Haushaltsdefizit, sinkende Devisenreserven, Prekarisierung der Arbeitsplätze, massive Ernteausfälle durch die Klimakatastrophe, Finanzierungsprobleme im Gesundheits- und Bildungssektor…
Boliviens Präsident Luis Arce Catacora hätte zum Jahresbeginn 2023 nach dem überstandenen Konflikt um den Termin der Volkszählung bereits genug Herausforderungen zu bewältigen gehabt. Vor allem in seinem ureigenen Kompetenzfeld der Wirtschaftspolitik.
Doch die permanenten Angriffe seines Parteichefs Evo Morales haben ihn und seine Berater wohl dazu bewogen, mit der Verhaftung des Gouverneurs des Tiefland-Departaments Santa Cruz am 28. Dezember die Flucht nach vorne anzutreten. Mit mäßigem Erfolg: Innerparteiliche Kritik hatte er damit nur wenige Tage zum Schweigen bringen können. Dafür gab es trotz des Termins am Jahresende zunächst eine heftige neue Protestwelle der Opposition. Und dies nicht nur in dem auf mehr Autonomie drängenden Wirtschaftszentrum Santa Cruz, sondern auch aus Kreisen, die dem rechtsgerichteten Luis Fernando Camacho durchaus kritisch gegenüber stehen. Die Zustimmungsraten für Präsident Arce Catacora in Meinungsumfragen sanken nach der Festnahme Camachos auf das in der bisherigen gut zweijährigen Regierungszeit niedrigste Niveau. Viele sehen nicht nur die persönliche Freiheit, sondern die Demokratie selbst in Gefahr.
So wie im Jahr 2019, als sich Evo Morales entgegen der bolivianischen Verfassung und mittels Manipulation der Ergebnisse erneut zum Präsidenten hatte wählen lassen wollen. Luis Fernando Camacho war damals als Sprecher des Bürgerkomitees von Santa Cruz einer der Wortführer der Bewegung, die Morales nach drei Wochen Protesten zum Rücktritt zwang und eine erneute Amtszeit verhinderte. Deswegen will die 2020 gewählte heutige Regierung, die von einem Putsch spricht, nach der Übergangspräsidentin Jeanine Añez nun auch Camacho mit Hilfe der Justiz dauerhaft aus dem Verkehr ziehen. Dabei befand der sich wegen schlechter Arbeit und fehlendem politischem Gespür bereits auf dem absteigendem Ast. Die Verhaftung hat ihm zu neuer Populariät verholfen. Ginge es nach den Strategen der Regierungspartei MAS, dann würden noch weitere Oppositionsführer im Gefängnis landen, die damals nach wochenlangen Auseinandersetzungen bei den Verhandlungen mit Morales MAS ein noch größeres Blutbad verhindert hatten.
Eine kinoreife Verhaftung
Politische Motive spielten keine Rolle. Es sei eine rein juristische Angelegenheit. Es gehe um die Durchsetzung von Recht und Gesetz, und um Gerechtigkeit für die Opfer der Auseinandersetzungen in Sacaba und Senkata im Jahr 2019, wiederholen Sprecher*innen der Regierung immer wieder. Die später zurückgenommene Drohung mit Strafverfahren, falls Camacho vom Regionalparlament als Gouverneur nicht sofort ersetzt werde, gar die Forderung nach Neuwahlen und die Androhung von Strafverfahren gegen Sprecher indigener Organisationen, falls sie gegen Camachos Verhaftung protestieren würden, sprechen eine andere Sprache.
Schon die Festnahme von Camacho glich eher einer Entführung aus einem Hollywood-Streifen: Ohne Präsenz der Justizbehörden, ohne gültigen Haftbefehl und mit einem Großaufgebot an schwer bewaffneten Vermummten wurde der Wagen Camachos in einer Straße von Santa Cruz gewaltsam gestoppt, seine Begleiter gefesselt, Leibwächter geschlagen. Der Gouverneur wurde unter vorgehaltener Waffe in einen Hubschrauber und wenig später in das für Schwerverbrecher vorgesehene Hochsicherheitsgefängnis Chonchocoro in die bolivianische Hochebene weit weg von seiner Basis gebracht.
45 Menschenrechsverletzungen innerhalb von drei Wochen
Bei den nachfolgenden dreiwöchigen Protesten dokumentierte das Observatorium für Menschenrechte des NRO-Netzwerks UNITAS 45 Menschenrechtsverletzungen, 58% davon durch die Polizei. 14 Mal wurde mit exzessiver Gewalt vorgegangen, Protestierende verletzt, etwa mit Gummigeschossen ins Auge getroffen. Oder Protestierende wurden nicht vor gewalttätigen Übergriffen durch von der REgierung mobilisierte Gegendemonstranten geschützt. Fünf mal wurden Journalisten bei der Berichterstattung direkt durch die Polizei angegriffen und zum Teil schwer verletzt.
Die Presse verschweige, beschwerte sich die Regierung, dass die Polizei gegen die Gewalt der Protestbewegung und die Zerstörung öffentlicher Einrichtungen hätte vorgehen müssen. Die Regierung unterschlägt dabei, dass auch Staatsorgane an Zerstörungen beteiligt waren (wie hier) und die Urheberschaft bei zahlreichen Gewaltakten nicht so eindeutig bei Oppositionellen liegt, wie es die Regierung gerne darstellt. Aus der Staatsanwaltschaft wurden bei der Gelegenheit auch Unterlagen zu Prozessen gegen die Drogenmafia entwendet.
Polizisten wurden dabei gefilmt, wie sie ihre eigenen Fahrzeuge unbrauchbar machten, ein Motorrad anzündeten oder die Straßenlampen beschossen, um bei all dem nicht gesehen zu werden. Die Aufnahme von Schüssen eines Polizisten von hinten auf einen fliehenden Demonstranten bezeichnete der Innenminister als manipuliert. Und ein Abgeordneter der MAS antwortete auf die Kritik an Gummigeschossen auf einen Journalisten mit der Frage, warum dieser denn einen Motorradhelm getragen habe.
Abgeordnete von Camachos Partei CREEMOS wandten sich mit ihren Anzeigen daher direkt an die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Die wartet immer noch auf eine Antwort der Regierung Arce zur Umsetzung der Empfehlungen in Bezug auf Entschädigung und Strafverfolgung im Fall der extralegalen Tötungen im Jahr 2009 im Hotel Las Américas und die anschließende bis zu zehn Jahre andauernde illegale Inhaftierung Unschuldiger im Auftrag der Morales-Regierung. Allein über Entschädigungen mag die Regierung verhandeln. Einer der Hauptakteure von damals, der gemäß CIDH-Auftrag eigentlich angeklagt werden müsste, hat auch heute unter Arce wieder eine zentrale Funktion bei der Verfolgung Oppositioneller in Santa Cruz. Und der damalige Befehlsgeber, Evo Morales, wurde von der Justiz nicht einmal zu einer Anhörung vorgeladen.
Die Regierungen instrumentalisieren die Justiz zur politischen Verfolgung
„Die politische Einmischung beeinträchtigte die bolivianische Justiz unter der Regierung von Präsident Evo Morales (2006 bis 2019) und der Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, ebenso wie unter Präsident Luis Arce, der das Amt im November 2020 antrat und daran gescheitert ist, eine Justizreform auf den Weg zu bringen“, heißt es im jüngsten Jahresbericht der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Der für Bolivien zuständige Regionaldirektor César Muñoz bezeichnete in einem Interview vom 15. Januar mit der Zeitung Página Siete die fehlende Unabhängigkeit der Justiz als chronisch. Die Untersuchungshaft gegen Luis Fernando Camacho sei exzessiv und besorgniserregend. Die Anklage des Terrorismus gegen ihn, Jeanine Añez und einige ihrer inhaftierten Minister sei unspezifisch und entspreche nicht den Tatsachen. Die Empfehlungen der Internationalen Expertengruppe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (GIEI) würden nicht umgesetzt. Die Angehörigen der Toten der politischen Konflikte von 2019 warteten auf beiden Seiten immer noch vergeblich auf Gerechtigkeit.
Zwar ist klar, dass es 2019 vor und nach dem Rücktritt von Evo Morales exzessive Gewalt gab. Doch es bleibt in der Mehrzahl der Fälle ungeklärt, woher die Kugeln damals kamen. Scharf geschossen wurde von beiden Seiten. Untersuchungsprotokolle aus dem Jahr 2020, die das belegen, sind aus den Prozessakten verschwunden. Gewiss hat sich Luis Fernando Camacho damals mit dem Vorschlag einer Honoratioren-Regierung und Verhandlungen seines Vaters mit Militärs jenseits der verfassungsmäßigen Ordnung befunden. Doch diese Pläne hatten damals ebenso wenig Erfolg, wie Versuche von Evo Morales, durch die Eskalation der Gewalt von der Straße und ebenfalls mit Hilfe des Militärs an die Macht zurückzukehren.
Die Protestbewegung gegen die Absetzung von Präsident Castillo in Peru wird von Evo Morales MAS aus Bolivien aktiv unterstützt
Während die bolivianische Regierung sich Kritik aus dem Ausland verbittet, schweigt sie zur Rolle kubanischer und venezolanischer Berater bei den Auseinandersetzungen im Lande und zur Unterstützung von Protestbewegungen durch die regierende MAS im Ausland. Auch wenn das Einreiseverbot gegen Evo Morales und acht seiner Berater wegen angeblicher Gefährdung der nationalen Sicherheit und eine entsprechende Untersuchung der Staatsanwaltschaft von Puno gegen den Ex-Präsidenten überzogen sein mögen: Die Protestbewegung gegen die Absetzung von Ex-Präsident Castillo wird aus Reihen der MAS in Bolivien aktiv unterstützt.
In Bolivien setzte die Regierung von Luis Arce auf eine Mischung von Repression und Ermüdung der Proteste gegen die Verhaftung Camachos und über 180 weiterer inhaftierter politischer Gegner. Tatsächlich wurde nach drei Wochen und einem ergebnislosen fast landesweiten Tag der Mobilisierung nun auch die Einstellung der wohl wirksamsten Maßnahme angekündigt: Eine Straßenblockade um Santa Cruz, die die Lebensmittelversorgung im Landesinnern verteuert, die Regierung bislang aber nicht zu Zugeständnissen bewegt hat. Die geht immer einen Schritt weiter zum Autoritarismus und setzt darauf, dass die Bevölkerung sich wieder um ihre Alltagssorgen kümmert und sich an den Demokratieabbau gewöhnt. Die Regierungsentscheidung, den Vertrag mit dem bolivianischen Büro des UN-Hochkomissariats für Menschenrechte nicht zu verlängern, komplettiert das Bild.
Wo die Linke schweigt, positioniert sich die Rechte
Zwar sind die Formulierungen der EU oder inzwischen auch der sozialistischen Internationale in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen durch die bolivianische Regierung immer noch schwammig. Immerhin äußern sie sich. Für Linke könnte es jedoch noch zu einem Problem werden, wenn klare Kritik vornehmlich aus dem rechten oder extrem rechten Lager kommt, wie von Victor González. Der Abgeordnete der spanischen VOX-Partei hatte Bolivien besucht und deutlich Stellung genommen. In Blick auf künftige Wahlen macht das die extreme Rechte in Bolivien wieder hoffähig. Wegen „Einmischung in innere Angelegenheiten“ wurde der als Tourist eingereiste VOX-Abgeordnete dann auch des Landes verwiesen. Ebenso wie ein kubanischer Dissident, zunächst weil er sich im Internet über die Regierung seines Heimatlandes geäußert hatte. Nach Kritik an der Entscheidung der Migrationsbehörden wurden dann Kommentare über Bolivien selbst als Begründung nachgeschoben. Dort hatte er auch nichts anderes geschrieben, als das, was internationale Gremien umfassend dokumentiert haben: Dass der Wahlprozess von 2019 von gravierenden Unregelmäßigkeiten geprägt war.
Nach lang anhaltender Sympathie für den „ersten indigenen Präsidenten Boliviens“ und Skepsis gegenüber einer auch von der aktuellen Regierung als rückwärtsgewandten, putschistisch und rassistisch etikettierten Opposition, werden Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Institutionen wie die interamerikanische Menschenrechtskommission inzwischen deutlicher. Auch, weil ihre Empfehlungen so häufig ignoriert oder auf die eigenen politischen Interessen reduziert werden.
“Die Interamerikanische Menschenrechtskommission“, heißt es in ihrer Presseerklärung vom 18. Januar, „verurteilt jede Art von Gewalt und betont ihre Ablehnung sowohl der angezeigten exzessiven Gewalt der Sicherheitskräfte, als auch der Gewaltakte, die durch organisierte Gruppen im Rahmen der Proteste der letzten Tage angewandt wurden.” Die bolivianische Regierung habe die CIDH über Gewalt gegen öffentliche Funktionsträger informiert, über Schäden an 44 Fahrzeugen und 27 Gebäuden, darunter Brandstiftung und der Versuch der Besetzung von Polizeistationen. Die CIDH ruft den bolivianischen Staat andererseits dazu auf, sowohl Menschen, die ihr Recht auf Protest wahrnehmen, als auch diejenigen zu schützen, die nicht an den Protesten teilnehmen. Die Angriffe auf die Presse finden besondere Erwähnung: „Die Medien und die Journalist*innen haben die Aufgabe, während der Organisation und der Durchführung der Proteste, soziale Kontrolle auszuüben und die öffentliche Debatte zu kanalisieren.“
In Bolivien mögen die Gerichte trotz bevorstehender Justizwahlen noch lange Zeit von der Regierung der MAS kontrolliert werden. Das funktioniert zum Beispiel dadurch, dass wie im Fall der Ex-Präsidentin Añez, Richter ernannt werden, gegen die selbst Strafverfahren eröffnet, dann aber auf Eis gelegt wurden. So wie Marco Antonio Amaru, gegen den sieben Anzeigen wegen Korruption vorliegen, und der noch im vergangenen Jahr inhaftiert worden war, nachdem er einen Vergewaltiger, der zuvor sein Mandant war, gegen geltendes Recht freigelassen hatte. (siehe auch diesen früheren Beitrag auf latinorama)
Amaru selbst wurde später in den Hausarrest entlassen mit der Möglichkeit, seiner Arbeit nachzugehen. Luis Fernando Camacho dagegen wird die Möglichkeit des Hausarrests während des Prozesses verweigert.
Doch wegen des Versagens der bolivianischen Justiz kommen auf internationaler Ebene Verfahren in Gang, die manche Funktionsträger*innen inzwischen zögern lassen.
Zwischen internationaler Solidarität und innerer Einmischung
Ein Militärgeneral weigerte sich, ohne einen schriftlichen Befehl mit seiner Division gegen die Protestbewegung in Santa Cruz vorzugehen. Er wurde schnell ausgetauscht. Trotzdem traten die Militärs zumindest nicht offen auf. Denn dazu wäre ein Regierungsdekret nötig. Allerdings gibt es auch keine Hinweise, dass die Praxis beendet wurde, Militärs in Zivil in Demonstrationen einzuschleusen.
Sollte aus Peru ein Auslieferungsantrag gegen Evo Morales eintreffen, wird auch die bolivianische Regierung Stellung dazu beziehen müssen, statt sich wie derzeit darauf zu berufen, dass dies eine innere Angelegenheit Perus sei.
Präsident Arce scheint im innerparteilichen Machtkampf mit Morales gleichwohl keine weiteren Argumente mehr zu benötigen. Evo Morales wurde zwar jüngst auf einem Rumpftreffen der Partei zu deren lebenslangem Vorsitzenden ernannt. Und sechs Arce nahestehende nationale Abgeordnete wurden aus der MAS ausgeschlossen. Zwei Dutzend weiteren droht ein ähnliches Schicksal, weil sie dem Kompromiss um den Volkszählungstermin Ende letzten Jahres im Parlament zugestimmt und so die von Hardlinern im Tiefland und Evo Morales verfolgte Eskalationsstrategie gebremst hatten. Selbst der Parteiausschluss von Arce wurde von einem Morales-Anhänger jüngst ins Gespräch gebracht.
Bei einer jüngsten Umfrage liegt Arce in der Präferenz auch bei den eigenen Parteianhängerinnen und Anhängern inzwischen vor dem Ex-Präsidenten, der ihn einst als Statthalter in den Sattel gehievt hatte, um die innerparteiliche Konkurrenz auszuschalten. Zur Feier des „Tages des Plurinationalen Staats Bolivien“ am 22. Januar, dem zum Staatsfeiertag erhobenen Jahrestag der ersten Regierungsübernahme von Morales, wurde dieser von der Regierung erst auf den letzten Drücker eingeladen, so dass dieser eine Reise nach Buenos Aires bevorzugt. Nachdem das im Jahr 2021 ebenfalls von Morales auf den Weg gebrachte RUNASUR (Menschen des Südens, ein Bündnis andiner Basisbewegungen und Parteien) in dem aktuellen peruanischen Konflikt in die Kritik geraten ist und unter die Räder zu kommen droht, soll in Buenos Aires nun eine Koordination sozialer Bewegungen Lateinamerikas und der Karibik gegründet werden.
Export von Lithium-Batterien aus bolivianischer Produktion ab 2025?
Zumindest wirtschaftliche Entlastung verspricht die Unterzeichnung eines Vertrags mit einem chinesischen Konsortium zum – wie es heißt – umweltfreundlichen Abbau von Lithium im Departamento Potosí und dem Versprechen, ab dem Jahr 2025 in Bolivien mit einheimischem Lithium produzierte Batterien zu exportieren. Modernste TEchnologie komme zum Einsatz und der Staatskonzern YLB werden bei allen Schritten von der Gewinnung bis zur Vermarktung die Kontrolle innehaben, versichert Luis Arce. Kritiker fordern zunächst einmal die Veröffentlichung der Vertragsunterlagen und der Umweltverträglichkeitsstudien.