50 Jahre nach dem Militärputsch fordern Folteropfer Gerechtigkeit.
Während die Vorbereitungen zur Fußballweltmeisterschaft auf Hochtouren laufen, bleiben die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur weiter ungesühnt. Doch nicht alle BrasilianerInnen sind bereit, das länger hinzunehmen.
Sie sind wütend. Sie schreien. Sie beschmieren die Hauswand mit Farbe: «Hier wohnt ein Folterer!» Im März 2013 kam es in Brasilien erstmals zu einer Aktion, wie es sie in Chile und Argentinien schon länger gibt. In Argentinien kennzeichnen DemonstrantInnen bei sogenannten «Escraches» die Wohnhäuser von Militärs, die für Folter oder Morde verantwortlich waren, meist mit Farbe oder Mehl gekennzeichnet – manchmal trifft das Mehl auch einen der Folterer selbst. Auch in Chile werden Folterer aus der Zeit der Militärdiktatur auf diese Weise geoutet. In Chile wird das Outen der Folterer als «funar» bezeichnet.
In Brasilien verhindert das Amnestiegesetz von 1979 noch immer die juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur (1964–1985). Um dennoch Licht ins Dunkel der «Anos de Chumbo», der bleiernen Jahre, zu bringen, wie diese Zeit genannt wird, stimmten Regierung und Nationalkongress für einen Kompromiss. Am 16. Mai 2012 beschlossen sie die Einrichtung einer Nationalen Wahrheitskommission, um die Geschichte von Repression, Folter und Unterdrückung, in den Anos de Chumbo minutiös zu untersuchen. Die Wahrheitskommission ist unbestritten Teil eines langjährigen Kampfes um die Aufarbeitung der Geschichte. Doch sie bleibt ein Kompromiss. Sie untersucht – aber sie bestraft nicht.
Deshalb nahmen sich Jugendliche in Brasilien die argentinischen und chilenischen Outing-Aktionen zum Vorbild. Zuerst in São Paulo, Belo Horizonte, Belém, Porto Alegre, dann in Rio de Janeiro, Fortaleza und weiteren Städten zogen mehrere Hundert überwiegend junge DemonstrantInnen vor den Wohnhäusern der Folterer auf, um sie öffentlich zu outen. Auf Transparenten nannten sie die Täter beim Namen und beschrieben deren Verbrechen.
«In keinem zivilisierten Land dieser Welt wurden die von Staatsangehörigen begangenen Verbrechen gegen die Menschheit amnestiert oder deren Verbrechen als verjährt deklariert. Nur in Brasilien ist das so.» Dies sagte der Präsident der Brasilianischen Anwaltskammer OAB aus Rio de Janeiro, Wadih Damous, wenige Tage nachdem ein Bundesrichter die Klage gegen einen Oberst der Reserve abgeschmettert hatte. Damous war außer sich. Dabei hatte der Täter die Tat gar nicht bestritten, im Gegenteil: Er redet und veröffentlicht darüber.
Sebastião Rodrigues Curió war 1972 im Militärauftrag ins Amazonasgebiet gesandt worden, unter der Tarnung eines Forstingenieurs für die Agrarreformbehörde Incra. Sein Auftrag: die Bekämpfung der Guerilla am Araguaia-Fluss in Amazonien. Die Guerilla operierte zwischen 1972 und Ende 1974 im Süden des damaligen Bundesstaates Parás. Die siebzig bis achtzig Mitglieder der Guerilla von Araguaia sowie eine unbekannte Zahl von BewohnerInnen der Region, denen das Militär «Kollaboration mit den Subversiven» vorwarf, sind seither verschwunden. 2010 wurden die sterblichen Überreste von zehn der bis heute «Verschwundenen» im Araguaia-Gebiet gefunden, nachdem Militärangehörige gegenüber der Presse Aussagen über mögliche Fundstellen der verscharrten Opfer gemacht hatten. Zu diesen freiwilligen Aussagen zählt die von Obert Curió. Im Jahr 2009 hatte er der Tageszeitung Estadão sein Privatarchiv geöffnet und erklärt, er habe nicht 25 Guerilleros exekutiert bzw. exekutieren lassen, wie man ihm vorwerfe, sondern 41.
2012 wurde Anklage gegen Curió erhoben. Aber nicht wegen der Exekutionen. Davor schützt ihn das Amnestiegesetz. In der Strafsache gegen Curió ging es um das Verschwinden von fünf Guerilla-KämpferInnen, die Ende 1974 im Araguaia-Gebiet verschwunden waren. Sie waren damals von Militärs gefangen genommen und in eine Kaserne gebracht worden, die unter Aufsicht von Curió stand. Ihr Verbleib konnte nie geklärt werden. Seit 2012 versuchen Bundesstaatsanwälte, das Amnestiegesetz mit einem juristischen Schachzug auszutricksen. Da im Falle der Verschwundenen die Opfer nie aufgetaucht seien, so die Argumentation, daure die Entführung an. Es handle sich also um ein fortwährendes Verbrechen, das nicht unter die Bestimmungen des Amnestiegesetzes falle und folglich bestraft werden müsse.
Diese Argumentation machte sich auch der Bundesstaatsanwalt Sérgio Gardenghi Suiama bei der Einreichung der Klageschrift im März 2012 zu Eigen. So kam es, dass Curió vor Gericht erscheinen musste. Weil die Guerilla-KämpferInnen nach ihrer Gefangennahme nie wieder gesehen wurden, sei es, so die Bundesanwälte bei ihren Plädoyers, «fundamental, dass die Justiz die Fälle analysiert, die Beweislage ermöglicht und die Geschichte der Opfer ans Tageslicht bringt. Dies sah der zuständige Richter gleichwohl anders. Es sei zu bezweifeln, dass die Verschwundenen «mehr als dreißig Jahre später noch immer von den Beschuldigten gefangen gehalten würden». So wurde dieser erste Strafprozess in Brasilien wegen Taten aus der Zeit der Militärdiktatur auch als erster wieder eingestellt. Doch weitere Prozesse in mindestens 24 Fällen laufen noch. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist noch nicht gesprochen.
Und manchmal geschieht etwas: Auch die Familie Teles aus São Paulo hatte gegen ihren Folterer geklagt. Es war eine Zivilklage, bei der es weder um Bestrafung noch um Geld ging. Die Familie verlangte lediglich das Recht, ihren Folterer «Folterer» zu nennen. 2008 gewann die Familie Teles in erster Instanz gegen den Folterer Carlos Alberto Brilhante Ustra. 2012 kam die Bestätigung in letzter Instanz: Nach Ansicht der Richter verhindere das brasilianische Amnestiegesetz zwar die strafrechtliche Verurteilung der Taten aus der Zeit der Militärdiktatur, aber zivilrechtlich sei die Lage anders. Zudem erklärte der Richter, anders als Mord verjährten Verbrechen wie Folter in Brasilien nicht. Deshalb sei das Urteil von 2008 rechtens.
Dieser Text ist Teil eines Blickpunktes zu sportlichen Großereignissen und deren Schatten in Brasilien in der RosaLux 1/2014. Das Heft erscheint Mitte März 2014.
Hinweis: Brasilien 2014 – 50 Jahre nach dem Militärputsch: Am 31. März 2014 jährt sich der Militärputsch in Brasilien zum fünfzigsten Mal. In den über 20 Jahren Diktatur waren Repression, Folter und das „Verschwindenlassen“ von Gegner_innen der Militärregierung an der Tagesordnung. Die Initiative Nunca Mais – Nie Wieder organisiert in diesem Rahmen eine mehrmonatige Veranstaltungsreihe: die „Nunca Mais Brasilientage“. Von März bis Juni 2014 wird es Filmreihen, Workshops und Gesprächsrunden mit namhaften Experten und Zeitzeugen geben.