmal so viel wie die geplante Fläche des Stausees.
Über 100 Kilometer des Xingu werden über Monate hinweg nahezu austrocknen. Damit verlieren die dort lebenden Arara- und Juruna-Indígenas ihren Lebensraum. Belo Monte und die weiteren, zu Dutzenden in Amazonien geplanten Staudämme ebnen der weiteren Ausbeutung der unterschiedlichsten Ressourcen den Weg. Solche extraktivistischen Megaprojekte sind Ausdruck des überkommenen Wachstumsdenkens, dem die lateinamerikanische Linke noch immer mehrheitlich verpflichtet ist.
Pontes formuliert es so: »Diese räuberische Entwicklung steht dem Umweltschutz entgegen. Sie sieht die Umwelt nicht als Haus aller Lebewesen.« Der Befreiungstheologe Erwin Kräutler spricht in diesem Zusammenhang von »Mit-Welt«.
In seinen Alpträumen habe er bereits gesehen, was der Xingu-Region blühe, sagt Pontes: Kinder mit Wasserbäuchen in den Elendsvierteln Altamiras, »oberhalb des Staudamms gibt es keine Indigenen mehr. All die fantastische Artenvielfalt, die es noch gibt, mit Wasserfällen und Fischen, all das verschwindet. Es ist wie eine Wüste, eine danteske Vision«.
Wie Sheyla Juruna, Erwin Kräutler und weitere Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort, aber auch deren Verbündete auf der ganzen Welt, hat Pontes den Widerstand gegen das Ungetüm am Xingu noch nicht aufgegeben.
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Aus: Silke Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (pdf), transcript Verlag, Bielefeld 2012