Wie direkte Demokratie funktioniert, konnte man Mitte Februar frühmorgens am Hauptplatz von Tiquipaya erleben. Vor dem modernen Rathaus hatten sich wütende Kleinbauern – und Bäuerinnen sowie Delegationen diverser Nachbarschaftskomitees dieses ländlich geprägten Munizips versammelt, das über der Großstadt Cochabamba am Fuß der Andenkordillere liegt. 24 Jahre nach dem sogenannten Wasserkrieg im April 2000 wurden wieder Sprechchöre laut wie „Wasser ist keine Ware“ und „Nein zur Privatisierung“. Auch hörte man Rufe wie „Er ist zu feige und traut sich nicht heraus.“ Gemeint war der Bürgermeister Juan Pahuasi. Der trat dann nach einer guten Stunde doch vor das Tor. Dank der schnell aufgebauten Lautsprecheranlage schaffte er sich auch tatsächlich Gehör bei der Menge. Die hatte zwischenzeitlich immerhin die Chance gehabt, sich bei Straßenhändlerinnen mit frischgepresstem Orangensaft oder belegten Broten zu versorgen. Für die Verkäuferinnen auf jeden Fall ein guter Tag.
Anlass der Proteste im Februar 2024 ist das Vorhaben des Bürgermeisteramtes, die komplette Wasserversorgung in die Hände eines kommunalen Unternehmens zu geben. „Hinter dem Rücken der sozialen Organisationen hat er versucht, das SERMATI-Gesetz zu verabschieden. SERMATI bedeutet Servicio Municipal de Agua y Alcantarrillado de Tiquipaya (Kommunaler Frisch- und Abwasserdienst von Tiquipaya).
Damit will der Bürgermeister unsere Gewässer privatisieren und uns unsere eigenen Quellen wegnehmen“, erklärt die Rechtsanwältin Alicia Aguilar Sánchez am Rande der Demonstration. Sie berät u.a. das Wasser-Komitee der Nachbarschaftsorganisation im Weiler Kanarancho. In ihrem eigenen Viertel Tika Khatug ist sie für die Aufsicht des dortigen Komitees verantwortlich “Der Bürgermeister will uns unsere Bohrlöcher stehlen, die uns so viel Arbeit und Geld gekostet haben” kritisierte Aguilar, die die Kosten einer Bohrung mit etwa 20.000 US Dollar kalkuliert. Anderswo sind es vielleicht Zehntausend Dollar. Das hängt vom Grundwasserspiegel ab. Aber in jedem Fall ist das eine Menge Geld, die jetzt wieder auf dem Spiel steht. „Dazu kommen die Kosten für die Pumpen, die Leitungen, die Wasserzähler. Denn der Bürgermeister hat es nie geschafft, uns mit Wasser zu versorgen, wozu ihn die Verfassung eigentlich verpflichtet.“
Ein komplexes System von Teichen und Kanälen
Auch die in Tiquipaya geborene Ruth Mercado demonstriert vor dem Bürgermeisteramt. Schon vor 40 Jahren als Jugendliche habe sie sich in der Wasserfrage engagiert.
Das Bewässerungssystem von Tiquipaya, das auch die kleinbäuerliche Landwirtschaft versorgt, sei noch älter. Sie erwähnt den Lagun Mayu See, der in einem Flusstal angelegt wurde und dessen Wasser ab August sowohl für die Landwirtschaft als auch das Trinkwasser genutzt werde. „Dann gibt es noch ein zweites, das Machu Mita System, das vom Flussgebiet des Khora kommt und an bestimmten Tagen zu festen Stunden verteilt wird.“ Hinzu kämen kleinere Teiche, aus denen über das Jahr hinweg zwei oder dreimal Wasser entnommen werde und einen weiteren See für die südliche Zone von Tiquipaya. Doch das Wasser werde knapper, ist Mercado besorgt. „Wenn die Leute sich nicht zusammen setzen, und das Wasser gerecht verteilen, wird es hart werden.“
Wo sauberes Wasser knapp wird, ist gewöhnlich staatliches Handeln gefragt. Die bolivianische Regierung versucht – in vielen Landesteilen auch mit Unterstützung der GIZ (deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) – diesen Problemen durch die Stärkung kommunaler Wasserbetriebe zu begegnen. Im konkreten Fall von Tiquipaya sollen diese jedoch eine Art Monopolstellung bekommen.
Dass die Anwältin Aguilar und die anderen Demonstrierenden das nicht als Verstaatlichung, die es formal ist, sondern als Privatisierung bezeichnen, ist nur im bolivianischen Kontext verständlich: Die Regierungspartei unterscheidet nicht zwischen Partei- und Staatsinteressen und hat die meisten öffentlichen Institutionen unter die eigene Kontrolle gebracht. Und die Bevölkerung empfindet es offensichtlich so, als ob die Amtsträger*innen diese Einrichtungen für ihre privaten Interessen nutzen.
„Er wollte alles unter seiner Kontrolle zentralisieren: alle Bohrungen und Versorgungssysteme, um dann sein eigenes Personal einzusetzen“, meint die Rechtsanwältin Aguilar. „ Dabei steht im Gesetz 2066 sowie im Dekret 071 klipp und klar, dass das Wasser sowohl von den Munizipien als auch autonom von Basisorganisationen gemanagt werden kann, wenn diese sich selbst tragen. Das ist bei uns der Fall.“
Das Erbe des „Wasserkriegs“ von Cochabamba
Diese heutige Rechtslage ist letztlich ein Ergebnis der sozialen Proteste während des sogenannten Wasserkrieges von Cochabamba im Jahr 2000. Damals musste sich ein ausländischer Konzern nach wochenlangen Protesten aus Cochabamba zurückziehen. Dass der Widerstand gegen die Kommerzialisierung der Wasserversorgung so groß war, hatte auch kulturelle Gründe. Jedenfalls brachte der damalige Volksaufstand den Versuch zum Scheitern, die nachbarschaftlichen Versorgungskooperativen und die Bewässerungssysteme der Bauern und Bäuerinnen dem Konsortium „Aguas del Tunari“ zu unterstellen.
„Sie versuchen heute wieder genauso wie damals Aguas de Tunari, mit dem Wasser ihre Geschäfte zu machen,“ beschwert sich Aguilar. Auch das Argument des aktuellen Bürgermeisters Pahuasi in seiner Rede an die Protestierenden, die Munizipalisierung sei erforderlich, um das nötige Kapital aufzubringen, erinnert an die Argumente der im Jahr 2000 politisch Verantwortlichen beim Wasserkrieg. Damals ging es um Investitionen für den Stausee Misicuni, der schließlich auch ohne den internationalen Konzern gebaut wurde, sowie um die Reparatur und Erweiterung des Leitungsnetzes. Aber statt eigenes Geld zu investieren, wollte der Konzern die Maßnahmen durch Preiserhöhungen finanzieren. Etwas ähnliches werde heute in Tiquipaya versucht, ist die Anwältin Aguilar überzeugt: „Der Bürgermeister will das Wasser von Misicuni zu seinen überhöhten Tarifen weiterverkaufen und dabei sogar unsere eigenen Leitungssysteme nutzen. Aber im Gesetz steht, dass Misicuni die lokalen Wasser-Komitees und Gemeinden anerkennen wird. Und dass Misicuni das Wasser in direkter Form an diese übergibt, ohne die Munizipien dazwischen zu schalten.“
Romula Caero Molina, ein Kleinbauer, der in Tiquipaya Mais, Kartoffeln und andere Nahrungsmittel anbaut, geht in seinen Forderungen noch weiter: „ Für unsere kleinbäuerliche Gemeinden sollte das Wasser vom Misicuni-Staudamm kostenlos sein. Es sind die Flüsse des Munizips Tiquipaya, die den Stausee versorgen. Aber sie wollen uns dafür ihren Preis aufzwingen. Und wir sollen genauso viel wie die Stadt Sacaba zahlen, die viel weiter weg liegt.“ Er versorge sich bislang mit Wasser aus eigenen Bohrungen seiner Bauernorganisation, und zu weitaus günstigeren Preisen.
Bei klaren Regeln sind Nutzer*innen-Organisationen effektiver
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrum hat die gemeinschaftliche Verwaltung öffentlicher Güter durch Organisationen von Nutzer*innen untersucht. Wenn das mit klaren Regeln geschehe, würden die Ressourcen erfolgreicher gemanagt als durch privatwirtschaftliche oder Staatsunternehmen, erinnert Juan Eddy Terrazas Torrico an die Ergebnisse der Nobelpreisträgerin.
Das sei genau das, was die lokalen Wasser-Komitees täten. „Wenn kein Wasser mehr im Tank ist, dann kommunizieren die Mitglieder untereinander und entscheiden sich, den Gesamtverbrauch zu verringern oder die Verfügbarkeit einige Stunden einzuschränken. Oder sie reparieren die Leitungen, um Wasserverluste zu reduzieren. Das geschieht nicht, wenn alles über die kommunalen Betriebe organisiert wird“, erklärt der Forstingenieur. Gleichwohl sieht er jenseits der Basisaktivitäten auch die Notwendigkeit für Strukturpolitik: „Auf übergeordneter Ebene ist es wichtig zu klären, wie der Grundwasserspiegel aufrechterhalten werden kann. In Cochabamba etwa durch den Schutz des Nationalparks Tunari.“ Auch müsse die Kontaminierung des Wassers in den Einzugsgebieten verhindert werden. Dort habe die Zahl der Siedler in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Sie bekämen sogar Kompensationszahlungen vom Misicuni-Projekt. “Aber viele sind gar nicht von dort, sondern Mitglieder der Regierungspartei, die das Land besetzt und vom Agrarreforminstitut dann Besitztitel bekommen haben.“ Auch die Vergiftung des Wassers durch den Goldbergbau sei ein Problem, gegen das die bolivianische Regierung derzeit viel zu wenig tut.
Der Bürgermeister gibt nach
Das Problem von Juan Pahuasi, dem Bürgermeister von Tiquipaya, ist an jenem Februartag, dass er die zornige Menge nicht von seinem Kommunalen Versorgungsmodell überzeugen kann. “Wenn ihr das nicht wollt, wird es das auch nicht geben“, versucht er, die Menge zu beschwichtigen. Der Präsident des Stadtrats erklärt seinerseits, dass zwar ein Gesetzesentwurf vorliege, der sei aber noch nicht verabschiedet. „Lüge“, schallt es aus der Menge zurück, die in der Wortwahl nicht besonders wählerisch ist. Man habe bereits Gelder für Fachgutachten ausgegeben. Bereits im Dezember 2022 habe Pahuasi den Gesetzentwurf eingebracht, erklärt die Anwältin Aguilar. Der sei noch drakonischer gewesen.
„Jetzt haben sie einige Umstellungen und Veränderungen gemacht, um das eigentliche Anliegen zu verstecken: Dass Juan Pahuasi zum einzigen Verwalter aller Wasserversorgungssysteme im Munizip werden soll und die Preise an den Stromverbrauch gekoppelt werden. Dass er die Gebührenordnung erstellt und auch die Strafen festlegt. Nicht als Bürgermeister, sondern als Chef des Wasserbetriebes. Zu unserem Glück gab es Personen, die uns die Unterlagen zur Verfügung gestellt haben. Und nach der Lektüre können wir sagen, das Modell ist weder sozial noch nachhaltig.“ Dabei habe der Bürgermeister schon in der Avenida Ecologica eine Bohrung durchführen lassen, dessen Wasser er jetzt nach Chilimarca und andere Viertel pumpen und verkaufen lasse. „Dort bezahlen sie bereits an das Bürgermeisteramt. Er hat gesehen, dass Wasser das klare Gold ist,“ so Aguilar, die sich deshalb auch nicht zufrieden gibt, als der Bürgermeister sich schließlich bereit erklärt, ein Dokument zu unterschreiben, in dem er zusagt, das Gesetz zurückziehen und annullieren zu lassen. „Wir wollen nicht wieder Probleme bekommen,“ so Juan Pahuasi.
Auf die Nachbarschaft statt auf die Politik vertrauen?
Dass die Unterschriften nicht in einem Saal des Bürgermeisteramtes, sondern davor auf dem Bürgersteig gebückt geleistet werden, ist wohl den Notwendigkeiten direkter Demokratie geschuldet. Alle können so sehen, wer was vereinbart hat. „Papier ist geduldig“, äußert die Anwältin Aguilar ihre Zweifel, während die Demonstranten sich von den Sprecher*innen ihre Teilnahme bestätigen lassen. Denn die ist für die Mitglieder der Organisationen nicht freiwillig. Sonst muss eine Strafe gezahlt werden. Das gehört zu den sozialen Kosten der Selbstorganisation. „Wir werden wachsam bleiben, um nie ein Gesetz zuzulassen, mit dem andere unser Wasser verwalten. Denn Wasser ist Leben. Es ist ein Menschenrecht und wird nicht zur Ware gemacht,“ bekräftigt Aguilar. Das dürfte ganz im Sinne von Oscar Olivera sein.
Der frühere Gewerkschafter war Sprecher und ist wohl die bekannteste Figur der Proteste gegen die Wasserprivatisierung im Jahr 2000. Er gebe nicht so sehr den Regierenden die Schuld dafür, dass die Ideen von damals derzeit von der Politik wieder vorangetrieben würden. „Wir Cochabambinerinnen und Cochabambiner haben auf die Politiker*innen gesetzt, statt uns gegenseitig zu vertrauen. Und das obwohl im Jahr 2000 die Parteien praktisch von der Bühne verschwunden und ihre Büros besetzt waren. Der Bürgermeister war in den Untergrund gegangen. Das Heer und die Polizei hatten sich in ihre Kasernen zurückgezogen. Die Bevölkerung hatte während den acht Tagen des Wasserkrieges die Kontrolle über die Richtung ihres Lebens übernommen. Und das müssen wir wieder erreichen: friedlich, organisiert, vereint, mobilisiert und mit Diskussionen, so wie wir sie damals in den Vierteln und in den Gewerkschaften geführt haben“. Etwas davon war in Tiquipaya im Februar wieder zu spüren.
Sowie den zweiten Teil zum Thema auf Latinorama.
Den Konflikt um Wasser als Ware bzw. seine kulturellen Konnotationen beschreibt dieser in Bolivien sehr populär gewordene und von einem Mythos der Ayoréode inspirierte Trickfilm.
Ein Dank an David Tovar für Unterstützung vor Ort sowie Julia Gabriela Strack Diaz für Verbesserungen am Text.