vonBenjamin Kiersch 06.07.2011

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Wie Kollege Dilger bereits in der taz vom Freitag berichtete, war das Zentrum von Santiago am vergangenen Donnerstag Zeuge der größten Demonstration in Chile seit der Rückkehr zur Demokratie vor 22 Jahren. Hundertfünfzigtausend Schülerinnen, Studenten, Lehrer und Professoren zogen über die Alameda, um für eine Reform des Bildungssystems zu demonstrieren. Unter den Demonstrierenden waren auch Schüler privater Eliteschulen wie dem Saint George College, die sich mit den Protesten solidarisieren. Auch in anderen Städten machten Tausende Schüler und Studentinnen mit kreativen und bunten Protesten auf ein drängendes Problem der chilenischen Gesellschaft aufmerksam: Im Zentrum der ihrer Forderungen stehen die Chancengleichheit in der Bildung, die Verbesserungen der prekären Verhältnisse in den öffentlichen Schulen, sowie eine staatliche Unterstützung der Universitäten.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=tR12Vi6BvrI[/youtube]

Auch im Internet gibt es viele kreative Formen des Protests, wie das folgende Video zeigt, eine Parodie auf einen Werbespot für ein beliebtes koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk:

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=teDzX49PEtg[/youtube]

Das chilenische Bildungssystem in seiner heutigen Form ist ein Erbe der neoliberalen Politik des Diktators Augusto Pinochet: es basiert auf Konkurrenz und Ungleichheit. In den siebziger Jahren wurden die staatlichen Schulen an die Kommunen übergeben, mit der Konsequenz, dass die Ausstatung der Schulen den finanziellen Möglichkeiten der jeweiligen Stadtverwaltung entsprechen. Die universitäre Bildung wurde „liberalisiert“, will meinen weitgehend privatisiert: private Universitäten wurden zugelassen, und die Unterstützung der staatlichen Universitäten wurde zurückgefahren, um den „Wettbewerb“zu fördern Über die Konsequenzen berichtet ein chilenischer Student:

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=04foF4UY4q4&feature=related[/youtube]

Die Folgen: zwar gibt es überall Schulen im Land, aber die Qualität der Bildung ist, besonders in ärmeren Gemeinden, miserabel: Klassengrößen von 40 und mehr sind keine Seltenheit, und das pädagogische Programm reduziert sich oft auf Abschreiben von der Tafel und dem Auswendiglernen zusammenhangloser Fakten. Nur eine Minderheit der Chilenen kann ihre Kinder auf teure Privatschulen schicken, deren Schüler ihrem Alter entsprechende Kenntnisse erwerben. Kinder, deren Eltern nicht das nötige Kleingeld in der Tasche haben, gehen leer aus. Sollten sie es trotzdem schaffen, die Zulassungsprüfung für die Hochschule zu bestehen, werden sie wiederum ordentlich zur Kasse gebeten: Die durchschnittlichen Studiengebühren der Universitäten sind höher als der Mindestlohn. Zwar gab es seit dem Ende der Diktatur einige zögerliche Reformansätze, die jedoch das System an sich nicht in Frage stellten, wie das folgende Video dokumentiert:

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=NQPJRaZLZzo[/youtube]

Bildungsminister Joaquín Lavin, der sich am Donnerstag abend demonstrativ vor einem Polizisten aufstellte und in die Mikrofone salbaderte, es sei jetzt an der Zeit, mit den Demos aufzuhören und mit der Arbeit zu beginnen, ist für die meisten Schüler und Studenten kein ernstzunehmender Gesprächspartner mehr. Lavín hat in der Vergangenheit als Miteigentümer der privaten Universidad de Desarrollo sowie als Teilhaber einer Immobilienfirma, die Gebäude an die Universität vermietete, finanziell von dem System profitiert, das er jetzt als Bildungsminister aufrechterhalten will. Die Rufe nach seinem Rücktritt auf Santiagos Straßen waren am vergangenen Donnerstag  nicht zu überhören.

Muchas gracias a M.G. para la selección de los videos!

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https://blogs.taz.de/latinorama/chile_hunderttausende_verlieren_die_geduld_/

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kommentare

  • Es geht aus meiner Sicht für eine deutlich progressivere Verteilung der Einkünfte. Dieses Land besass am Ende der Diktatur einen Gini von 52, der sich auch in den 20 Jahren Concertación verfestigte. Schule bis zur 12. Klasse und Zugang zu höherer universitärer und technischer Ausbildung hat sich definitiv verbreitet. Nur sind halt die Qualitäten sehr unterschiedlich und viele der guten Jobs werden über Seilschaften vergeben. Zwischen den hervorragenden Privatschulen und den schlechten öffentlichen Schulen gibts dabei noch eine Menge an privat geführten Schulen, die vom Staat subventioniert werden und preislich für die obere und am billigeren Ende auch für die untere Mittelschicht erschwinglich werden. So verfestigt das Schulwesen das chilenische Klassensystem mit Oberschicht, oberer Mittelschicht, unterer Mittelschicht und Unterschicht. Die Lehrergehälter blieben dabei auch auf den teureren Schulen erstaunlich gering (ca. 400 Euro bis 1000 Euro im Monat).
    Richtig teuer für die Familien wird Universitätsausbildung und auch die höhere technische Bildung. Auch Politiker nutzen das Geschäftsfeld privatisierte Bildung zur Bereicherung.
    In einem dermassen vom Neoliberalismus geprägten Land wie Chile – übrigens auch auf Grund von Erfolgen – sehen die Leute Bildung und weniger Politik als Möglichkeit zur Verbesserung der Lebensverhältnisse. Wenn sie nun merken, dass sie oder ihre Kinder sich stark verschulden und mit ihren Diplomen der zweitklassigen Bildungseinrichtungen nur Gehälter erzielen können, mit denen sie kaum die Schulden bezahlen können, entsteht eine sehr feste Entschlossenheit für eine Änderung der Politik.

    Das ganze wird begleitet von heftigen Streiks der Hafenarbeiter und der Leiharbeiter im staatlichen Minenkonzern Codelco, Betrugsskandale bei Stromrechnungen und Konsumentenkredite für die wieder die untere Mittelschicht zahlt und übrigens auch OECD Reports, die das Neu-Mitglied Chile ständig ermahnen, dass man in vielen Politikbereichen (Bildung, Verbraucherschutz, Sozialpolitik, Renten, etc.) dringendst progressivere Elemente einführen sollte, wenn man denn wirklich ein entwickeltes Land sein will.

    Das Thema Bildung stellt lediglich die offensichtlichste Angriffsfläche des aktuellen Systems dar. Es ist aber in Richtung mehr sozialpolitischer Elemente, einer progressiveren Steuerpolitik, effektivere Regulierungen der über-ermächtigten Unternehmen bei weitem nicht die einzigste. Der Protest richtet sich bei weitem nicht nur gegen die aktuelle mitte-rechts Koalition sondern auch die soziale Schuld der 20 Jahre Concertación.

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