Filomena Petrona Josefa Morelo Díaz wurde als achtjährige aus ihrem Dorf vertrieben und landete in der kolumbianischen Küstenstadt Cartagena. Dort schlug sie sich einige Jahre alleine auf der Straße durch, bevor sie von einer Afrokolumbianierin aufgenommen wurde. Später lernte sie die christliche Basisgemeinde von Santa Rita kennen, aus der die Stiftung Santa Rita zur Volksbildung (FUNSAREP) hervorging. In deren ehrenamtlichem Vorstand ist die energiegeladene Seniorin noch heute aktiv (siehe den Beitrag „Wir haben das Recht hier zu leben“ in der Februarausgabe 2023 der ila).
„Bei FUNSAREP machen wir alle drei Jahre eine Bestandsaufnahme unserer Arbeit“, berichtet Josefa. „Aber dass wir sagen können, die Frauen, Kinder und Jugendlichen sind jetzt gestärkt und ermächtigt, das hat zehn Jahre gedauert. Mit unseren eigenen Händen, mit Disziplin und Unterstützung von außen haben wir erreicht, was wir erreicht haben.“
Auf dem Markt von Santa Rita kennt man sie als die „Mama Grande“. Sie verkauft Heilkräuter und gibt Ratschläge für Ehepaare, Eltern oder Nachbarschaft, die in Streit geraten sind. Damit sie nicht die Fehler begingen, die sie selbst begangen habe, meint Josefa. Als wir zusammen mit Marisol Díaz für den bolivianischen TV-Sender RTP im Dezember über den spannenden Kampf der Händler*innen zur Erhaltung ihres Gemeindemarktes sprachen (siehe online das Interview in der März-Ausgabe 2023 der ila zum Thema Nachbarschaften), hatten wir auch Gelegenheit, aus Josefas Leben zu erfahren.
Von Josefa Morelo Díaz
Erst seit drei Jahren verkaufe ich hier auf dem Gemeindemarkt von Santa Rita. Aber er beschäftigt mich schon lange. Denn ich komme von der Pfarrei und damals haben wir zusammen mit dem Priester und der Stiftung FUNSAREP das Grundstück besorgt. Die Jesuiten hatten das organisiert, dass dieses Grundstück der Bevölkerung von Santa Rita zur Verfügung gestellt wird.
Ich war ein Straßenmädchen
Wegen meiner bäuerlichen Herkunft habe ich eine noch engere Beziehung zum Markt. Kolumbien hat verschiedene Phasen der Gewalt erlebt. Ich wurde im Jahr 1957 nach Cartagena vertrieben. Damals war ich acht Jahre alt. Ich landete in einem bekannten Viertel der Schwarzen und lebte vier Jahre lang auf der Straße. Ich ging häufig zum Juan-Angola-Kanal, sprach mit den Reihern, befragte die Luft und den Himmel nach meiner Familie und was mit mir geschehen war. Ich kleidete mich wie ein Junge, um mich zu schützen und spielte mit ihnen am Strand Fußball.
Die waren aus Stoff zusammengebunden. Ich war ein Straßenkind, bis mich eine Frau aufgabelte und in das Viertel San Pedro brachte. Sie war selbst Vertriebene. Sie kam aus Turbo (Hafenstadt in der Bananenanbauregion Urabá). Mit dem Verkauf von Suppe, Reis und gebratenem Fisch versorgte sie ihre dreizehn eigenen und eine Reihe weiterer Kinder wie mich.
Mein Land habe ich bei ihr nicht zurückbekommen. Aber ich bekam wieder eine Familie, Umarmungen, die Sorge einer Frau um dieses Mädchen, das ich auf dem Land einst gewesen war. Ich wurde größer und so langsam lernte ich die Geschichte und all das kennen, was die Stadt Cartagena ausmacht, allerdings ohne lesen und schreiben zu können. Einfach durch zuhören reifte mein Bewusstsein heran. Und irgendwann habe ich dann beschlossen, selbst zwölf Kinder zu bekommen, egal von wem. Am Ende wurden es nur sechs, aber sie sind wirklich wunderschön.
Ständige Wanderschaft, um Geld zu verdienen
Ich zog mehrmals innerhalb von Cartagena um. Nach dem, was ich darüber von anderen Frauen gehört hatte, habe ich mich aber immer geweigert, als Hausangestellte zu arbeiten und anderen ihren Dreck wegzumachen. Ich verkaufte Trinkwasser, das ich in Kanistern mit einem Esel transportierte, verkaufte Gebratenes, und anderes, was mir Geld einbrachte. 1979 nach einem großen Streit mit dem Vater meiner letzten Tochter beschloss ich, nach Venezuela zu migrieren. Nach Cartagena kam ich als Monstrum zurück. Aber alles, was ich erlitten hatte, hat mich stärker gemacht. Ich traf die Aktionsgruppe der Pfarrei Santa Rita, die ihr Territorium verteidigen wollten.
Ich verkaufte Lotterielose, fuhr nach Colón in Panama um Waren zu besorgen, die ich hier an die Straßenhändlerinnen in der Innenstadt weiterverkaufen konnte.
Bei FUNSAREP bekam ich das Angebot, mich zur Gesundheitspromotorin ausbilden zu lassen. Sie wussten nicht, dass ich Analphabetin war. Denn auf den Versammlungen bei FUNSAREP ergriff ich immer das Wort. Ich dachte bei mir: Mal schauen, ob diese Intellektuellen mich verstehen? Ich muss heute noch schmunzeln, wenn ich daran denke. Ich hätte mir all das nie erträumt, aber es hat sich im Laufe meines Lebens so ergeben.
Die Lebensfreude und Liebenswürdigkeit in der Pfarrei und bei FUNSAREP hat mich angesteckt und begleitet. Und so bin ich mit der Zeit auch diese Aggressionen losgeworden, die sich in mir durch all das erlittene Leid und Gewalt angestaut hatten. Und so wie bei FUNSAREP so ist das auch hier auf dem Markt. Wir interessieren uns für unsere jeweiligen Vorhaben, wir lachen zusammen.
Mein Heilwissen habe ich von den Indigenen
Mein Wissen über Heilkräuter kommt von den Großmüttern. Sie sind Zenú (indigenes Volk vor allem aus den nördlichen Provizen Córdoba und Urabá). Nachmittags versammelten sie sich unter einem Baum. Und alle die Enkelinnen der unterschiedlichen Bauernhöfe kamen dazu. Die Trommeln wurden geschlagen. Die Mädchen tanzten. Auf einem Tisch breiteten die Frauen all das aus, was sie im Laufe des Tages eingesammelt hatten und erklärten, wofür es jeweils gut ist. Wenn du Bauchschmerzen hast, bereite dir diesen Sud vor. Wenn dir die Haare ausfallen, hilft dies oder jenes…
In den 90er Jahren bin ich dann auch noch einmal dorthin gereist. Im Rucksack habe ich all das gesammelt, an was ich mich noch erinnern konnte. Aus dieser ganzen Geschichte ist auch das Buch „Die Campesina der vier Welten“ entstanden, das in der technischen Universität auf seine Veröffentlichung wartet.
Im Hof einer Cartagenera fühle ich mich zurückversetzt in meine Heimat
In Cartagena habe ich über vierzig verschiedene Viertel kennengelernt. Aber nicht, weil ich viel streite, sondern weil ich dorthin gehe, wohin sie mich als Gesundheitspromotorin rufen. Ich liebe Cartagena und seine Leute. Wenn schlecht von ihnen geredet wird, dann widerspreche ich. Die Leute hier sind herzlich und solidarisch. Wenn ich in den Hof einer Cartagenera komme, wo die Feuerstelle ist, wenn die Frau dann die Kokosnuss schält und den Kindern davon abgibt, die um sie her schwirren, dann fühle ich mich zurückversetzt in meine Heimat. So spüre ich ein wenig auch von meiner Kultur hier mitten in Cartagena.
Ich selbst habe inzwischen neun Enkelkinder und vier Urenkel. Aber ich gehöre zu den Großmüttern, die ihre Enkel anbeten, aber nicht für sie verantwortlich sein wollen. Die Frau, die mich aufgezogen hat, konnte auch nicht lesen und schreiben. Aber ihr war klar, dass die Eltern für ihre Kinder verantwortlich sind. Wenn Kinder kommen, dann sollten sie für diese ihr eigenes Heim schaffen. Wenn sie Hilfe brauchen, gerne. Aber in ihrer Hängematte wollte sie ihre Ruhe haben. Das habe ich von ihr gelernt. Und dass man den Eltern nicht die Liebe ihrer Kinder stehlen soll. Das passiert nämlich, wenn sie mehr bei der Großmutter sind.
Als sich mein ältester Sohn scheiden ließ, kamen seine beiden Kinder für fünf Jahre zu mir. Und sie kommen heute immer noch mit dem Argument, dass ihre Mutter sie nicht verstehe. Obwohl sie auf der anderen Seite von Cartagena leben. Und wenn ich nicht zu Hause bin, dann lassen sie mich rufen. Das ist meist am Wochenende. Sie bringen ein Fläschchen Rum aus Caldas mit, den ich gern mag. Und dann gibt es Suppe, gegrilltes Fleisch, eine Zigarre und sie fragen mich, ob ich ihnen ein Lied vorsingen mag. Wenn sie bei mir wohnen würden, wäre das anders. Die jungen Leute sind ja auch mit FUNSAREP und den basischristlichen Gruppen aufgewachsen und haben die Werte des Respekts, der Liebe und der Herzlichkeit gelernt. Ich bin eine glückliche Oma.
An meinem Marktstand gibt es Kaffee, Heilkräuter und gute Ratschläge
Hier am Stand bekommen die Leute eine Tasse Kaffee. Sie bekommen Chicha und ein Gespräch angeboten. Hier sind immer Leute am reden. Manche setzen sich nur hin, um nach Rat zu fragen. Andere wollen etwas kaufen. Wieder andere lassen sich zeigen, wie man sich um die Pflanzen kümmert, wie der Dünger auf die Erde aufgebracht wird, wie viel Wasser die Pflanzen benötigen. Alle Gespräche haben auch eine pädagogische Funktion. Wenn jemand traurig ist, kommt sie zu mir. Vielleicht weil sie die Arbeit verloren oder weil sie mit den Nachbarn, dem Bruder oder Ehemann gestritten hat. Ich suche dann immer nach einem wichtigen Motiv, nicht das zu tun, was ich selbst getan habe.
Wenn es bei mir Streit gab, folgte die Trennung und ich blieb alleine. Niemand gab mir damals Rat und ich hörte auch auf niemanden. Heute ist mein Motto, dass man immer beide Seiten anhören soll. Und ich rede mit allen zunächst getrennt, bis wir das Puzzle zusammen haben und es gemeinsam besprechen können. Damit sie das Problem, das ihnen vorher riesengroß erschienen ist, so bearbeiten können, dass sie danach zufrieden sein können. Erst wenn es wirklich keine Lösung gibt, dann entscheiden die Leute selbst, sich zu trennen. Ich entscheide da gar nichts. Auch keine Eltern oder Großeltern sollten da hineinreden.
Dazu kommen dann noch die Rituale
Um den Prozess zu unterstützen, habe ich eine Pflanze, die destrancadera (Entsperrung) genannt wird. Denn manchmal haben wir so viel Wut in uns, dass wir einfach nicht voran kommen. Und es gibt noch viele andere Pflanzen wie die Zitronenmelisse, Salbei, Eukalyptus, Leinsamen, Oregano, Bikarbonat … Gerade bin ich dabei cascarilla abzupacken. Das kommt von einem Strauch und hilft aufgebrüht, um bei Husten den Hals zu gurgeln und die Entzündung der Bronchien zu mildern. Und Meerwasser verwenden wir auch vermischt mit Säften etwa von Salbei. Dazu kommen dann noch die Rituale.