vonChristian Russau 21.06.2019

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Seine Stimme bebte, aber er verlor sich nicht in der Beschreibung. Er stockte, wenn seine Worte sich an die ganze Brutalität des Erlebten annäherten, hielt kurz inne und fuhr dann fort. Klar und detailliert berichtete er Punkt um Punkt, wie sich die Ereignisse 1972 überschlugen, wie er im Beisein und unter aktiver Mitwirkung von VW-Mitarbeitern verhaftet wurde, er beschrieb minutiös die Schläge, die Prügel, er gab ein Zeugnis der erlittenen Folter und der täglichen Erniedrigungen. Er beschrieb die einzelnen Täter, die Verräter und die Denunzianten, die Mitläufer und die Mittäter. Und er nannte den Namen dessen, den er für den Hauptverantwortlichen dabei sah: die aus Deutschland stammende Firma Volkswagen. Die hat sich bis heute nie bei ihm entschuldigt. Am 19. Juni 2019 ist Lúcio Bellentani, der Hauptbelastungszeuge der Causa „Kollaboration von Volkswagen do Brasil mit der brasilianischen Militärdiktatur“, in São Paulo verstorben.

Lúcio Bellentani war 1972 Mitarbeiter bei VW do Brasil, einer der unzähligen Arbeiter in den riesigen Werkshallen, die dort tagein, tagaus schufteten. In Brasilien herrschte damals die Militärdiktatur, die sich dafür rühmte, für das milagre econômico verantwortlich zu zeichnen: Jährliche Wachstumsraten beim Bruttoinlandsprodukt von rund zehn Prozent ließen das südamerikanische Land als Darling der internationalen Industriebosse strahlen, während gleichzeitig durch den Diktaturstaat mittels des sogenannten arrocho salarial die Löhne staatlich eingefroren waren und die Arbeiter mit dem kargen Lohn gerade so über die Runden kamen.

Lúcio schuftete bei VW, sah den Ärger, die Wut und nicht selten die Verzweiflung der Kolleginnen und Kollegen, sah die im Land grassierende Armut und die schreiende Ungerechtigkeit. Er sah den konzentrierten Reichtum in den Fängen einiger Weniger und die Ausbeutung der Masse für Wachstum, für Fortschritt und für eine Ordnung, die für Einige Alles und für die Anderen fast Nichts zur Verfügung stellt. Für Lúcio war klar: Gegen solche Ungerechtigkeit muss man kämpfen.

Nachdem im April 1964 die Militärs die Regierung João Goulart weggeputscht hatten, trat Lúcio Bellentani im September 1964 in die Brasilianische Kommunistische Partei PCB ein. Über Jahre organisierten sich die kommunistischen Gewerkschafter bei Volkswagen do Brasil klandestin, trafen sich immer in möglichst kleinen Gruppen, damit niemand, im Falle einer Verhaftung, mehr als zwei oder drei weitere verraten konnte. Sie trafen sich zur Analysebesprechung der jeweiligen Situation und zwecks der Produktion ihrer kleinen Handzettel, ihrer Flugblätter und der Informationszeitungen, erst nachts leise auf die Schreibmaschine gehackt, dann auf Matritzen an geheimen Orten gedruckt, um dann, tags drauf, das klandestine Material in die Firma, an den Spitzeln des VW-Werkschutzes vorbei, in die Spinde zu schmuggeln und von dort das revolutionäre Zeitschriftenmaterial und die Flugis in den Pausen möglichst unauffällig an die Kolleginnen und Kollegen zu verteilen. Immer auf der Hut vor den Spitzeln des VW-Werkschutzes, der unter der Ägide des Scharfmachers Adhemar Rudge die Kolleginnen und Kollegen bei VW bespitzeln ließ und der diese gesammelten Infos – unter stillschweigendem Wissen, aber erwiesenermaßen unter bewußter Kenntnis des damaligen VW do Brasil-Vorstands – an die Repressionsorgane der brasilianischen Militärdiktatur weitergab. Das wurde Lúcio Bellentani zu seinem Verhängnis.

Lúcio Bellentani, September 2017. Foto: Gerhard Dilger
Lúcio Bellentani, September 2017. Foto: Gerhard Dilger

40 Jahre nach seiner Verhaftung und dem Beginn der monatelangen Folterungen im Folterzentrum DOPS erschien Lúcio Bellentani am 19. Juli 2012 vor der Munizipalen Wahrheitskommission „Vladimir Herzog“ in São Paulo und tätigte seine Aussage über sein Schicksal bei VW, seine Verhaftung, die erlittene Folter und über die tatkräftige Mitverantwortung der aus Deutschland stammenden Firma – Volkswagen.

„Mein vollständiger Name ist Lúcio Antonio Bellentani. Ich bin 68 Jahre alt. Ich war Mitglied der Brasilianischen Kommunistischen Partei. Ich trat im September 1964 in die Partei ein. Mein Vater kam zur Zeit der Diktatur von Getúlio Vargas ins Gefängnis, weil er auch Mitglied der Brasilianischen Kommunistischen Partei war. Er war damals auch städtischer Abgeordneter. In die Partei einzutreten, das war für mich Anlass, sehr stolz zu sein, da schon mein Vater an diesem Kampf teilgenommen hatte, in diesem Kampf aktiv war.

Zu jener Zeit arbeitete ich bei Volkswagen, in São Bernardo, und dort fing auch mein Aktivismus an. Wir begannen die Organisation der Parteibasis in der Fabrik von São Bernardo do Campo und dies hatte in der Partei ziemlich großen Widerhall. Wir waren dort sehr gut organisiert. 1970 beispielsweise half ich mit, da war ich einer der Organisatoren der Oppositionsgruppe gegen die Gewerkschaftsleitung von São Bernardo do Campo. Das war die erste Wahl, bei der Lula als Ersatzkandidat der Gewerkschaft antrat. Damals war er der letzte auf der Wahlliste und ich war Teil dieser Oppositionswahlgruppe.

1972 passierte das mit dem Gefängnis. 1972 wurde ich innerhalb des VW-Geländes verhaftet. Ich war am Arbeiten, und es kamen da zwei Typen mit Maschinenpistole, die drückten sie mir in den Rücken, legten mir sofort Handschellen an. Das war so gegen 23 Uhr. Als ich dann in den Raum der Sicherheitsabteilung von Volkswagen kam, fing gleich die Folter an: Ich habe gleich Prügel bekommen, musste Ohrfeigen und Faustschläge einstecken. Da wollten sie schon wissen, ob es bei Volkswagen noch wen gäbe. Damals bestand die Parteibasis bei Volkswagen aus ungefähr 250 Personen.

Sie brachten mich ins Gefängnis, ins [Folterzentrum] DOPS. An diesem Tag waren es nur so zwei Stunden Prügel, dann warfen sie mich in eine Zelle und erst am nächsten Tag holte mich die Mannschaft ab, es war die Truppe des Kommissars Delegado Acra. Am nächsten Tag übergaben sie mich der Truppe des Kommissars Delegado Fleury, der mich in einen riesigen Saal im dritten Stockwerk des DOPS setzte. Da war ein Schreibtisch und ein Stuhl in der Mitte, man setzte mich da hin, und der Fleury war so 15 Minuten lang total still, schaute mich an und ein halbes Dutzend von Folterern [standen] da hinter ihm. Dann sagte er auf einmal zu mir: ‘Hör zu, weißt Du, wer der Ober von Santa Ceia war? Und selbst wenn Du es nicht weißt, dann wirst du es uns hier [trotzdem] sagen‘.

Ab da ging das richtig los, also, pau-de-arara (Folter an der Papageienschaukel, Anm.d. Übersetzers), auf meinem Kopf, an den Händen, an den Füßen zerbrachen sie einige dieser Rohrstöcke, ich verlor etliche Zähne. Das ging dann an die 45 Tage so weiter, weil, es war Folgendes: Sie wussten, dass die Basis der Partei innerhalb von Volkswagen groß war, aber während dieser 45 Tage waren dort nur der, der mich verraten hatte, und ich, und er kannte die Organisation nicht als ganze, weil wir uns in kleinen Gruppen organisierten, und ich, nur ich, kannte sie alle.

Nach 45 Tagen brachten sie dann den, der mich verraten hatte, in die Fabrik, und er lief da lang und zeigte auf alle, die er kannte; selbst so erwischten sie nur zehn Personen. Nur zehn Personen wurden verraten, verhaftet und gefoltert.

Glücklicherweise schaffte ich es, die gleiche Aussagelinie vom ersten Moment bis zum Ende durchzuhalten – und so blieb es dann dabei.

Zu diesem Zeitpunkt war die Sache so: Die companheiros, die am meisten gefoltert worden waren, die am meisten verfolgt worden waren, waren die, die in der Guerilla aktiv waren, in der Stadtguerilla, in der Guerilla von Araguaia, also die Leute aus dem bewaffneten Kampf. Die wurden am meisten gefoltert.

Nach vier Monaten im DOPS brachte man mich dann ins [Folterzentrum] OBAN. Ich kam da an, und der Capitão, der da war – ich weiß nicht wer, er war so ein dunkler Typ – kam zu mir, schaute mich an und löste [meine Fesseln]; er war wütend, weil – nach vier Monaten –, was soll man da von ‘nem Typen noch wollen? Da kann man mit ihm nichts mehr machen und all das, was sie schon zu Beginn haben konnten, das hatte nach vier Monaten keinen Wert mehr. Also schickten sie uns zurück ins DOPS.

Am Abend bevor sie mich ins Gefängnis bringen sollten, kamen sie zu mir in meine Zelle, um ein Uhr morgens, um mich zu holen, sie brachten mich in den dritten Stock. Da kam dann einer mit einer Seilrolle, einigen Maschinenpistolen, Handschellen und sagte: ‘Heute werden wir noch einen Schinken in Sapopemba haben‘ (Sapopemba ist ein Stadtteil im Südosten von São Paulo. Gemeint ist ‘Wir machen heute Hackfleisch aus Dir.‘, Anm.d. Übersetzers). Ich dachte: Ich glaub, das war‘s. Ich war der einzige da. Sie nahmen mich und wollten wissen, wo ein Junge wohnte, der bei Mercedes in São Bernardo do Campo arbeitete.

Damals, 1972, war da bei Mercedes eine einzige Brachfläche, da gab es nichts, da war nur Mercedes. Sie brachten mich da hin, die Hände mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt, legten das Seil um meinen Hals, knüpften und zogen die Schlinge zu, gingen um mich herum, zogen mich im Kreis über den Boden, und wollten wissen, wo das Haus des Jungen sei. Ich stand auf, da gaben sie eine Salve mit der Maschinenpistole ab, aber es waren keine Kugeln, sondern nur Platzpatronen. Dann steckten sie mich wieder in den Wagen, da kam dann einer und sagte: ‘Schau, die da hinten quatschen gerade. Nutz‘ deine Chance und lauf‘. Ich sagte: ‘Wenn Ihr mich töten wollt, ermordet mich hier drin in dem Wagen, wegrennen werde ich nicht.‘ Da legten sie mir erneut Handschellen an und brachten mich wieder ins DOPS.

Zu meiner Überraschung brachten sie mich am nächsten Tag ins Gefängnis Tiradentes, nachdem ich sechs Monate im DOPS gewesen war. Dort lernte ich Martinelli kennen, der mich dort in Empfang nahm, ich kam direkt in seine Zelle, er begrüßte mich und wir waren dort gemeinsam für eine Zeit. Ein Jahr lang wartete ich auf den Prozess, und als das Urteil fiel, da waren im gleichen Prozess Luiz Carlos Prestes und Anita Leocádia Prestes angeklagt, die uns damals unterstützt hatte, sie hatte sogar mal bei uns im Haus gewohnt. Es kam zum Urteil, aber wir alle wurden wegen mangelnder Beweise freigesprochen. Ich wurde frei gelassen.

Ein Jahr später – ich wohnte zu dieser Zeit im Vale do Paraíba und arbeitete bei Erikson – da kam ein companheiro aus São Paulo zu mir nach Hause mit der Zeitung Folha de São Paulo in der Hand, in der stand, ich sei in Brasília zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Ich sagte: ‘Okay, ich weiß nicht so recht, ich werde mich nicht stellen, ich hau einfach irgendwohin ab.‘ Meine Anwältin aber, Dra. Rosa, die hier in der Wahrheitskommission sitzt, sie und Dr. Belizário waren meine Anwälte, und sie sagten: ‘Geh‘ und stell dich, denn da Du schon ein Jahr gesessen hast, kann es maximal 15, 20 Tage dauern.‘

Aber sie fanden bei dem Prozess heraus, bei der Berufung der Anklage, die mich verurteilt hatte – da gab es eine Empfehlung von Fleury –, die sagte, ich sei der einzige gewesen, der zu keinem Zeitpunkt mit der Repression zusammengearbeitet hätte. Also wurde ich verurteilt und blieb noch fast ein Jahr in Haft. Zehn Monate lang blieb ich dort; zwei Monate in Freiheit unter Auflagen. Sie entließen mich [die ganze Zeit] nicht in die Freiheit, ich ging zum Gefängnisrat und sie entließen mich einfach nicht, ich sollte da vermodern. Und der Name, unter dem ich dort geführt wurde, und den der Herr Martinelli mir gab, war ‚Tourist‘.

Ich wusste nicht einmal, warum ich da noch war, weil, ich war ja schon freigesprochen und hatte das Recht auf meine Freiheit und all das. Dieses Mädchen, das ist meine Tochter, hat im Gefängnis das Laufen gelernt, denn als ich verhaftet wurde, war sie drei Monate alt und meine Frau wurde am folgenden Tag auch verhaftet. Es gab sie und noch zwei weitere Brüder. Sie kamen einfach in mein Haus, nahmen meine Frau und ließen die Kinder alleine. Nachdem sie da einen ganzen Tag alleine waren, merkten die Nachbarn das und halfen ihnen. Meine Frau wurde nicht gefoltert, sie blieb zweieinhalb Tage in São Bernardo, dann wurde sie freigelassen.

Ich weiß von companheiros, die viel mehr gefoltert wurden als ich, viel mehr traumatisiert sind als ich. Folter, das ist sehr schwer zu erklären, weil es da zu einem gewissen Moment kommt, in dem der physische Schmerz Dich nicht mehr umhaut; sie können Dich schlagen, Elektroschocks ansetzen, sie können machen, was sie wollen, aber Du spürst es nicht mehr. Aber dann kommt noch die moralische Frage, die psychologische, das ist eine ganz harte Nummer, und die Leute sagen manchmal: ‘Ach, nein, ich bin da durch, aber heute geht es mir gut.‘ Das ist eine Lüge, weil manchmal, wenn Du in einem Fahrstuhl bist, manchmal, wenn Du in einer Menschenmenge bist, fühlst Du dich allein. Es gibt eine Reihe von Traumata, die wir haben, und wir können Therapien machen, können machen, was wir wollen, das ist schwer zu erklären: es ist schwer, es ist schmerzhaft. Und es gibt diese Ohnmacht, weil, man bleibt total ohne Macht. Der Zynismus, die Gemeinheit, das ist so was Fieses, dass es wirklich absolut notwendig ist, dass man diese Wahrheit in Erinnerung behält und all das aufarbeitet, damit unsere Jugend davon weiß, Kenntnis davon hat, dass die Freiheit oder die Pseudofreiheit, die sie heute hat, dass da viel Geschichte dahintersteckt.“

Lúcio Bellentani (1972) Fotografiert im Folterzentrum DOPS Fotografie heute im Arquivo Público do Estado de São Paulo
Lúcio Bellentani (1972)
Fotografiert im Folterzentrum DOPS
Fotografie heute im Arquivo Público do Estado de São Paulo

Mit dieser Aussage, mit bebender Stimme, aber dennoch klar im Detail, wurde Lúcio Bellentani zum Hauptbelastungszeugen gegen Volkswagen do Brasil. Während im September 2015 in Deutschland und den USA die „Diesel-Manipulation“ seit wenigen Tagen in den Medien hochkochte, reichte am 22. September 2015 das „Fórum de Trabalhadores por Verdade, Justiça e Reparação“ (Arbeiterforum für Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparation) eine Anzeige gegen Volkswagen do Brasil bei der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo ein. Das Bündnis, das sich aus Betroffenen – darunter federführend Lúcio – GewerkschafterInnen, RechtsanwältInnen, sozialen Bewegungen und Menschenrechtsgruppen zusammensetzt, setzte mit dieser Anzeige zivilrechtliche Ermittlungen in Gang, um die gesamte Verstrickung von Volkswagen do Brasil in die Repressionsstrukturen der brasilianischen Militärdiktatur aufzuklären. Die Anzeige stützte sich auf Aussagen von Folteropfer wie der von Lúcio Bellentani und weiteren Betroffenen, die diese vor den Wahrheitskommissionen getätigt hatten, sowie auf mehrere in Archiven aufgetauchte Beweise, die die Kollaboration von VW mit den Repressionsorganen belegen sollen.

Mitarbeiter von Volkswagen wurden in den „bleiernen Jahren“ Brasiliens, in denen die Repression der Militärdiktatur am brutalsten war, von Agenten des Militärregimes am Arbeitsplatz verhaftet, geschlagen und verprügelt. Dies geschah laut Betroffenenaussagen unter Aufsicht und Mitwirkung von VW-Sicherheitspersonal. Vom Betriebsgelände wurden die Betroffenen direkt ins Folterzentrum DOPS gebracht, wo sie oft mehrwöchige Folter erleiden mussten. Einer dieser Folterer war der berüchtigte und brutalste der brasilianischen Militärdiktatur, Sérgio Paranhos Fleury, der am 1. Mai 1979 unter bis heute nicht abschließend geklärten Umständen starb und dessen Todesnachricht am selben Tag auf der 1.-Mai-Feier der Metallarbeitergewerkschaft im Stadion Vila Euclides in São Bernardo do Campo von 100.000 ArbeiterInnen in Sprechchören und Gesängen enthusiastisch gefeiert wurde.

Sowohl die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wie auch die beiden Historikerberichte – eine von Christopher Kopper im Auftrag von VW erstellt, die andere von Guaracy Mingardi im Auftrag der Staatsanwaltschaft von São Paulo – bestätigen diese Vorwürfe.

Christopher Kopper schrieb im Dezember 2017:

„1969 begann die Zusammenarbeit des Werkschutzes mit der Politischen Polizei des Regimes (DEOPS), die erst 1979 endete. Diese Zusammenarbeit kam maßgeblich durch den Leiter des Werkschutzes Ademar Rudge zustande, der sich aufgrund seiner früheren Position als Stabsoffizier der Armee den Sicherheitsorganen besonders verpflichtet fühlte. Er handelte dabei auf eigene Initiative, aber mit dem stillschweigenden Wissen des Vorstands.
Da es keine gesetzliche Anzeigepflicht für oppositionelle Meinungsäußerungen gab, agierte die Leitung des Werkschutzes bei der Überwachung und Denunziation oppositioneller Aktivitäten in der Belegschaft auf eigene Verantwortung und aus der als selbstverständlich empfundenen politischen Loyalität zum Militärregime. Obwohl sich der Anteil des Werkschutzes bei der Aufdeckung und Verhaftung einer illegalen kommunistischen Gruppe nicht genau bestimmen lässt, hätte ein nicht kooperatives Verhalten des Werkschutzes die Festnahmen zumindest verzögern und eventuell verhindern können.
Der Werkschutz überwachte oppositionelle Aktivitäten seiner Beschäftigten und erleichterte durch sein Verhalten die Verhaftung von mindestens sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der Einsatz von Folter durch die Politische Polizei bereits in der brasilianischen und in der deutschen Öffentlichkeit bekannt war.“

 

Bemerkenswert ist, wie Volkswagen die Veröffentlichung der Kopper-Studie seinerzeit (Dezember 2017) medial nutzte. Denn die zeitgleich zur Buchveröffentlichung veröffentlichte Pressemitteilung des Konzerns nutzte folgende – geschickt im Schnelldurchlauf mehrere und vor allem verschiedene Tatbestände und historische Entwicklungen salopp miteinander verknüpfend – folgende Formulierung: „Vor dem Hintergrund der wissenschaftlich ausgewerteten Quellen kommt Professor Kopper zum Ergebnis, dass ‚eine Zusammenarbeit zwischen einzelnen Mitgliedern des Werkschutzes von Volkswagen do Brasil und der Politischen Polizei (DOPS) des früheren Militärregimes stattgefunden hat. Aber es konnten jedoch keine klaren Beweise gefunden werden, dass die Zusammenarbeit auf einem institutionellen Handeln seitens des Unternehmens basiert.‘ Kopper führt weiter aus, dass ein unternehmerischer und kultureller Wandel 1979 und in den frühen 1980er Jahren einsetzte, als Volkswagen do Brasil mit der Einrichtung eines Betriebsrates zu einem Vorreiter der betrieblichen Mitbestimmung in Brasilien wurde. Als Novum erfolgte dort 1982 eine Betriebsratswahl in einem geheimen Wahlverfahren, das auch Gewerkschaftsmitglieder nicht mehr benachteiligte.“

Was bei den Leserinnen und Lesern hängen bleibt, wäre demnach: Einerseits „eine Zusammenarbeit zwischen einzelnen Mitgliedern des Werkschutzes von Volkswagen do Brasil und der Politischen Polizei (DOPS) des früheren Militärregimes“ und andererseits dass „jedoch keine klaren Beweise gefunden w[u]rden, dass die Zusammenarbeit auf einem institutionellen Handeln seitens des Unternehmens basiert“, bevor ganz schnell geschickt der zeitliche Fokus von den „bleiernen Jahren“ der brasilianischen Militärdiktatur, 1969 bis 1975, hin zu den Jahren der langsamen schrittweisen Öffnung ab 1979 verschoben wird, wo dann auf den in der Tat „unternehmerischen und kulturellen Wandel“ des Unternehmens als fortschrittlichem, Arbeiter/innenrechte anerkennenden und fördernden Unternehmen eingegangen wird. Dies hat VW in seiner Pressemitteilung geschickt gemacht – und die Mehrzahl der Presse ist prompt darauf reingefallen und hat dies so übernommen.

Die von VW vertretene Einzeltäterthese – es sei „nur“ der Werkschutz gewesen“ – ist nach aller Quellenlage nicht haltbar. Wenn Christopher Kopper schreibt: Der VW do Brasil-Werkschutzchef Adhemar Rudge habe „auf eigene Initiative, aber mit dem stillschweigenden Wissen des Vorstands“ gehandelt, dann klingt das ja so gar nicht mehr nach Einzeltat, denn wenn der weisungsbefugte Vorstand von VW do Brasil darüber Bescheid („mit stillschweigenden Wissen“) wusste, und damals, wie Christopher Kopper schreibt, „der Einsatz von Folter durch die politische Polizei bereits in der brasilianischen und in der deutschen Öffentlichkeit bekannt war“, dann hat der damalige Vorstand von VW do Brasil wissentlich und billigend in Kauf genommen, dass sein ihm weisungsgebunden unterstellter Werkschutz Menschen der Folter ausgeliefert hat.

Auch der „Mingardi“-Bericht zielt in diese Richtung und geht darüber noch hinaus: Guaracy Mingardi hat herausgefunden, dass Informationen an die brasilianischen Geheimdienste und deren Repressionsorgane vor der Freigabe über den Schreibtisch des damaligen VW do Brasil-Chefs Wolfgang Sauer gingen. Dies erfolgte vor allem in den sog. „bleiernen Jahren“ Brasiliens, also zwischen 1969 und 1975, wo in Brasilien verhaftet und gefoltert wurde, wer der Opposition oder gewerkschaftlicher Aktivitäten verdächtigt wurde.

Unbestritten ist auch, dass die damaligen Vorstände von VW do Brasil über die Gräueltaten der brasilianischen Militärdiktatur wie Folter, Mord und Verschwinden-Lassen vollumfänglich Bescheid wussten. Dazu reicht ein Verweis auf die Süddeutsche Zeitung vom 16.2.1973, in der der damalige VW do Brasil-Chef, Werner Paul Schmidt, mit den Worten zitiert wird: „Sicher foltern Polizei und Militär Gefangene, um wichtige Informationen zu erlangen, sicher wird beim Politisch-Subversiven oft gar kein Gerichtsverfahren mehr gemacht, sondern gleich geschossen, aber eine objektive Berichterstattung müßte jedesmal dazufügen, daß es ohne Härte eben nicht vorwärtsgeht. Und es geht vorwärts.“ [ZITAT ENDE] Auch der „Kopper“-Bericht legt dar, dass „der Einsatz von Folter durch die politische Polizei bereits in der brasilianischen und in der deutschen Öffentlichkeit bekannt war“. [ZITAT ENDE]

Auch der von der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo zum Fall beauftragte Gutachter Guaracy Mingardi bestätigte: „Der Werkschutz hat agiert, als wäre er ein verlängerter Arm der Politischen Polizei innerhalb des VW-Werkes.“ José Paulo Bonchristiano, „Mr. DOPS“, wie der Folterer im DOPS genannt wurde, sagte im Interview mit der ARD kurz vor seinem Ableben aus: „Alles, was wir von Volkswagen haben wollten, haben sie sofort gemacht. Zum Beispiel: Wenn ich nach einem verdächtigen Element gesucht habe, das ich dingfest machen wollte. Dann haben sie mir gesagt, wo ich es finde. Wir waren uns sehr nahe.“ Christopher Kopper gab gegenüber dem ARD-Fernsehteam ebenfalls seine Einschätzung ab: „Ich kann sagen, dass es eine regelmäßige Zusammenarbeit zwischen dem Werkschutz von VW do Brasil und dem Polizeiorgan des Regimes gab.“ Auch für Festnahmen auf dem Werksgelände sieht Kopper die Volkswagen AG in der Verantwortung: „Sie hat die Verhaftungen zugelassen. Möglicherweise hat sie auch durch das Mitteilen von Beobachtungen über das Verteilen kommunistischer Zeitschriften auch einen Beitrag dazu geleistet, dass diese Arbeiter überhaupt von der Polizei erfasst und von der Polizei überführt werden konnten.“

Aus all diesem lässt sich nur folgender Schluss zulässigerweise ziehen: Wenn also dem damaligen Vorstand von VW do Brasil vollumfänglich bekannt war, dass Brasiliens Regime foltern und morden ließ, musste ihnen auch klar gewesen sein, was mit den Menschen passierte, nachdem VW do Brasil Informationen über diese Personen an das Folterregime weitergab. Der damalige Vorstand von VW do Brasil bestand aus deutschen Staatsbürgern, die als direkt aus Wolfsburg Entsandte in Brasilien tätig waren und somit den Volkswagen-Konzern unmittelbar vertraten. Somit trägt Volkswagen die volle Mitverantwortung dafür, dass seine VW do Brasil-Vorstände in São Paulo durch die Informationsweitergabe über eigene Mitarbeiter an das Folterregime wissentlich und billigend in Kauf genommen haben, dass sein ihm weisungsgebunden unterstellter Werkschutz Menschen direkt der Folter ausgeliefert hat. Wie dieses Vorgehen von Volkswagen nicht als vorsätzliche und wissentliche Beihilfe zur Folter gewertet werden kann und VW weiterhin von einer Einzeltäterthese ausgeht, erschließt sich in der Tat nicht.

Die Staatsanwaltschaft von São Paulo hat die Ermittlungen mittlerweile abgeschlossen.

Aus Brasilien wird verlautet, dass es unter Einbeziehung der Staatsanwaltschaft derzeit aussergerichtliche Gespräche zwischen Volkswagen do Brasil und den betroffenen Arbeitern über Entschuldigung und Entschädigung gebe.

Lúcio Bellentani hat eine Entschuldigung seitens Volkswagen nicht mehr erleben dürfen. Er ist am 19. Juni im Alter von 74 Jahren in São Paulo verstorben.

Camarada Lúcio – presente!

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