Das bolivianische Umweltgesetz müsse komplett überarbeitet werden, sagt Jorge Aguirre, den ich vor dem von ausländischen Fußballteams gefürchteten 3700 Meter hoch gelegenen Stadion in La Paz beim Wahlkampf treffe. Der Agraringenieur unterstützt Präsidentschaftskandidat Jorge „Tuto“ Quiroga. Der kenne die Probleme und habe als Expräsident die nötige Erfahrung, erklärt er mir. Und ihm werde er auch seine eigenen Gesetzesvorschläge vorlegen. Aguirre stört, dass in den Naturschutzgebieten auch produktive Projekte erlaubt seien. Das sei nicht nachhaltig. Vielmehr sollten die Naturparks mit internationaler Unterstützung geschützt werden. Die Menschen, die sich dort angesiedelt hätten und zum Beispiel Koka anpflanzen würden, so der Ingenieur, der auch einen Master in Umweltwissenschaften absolviert hat, müssten von dort aber verschwinden. Nur die angestammten indigenen Gemeinden als die wirklichen Eigentümer des Landes dürften bleiben.
Wenn sie es in individuelle Besitztitel aufteilen wollten, wie sein Kandidat Quiroga es vorgeschlagen hatte, dann sei das ihre Sache. Aber wenn nicht, würde von der neuen Regierung das gemeinschaftliche Territorium respektiert. Das habe nichts mit der Ausweitung der Agrarproduktion zur Erwirtschaftung von Devisen zu tun, die Quiroga der Agroindustrie versprochen hat und die für die größten Waldverluste in Bolivien verantwortlich ist.
Was sind die Wahlversprechen wert?
Tatsächlich hatte der Kandidat des Parteienbündnisses LIBRE, ein Akronym für „Freiheit und Republik“ (in Abgrenzung zur Idee des plurinationalen Boliviens) dem regierungsunabhängigen Dachverband der indigenen Völker des bolivianischen Tieflands CIDOB-Orgánica schriftlich zugesichert, die angestammten Territorien zu respektieren. Auch vor Landbesetzungen werde er sie schützen. Die waren bislang von der Regierung der MAS sogar gefördert worden. Doch im letzten von der Wahlbehörde organisierten TV-Streitgespräch zwischen Quiroga und seinem Konkurrenten Rodrigo Paz Pereira von der christdemokratischen Partei PDC spielten trotz Klimakatastrophe weder Umweltfragen noch die indigenen Gemeinden eine relevante Rolle. Dabei sind sie es, die traditionellerweise die Natur schützen und die auch 65% der konsumierten Nahrungsmittel produzieren. Auch die inhaltlich kaum zu unterscheidenden Programme, die in den letzten Tagen vor der Stichwahl noch von Freiwilligen wie Aguirre auf den Straßen verteilt wurden, geben wenig Hinweise.

Die indigene Frage ruft derzeit vor allem Abwehrreaktionen hervor
Die indigene Frage, erklärt der Kommunikationswissenschaftler Edgar Arce aus Santa Cruz, sei von den MAS-Regierungen so missbraucht worden, dass das Thema derzeit vor allem Abwehrreaktionen hervorrufe. Und so richtete selbst ein rassistischer Tweet des Vizepräsidentschaftskandidaten von Tuto Quiroga, Juan Pablo Velasco zumindest in der eigenen Anhängerschaft keinen größeren Imageschaden an. Der war obwohl schon viele Jahre alt von der politischen Konkurrenz ausgegraben worden. Er werde beweisen, dass es eine Schmutzkampagne sei, und es den Tweet nie gegeben habe, kündigte der als IT-Experte gelobte Velasco an. Zu Beginn des Wahlkampfes hatte er nicht einmal den Namen der Behörde zur Digitalisierung des Staates gekannt. Doch es blieb bei der Ankündigung und einem auffälligen Anstieg von medial verbreiteten öffentlichen Auftritten Velascos im Poncho oder mit Kokablättern als symbolische Wiedergutmachung. Die wird jedoch kaum ernst genommen. Zumindest nicht von Gualberto Cusi: Der Aymara und Jurist war Präsident des Verfassungsgerichtes, bevor ihn das vom MAS dominierte Parlament des Amtes enthoben hat, weil er unabhängig geurteilt und eine Gesetz der Regierung einkassiert hatte. Nachdem er zeitweise mit Jorge Quiroga sympathisiert hatte, distanzierte er sich nun wenige Tage vor der Stichwahl wieder. Man habe ihm bei LIBRE zwar vorgeschrieben, bei öffentlichen Auftritten einen Poncho zu tragen, aber seine Reformvorschläge für die Justiz und die Rechte der Aymara und der anderen indigenen Völker würden dort nicht ernst genommen.

Die ablehnende Haltung zur MAS dominiert
Was vor der Stichwahl mehr zählt, ist die Frage, wie die Kandidaten zur aktuellen Regierungspartei, der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), bzw. zu Evo Morales stehen. Sie stoßen angesichts der Wirtschaftskrise, des erlebten Autoritarismus und verbreiteter Korruption auf mehrheitliche Ablehnung. Mehrere Verfahren gegen den Chef des staatlichen Erdgaskonzerns oder den gerade erst ernannten neuen Direktor der Bergwerksbehörde wie auch die Kinder von Präsident Luis Arce Catacora sind dabei nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Und es bedurfte des Gangs zur Presse, damit die Regierung der Wahlbehörde den nötigen Treibstoff zur Verfügung gestellt hat, um wenigstens alle Wahlurnen im Land verteilen zu können, während Stadtbusse und Lastwagen an den Tankstellen mal wieder Schlange stehen. Auch konnten sich die diversen Fraktionen der MAS kurz vor Ende der Legislaturperiode zwar noch auf die Wiederaufnahme des Verfahrens zur Wahl einer ihnen genehmen Leitung der Finanzaufsicht einigen. Seit Jahren gibt es nur Interimslösungen mit direkten Ernennungen durch den Präsidenten. Doch bei den Präferenzen für die übriggebliebenen Präsidentschaftskandidaten hört die Übereinstimmung schon wieder auf: So wird im von Präsident Arce kontrollierten Gesundheitsministerium für die Wahl Jorge Tuto Quirogas geworben. Evo Morales dagegen fordert diesmal nicht dazu auf, ungültig zu stimmen. Schon bei dem Wahlgang im August hatten Oberhäupter vieler ländlicher Gemeinden die Devise ausgegeben: Entweder ungültig oder für Paz Pereiras PDC stimmen. Die stellt nun die meisten Parlamentsabgeordneten.

Die Christdemokraten als trojanisches Pferd der MAS?
Und so wird vor allem in den schwer zu kontrollierenden sozialen Medien die Angst geschürt, dass Paz Pereiras Christdemokraten nur eine Fassade für die MAS sind, um die bisherige Politik weiter zu führen. Der autoritär und erratisch auftretende Vizepräsidentschaftskandidat Edmand Lara tat sein Übriges dazu, als er kurz nach der August-Wahl selbst seinem Partner Paz Pereira androhte, ihn ins Gefängnis zu bringen, sollte er sich als korrupt erweisen. Dabei laufen gegen den Ex-Polizisten Lara selbst noch Verfahren wegen solcher Delikte in seiner dienstlichen Vergangenheit.
Der Journalist Wilson García Mérida ist ein Opfer politischer Verfolgung durch den Ex-Militär und früheren Banzer Freund Juan Ramón Quintana, der später die Seiten wechselte und zum starken Mann in der Regierung von Evo Morales wurde. Nun ist der bekennende linke Journalist García Mérida zwar davon überzeugt, dass die teilweise etwas spontan zusammengesuchten Parlamentarier*innen der PDC weitgehend achtbare Vertreter*innen ländlicher, indigener und städtischer Basisorganisationen sind. Auch, dass Paz Pereira selbst keine Nähe zu Morales hat. Doch Vizepräsidentschaftskandidat Lara gehöre zu den Polizisten, die selbst keineswegs Korruption bekämpft hätten, sondern Evo Morales und Juan Ramón Quintana nahestehen und von den Funktionären des aktuellen Präsidenten Arce an den Rand gedrängt worden seien. Und so fürchtet er, dass Lara mit Unterstützung von Quintana seine inzwischen öffentlich zurückgenommenen Drohungen umsetzen und versuchen könnte, Paz Pereira zu ersetzen.
Doch dafür müsste er dann gleich auch noch das neu gewählte Parlament neutralisieren. Und das steht gemäß dem Willen der Wählerschaft mit überwältigender Mehrheit gegen die Rückkehr der MAS, egal mit welcher ihrer untereinander zerstrittenen Fraktionen.

Offenes Rennen
War der Urnengang im August vor allem eine Votum gegen die MAS, sind die Wählerinnen und Wähler heute eher ratlos, welcher der beiden seriös auftretenden Kandidaten aber vor allem der wenig Eignung zeigenden Vizepräsidentschaftskandidaten das kleinere Übel sei. Hinzu kommt, dass einige für die Menschen brennende Fragen bei dem TV-Duell unbeantwortet blieben. Etwa, wie der von beiden Seiten angekündigte Abbau der wirtschaftlich unhaltbaren und ökologisch kontraproduktiven Treibstoffsubvention für die ärmsten Bevölkerungsgruppen sozial abgefedert werden soll. Und manches Versprechen vor den August-Wahlen, wie das von staatlichen Transferleistungen für alleinerziehende Mütter, sind in der Zwischenzeit sang- und klanglos unter den Tisch gefallen. Der aus einer ländlichen Provinzstadt Cochabambas stammende Edmand Lara hatte damit so manche Stimme mobilisieren können (siehe diesen früheren Beitrag auf Latinorama).
Ginge es nach dem umgesetzten Wahlkampfetat und den letzten veröffentlichten Meinungsumfragen, wird am Sonntag Jorge Tuto Quiroga zum neuen Präsidenten gewählt. Doch die hatten sich schon vor dem Urnengang im August als wenig zuverlässig erwiesen. Resigniert hat auch das Wahlgericht festgestellt, dass es die Schmutzkampagnen in den „sozialen“ Medien nicht kontrollieren könne. Und die Fakten-Check-Portale sind nicht nur allein mit der Menge an Fake News überfordert, sie erreichen auch nur ein viel kleineres Publikum.

Klar ist: Unabhängig davon, wer die Wahl gewinnt, wird unfähig, wie im Wahlkampf versprochen die drängenden Probleme zu lösen. Es sei denn, die historisch starken Basisorganisationen sowie indigene, Menschenrechts- und Umweltinitiativen gewinnen an Einfluss zurück (siehe auch den vorherigen Beitrag von Mario Rodriguez auf Latinorama und dieses aktuelle Interview in der taz mit Quya Reyna). Und Bündnisse mit sozialen Organisationen wie auch den im Parlament vertretenen Parteien ermöglichen Konsens für die Rückgewinnung von Rechtsstaatlichkeit und die Bekämpfung von korrupten wie mafiösen Netzwerken, die die Politik schon lange durchdrungen haben.

Eine übergreifende Analyse des Wahlprozesses und seiner Hintergründe findet sich auf der Homepage der Rosa Luxemburg Stiftung.