Von Lutz Taufer, jw
Nachdem er 2013 bei der Frankfurter Buchmesse seine Eröffnungsrede gehalten hatte, war die Reaktion des Publikums gespalten. Luiz Ruffato hatte eine ordentliche Sprengladung an der selbstgefälligen Telenovelafassade des »besseren« Brasiliens gezündet. Frenetischer Beifall seitens der brasilianischen Schriftstellerkollegen; der Vizepräsident und spätere Putschist Michel Temer, mit selbstverfassten Gedichten angereist, brach indes den Kontakt zu Ruffato ab, und die Vertreter zweier katholischer Verlage drohten ihm Prügel an. Ruffato war sichtlich erschüttert: »Aber ich habe das alles so gesagt, weil ich mein Brasilien liebe!«
Aus dieser Liebe zu einem Land, dessen real existierende Zustände nach grundlegender Veränderung regelrecht schreien, hat Luiz Ruffato ein fünfbändiges Werk unter dem Titel »Vorläufige Hölle« geschaffen. Der fünfte und letzte Band ist jetzt in der Übersetzung von Michael Kegler auf deutsch erschienen: »Sonntage ohne Gott«.
»Fingerübung« (Ruffato) für dieses Opus magnum war sein Buch »Es waren viele Pferde«, ein Kompendium der bizarren, verderbten, uferlosen Megametropole São Paulo. Der Autor selbst, Jahrgang 1961, ist eine Ausnahmeerscheinung, gewissermaßen ein Revolutionär der brasilianischen Literatur. Er kommt aus den einfachen Verhältnissen, die er beschreibt. Er weiß, wovon er spricht. Aufgewachsen in Cataguases, einem trostlosen Landstädtchen im Süden des Bundesstaates Minas Gerais, ging er irgendwann nach São Paulo. Keine Selbstverständlichkeit.
Ruffato nimmt uns mit in eine Welt, die in der von Telenovelas geprägten Kultur Brasiliens nicht vorkommt. Es ist die Welt, in der der Großteil der brasilianischen Bevölkerung lebt, die Welt des Interiors, des kleinstädtischen Milieus im Landesinnern. Cataguases ist Dreh- und Angelpunkt in sämtlichen der sechs »Fabeln«, wie Ruffato seine Episoden nennt: Heimat, Rückzugsraum, vor allem Ort zermürbender Ereignislosigkeit, der nur erträglich bleibt, wenn man sich und den anderen etwas vormacht: »Was half, war, Gedanken zu überlisten.«
Cataguases wird bei Ruffato zum Szenario zahlloser Erinnerungen und Erlebnisse. Es ist ein Ort, den man nur schwer hinter sich lassen kann, obwohl man sich nichts sehnlicher wünscht. Ein Ort, aus dem nur in Panik wie aus »einer verseuchten Region, einer verwüsteten Zone« geflohen werden kann – in die Megametropolen São Paulo oder Rio, wo die Träume, Verheißungen, Projektionen von Reichtum, Karriere, Familienglück oder Ansehen ins Unfassbare wuchern.
Cataguases ist außerdem Ort des Traums einer triumphalen Rückkehr, wo man der Familie, dem Viertel stolz zeigen kann: Ich habe es geschafft. So wie Sandra. Die hatte Glück. Sie wird angeheuert als Hausangestellte in einer wohlhabenden Akademikerfamilie in Rios Südzone. Stürzt sich an den Wochenenden in die Ensaios, die Megapartys der Sambaschulen in den nördlichen Armutsvierteln, wird Tänzerin in einem jener Gringonachtklubs in Ipanema. Nach einem abenteuerlichen Auf und Ab landet sie mit AIDS bei Doktor Samuel in Cataguases, der ihr bei der Sozialkasse eine Rente in Höhe eines Mindestlohns erstreitet – »jeden Monat am fünfzehnten bar auf die Hand« (…) »Der ganze Stadtteil war sich darüber einig, dass sie echt Glück gehabt hatte«.
Die liebevolle Umsicht und Behutsamkeit, mit denen Ruffato Wörter und Sätze fügt, sein poetischer Realismus, die Lautmalereien, all das Gestammel, wo jeder Ordnungsversuch eine Verzerrung der Realität wäre, sein detailgenaues, nüchternes Einfangen einer schwer zu beschreibenden Welt von abgemagerten Alltagen, mickrigen Hoffnungen, von Selbstbetrug, der Euphorie über das Fast-Nichts, des sich Arrangierens in der Sackgasse – all das fügt sich zu einem Imperativ: Schaut hin, dies hier, verehrte Leserin, verehrter Leser, dies hier ist der unsichtbare Teil des tief gespaltenen Brasiliens.
Ruffato ist ein cooler Exhibitionist. Er schreibt aus einer Welt, in der das Wegschauen eine notwendige Bedingung für die arrivierte Mittelklasse ist – sozusagen eingeschrieben in die »Gene« eines Landes, die ihren Ursprung in der nicht bewältigten Vergangenheit, der Sklaverei haben. Er schreibt über eine arrivierte Mittelklasse, die sich gern kosmopolitisch, modern und aufgeklärt sehen möchte, bei der aber die Werte der Französischen Revolution von 1789 schlicht nicht angekommen sind.
Millionen Brasilianer, viele von ihnen Nachkommen von Sklaven, leben in Tausenden von Favelas. Der Domino spielende alte Herr Valdimiro, aufgewachsen »in einem windschiefen Häuschen, Fußboden aus gestampftem Lehm, gebohnert mit Kuhscheiße«, erinnert sich begeistert an den größten Triumph seines Lebens: »Als ich fotografiert worden bin, nach dem Abschluss der vierten Klasse«. Ja, so etwas ist in den brasilianischen Armutszonen, wo ein erheblicher Teil der Jugendlichen die Schule als funktionale Analphabeten verlässt, ein lebenslanger Erfolg.
Die Lebenstragödien von Jungen und Alten, Kindern, Müttern und Vätern, von sich auflösenden Familien, ewig Zurückgebliebenen, Suchenden, Strauchelnden, angekommen bisweilen in illusionärer Selbsttäuschung von dürftigem Glück, letzten Trost bei den Evangelikalen findend – all das wird in bitterer Selbstverständlichkeit berichtet.
Die letzte Episode im Band ist die längste. Guto ist einer, der es leidlich geschafft hat, Alter ego des Autors. Da steht er, startbereit zum traditionellen Silvesterlauf auf der Avenida Paulista in São Paulo. Wird er die Strecke bewältigen? Er ist sich nicht sicher. Sein ganzes Leben war eine einzige Rennerei, weg aus Cataguases, rein in die Megametropole. »Jeder andere hätte vielleicht in den ersten Tagen schon aufgegeben.« Aber Guto rennt los.
»Lesen ist für mich ein ganz intimer Akt«, sagte mir Ruffato, als ich ihn vor einem Jahr in São Paulo traf. Schreiben, so mein Eindruck, ebenfalls.
Luiz Ruffato: Sonntage ohne Gott. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2021, 118 Seiten, 16 Euro