Von Marcus Christoph
Es begann mit einer eher skurrilen Situation. Carlota Salomón, seit 26 Jahren Ärztin am Krankenhaus „José María Penna“ im Buenos-Aires-Stadtteil Parque Patricios, hatte sich die aufwändige Schutzkleidung angezogen und näherte sich ihrer ersten Coronavirus-Patientin, um dieser Blut abzunehmen. Die Ärztin sah, wie sich die im Krankenbett liegende Frau vor dem Astronautenanblick erschrak.
Doch das Unwohlsein war ganz beiderseits: „Zum Glück konnte die Patientin nicht sehen, dass ich selber auch Angst hatte“, berichtet Salomón. Dies lag daran, dass vom Gesicht der Medizinerin aufgrund von Schutzbrille, Mundschutz und Helm kaum etwas zu erkennen war. „Es war frappierend zu sehen, wie sich der Umgang zwischen Ärztin und Patientin mit Beginn der Pandemie änderte“, blickt Salomón zurück.
Dora, die Patientin, hatte die Symptome einer mittelschweren Lungenentzündung. Die 56-Jährige konnte zum Glück nach einigen Tagen wieder als genesen entlassen werden. Aber sie muss sich vorgekommen sein wie in einem schlechten Film. Die Szene reflektiert, wie ungewohnt der Umgang anfangs mit der Seuche in Argentinien war.
Öffentliches Krankenhaus
Im Hospital Penna, einem von 13 öffentlichen Akutkrankenhäusern in der Hauptstadt, hatte man Mitte März damit begonnen, 36 Betten für potenzielle Corona-Patient*innen vorzubereiten und freizuhalten. Ein ganzer Trakt in dem Krankenhaus im Süden von Buenos Aires. Da dies genau den Bereich betraf, wo Salomón auch in normalen Zeiten ihre Patienten betreut, war die Internistin von Beginn an an vorderster Front im Kampf gegen die Pandemie dabei.
Sie koordiniert den Einsatz von 15 Ärzt*innen, darunter zwei Infektiologinnen, sowie 20 Krankenschwestern und Pflegern. Eine harte Erfahrung mit Infektionskrankheiten hatte Salomón bereits in früheren Jahren gemacht, als sie freiwillig in den Elendsvierteln („Villas“) des Großraums Buenos Aires arbeitete und sich mit Tuberkulose ansteckte.
Im Hospital verliefen die ersten Wochen seit Fertigstellung der Corona-Station – gemessen an den ursprünglichen Befürchtungen – zunächst noch relativ ruhig. Bei vielen Patienten, die eingeliefert wurden, stellte sich nach einigen Tagen heraus, dass sie Corona-negativ waren. Oftmals litten sie stattdessen an Dengue-Fieber. Die tropische Infektionskrankheit, die durch Mückenstiche übertragen wird, grassiert derzeit ebenfalls in Buenos Aires und Umgebung. Besonders die Armenviertel im Süden der Hauptstadt sind davon betroffen. Die Symptome ähneln zum Teil denen von Covid-19.
Große Unsicherheit
Kennzeichnend für die Arbeit während der ersten Corona-Monate war vor allem eine große Unsicherheit: „Wenn man morgens zur Arbeit fuhr, wusste man überhaupt nicht, was einen erwartete“, schildert Salomón. Manche Tage verliefen sehr ruhig. Andere wiederum hatten es in sich: Als Ende April ein Corona-positiver Mann aus dem nahe gelegenen Obdachlosenheim „Ernesto ‚Che‘ Guevara“ eingeliefert wurde, war die Befürchtung groß, dass dies nur die Spitze des Eisbergs sein könnte. Schließlich wohnen in der Einrichtung viele Menschen auf engem Raum. Doch glücklicherweise bestätigte sich die pessimistische Annahme nicht.
Aber letztlich scheint es gegenwärtig nur eine Frage der Zeit zu sein, dass die vorgesehenen Kapazitäten voll ausgeschöpft werden müssen. Vor wenigen Tagen wurde ein Patient aus einer Psychiatrie ins Krankenhaus Penna überstellt. Auch hier besteht die Sorge, dass die Person nicht der einzige Corona-Fall aus dieser Einrichtung bleibt.
Eine Zeitbombe sind diesbezüglich vor allem die erwähnten „Villas“. Zum Einzugsbereich des Krankenhauses gehören mehrere dieser Problembezirke, wo wenig Platz für viele Menschen ist. Zuletzt wurde eine komplette Familie aus einer „Villa“ eingeliefert. Dies dürfte nur der Anfang sein.
Stark steigende Tendenz
Seit Mitte März wurden 64 Corona-Patienten ins Hospital Penna behandelt – mit zuletzt stark steigender Tendenz. Derzeit kommen pro Tag drei bis fünf neue Patient*innen hinzu, berichtet Salomón. Getestet werden viel mehr. Leichtere Fälle bringt man in Hotels der Hauptstadt unter.
Ein 48-jähriger Mann war bislang der einzige Patient, der im Krankenhaus Penna an dem Virus starb. Er hatte Diabetes und Chagas als Vorerkrankungen. Nach zwei Tagen in Salomóns Station wurde er auf die Intensivstation überwiesen. Doch sein Leben war nicht zu retten.
Die Ausstattung eines öffentlichen Krankenhauses in Argentinien, das für In- und Ausländer eine kostenlose Versorgung anbietet, ist eher spartanisch – nicht vergleichbar mit Krankenhäusern etwa in Deutschland. So gibt es im Corona-Trakt des Hospital Penna nur zwei Betten mit Einzelbad. Die Patienten der restlichen Betten müssen sich die sanitären Einrichtungen teilen. Derzeit sind Personen, bei denen noch untersucht wird, ob sie sich angesteckt haben, im ersten Stock untergebracht. Sie sind getrennt von denjenigen, die bereits positiv auf Corona getestet wurden und im Erdgeschoss liegen.
Schnellere Tests
„Zum Glück gibt es jetzt schnellere Tests“, freut sich Salomón. Vor wenigen Tagen erst ist es argentinischen Forscher*innen gelungen, ein eigenes Testverfahren zu entwickeln. Dies ist wichtig, damit Personen mit Symptomen, die möglicherweise gar nicht infiziert sind, sich nicht über Gebühr lange im Krankenhaus aufhalten und sich dort vielleicht gar anstecken.
Im Hospital Penna wurde zudem eine moderne Teststation eingerichtet, zu deren Einweihung kein Geringerer als Horacio Rodríguez Larreta erschien. Der Regierende Bürgermeister der Hauptstadt gehört zwar – auf nationale Ebene bezogen – dem Oppositionslager an. Doch in Sachen Pandemie-Bekämpfung fährt der 54-Jährige einen ähnlich konsequenten Kurs wie der peronistische Staatspräsident Alberto Fernández.
Gemeinsam ist gelungen, die Infektionszahlen in Argentinien vergleichsweise niedrig zu halten. Bis zum 22. Mai waren landesweit 9931 Infektionen und 419 Todesfälle zu verzeichnen (Quelle Johns Hopkins University). Andere lateinamerikanische Länder stehen weit schlechter da. Doch der Scheitelpunkt der Pandemie ist auch in Argentinien noch nicht erreicht. Den erwartet Salomón für Juni, wenn nicht gar erst für Juli.
Versäumnisse im Gesundheitssystem
Dass führende Politiker*innen gegensätzlicher politischer Lager an einem Strang ziehen, begrüßt die Ärztin wie auch die allgemeine Quarantäne: „Das ist eine gute Maßnahme für unser Land, in dem Mittel und Ressourcen so unterschiedlich verteilt sind.“ Die Corona-Krise mache zum einen die Missstände und Versäumnisse im öffentlichen Gesundheitssystem deutlich. So war während der Amtszeit des marktliberalen Präsidenten Mauricio Macri (2015-19) das Gesundheitsministerium zu einem Sekretariat degradiert worden. Krankenhausbauten wurden nicht vollendet. Jetzt werden im Eiltempo provisorische Hospitäler aus dem Boden gestampft.
Andererseits zeige die Pandemie laut Salomón aber auch, dass ein öffentliches Gesundheitssystem notwendig sei: „Ein rein privates Systems würde das nicht leisten können.“ Durch den aktuellen Fokus der Medienberichterstattung sei vielen Menschen bewusst geworden, wie schlecht die Beschäftigten im Gesundheitsbereich bezahlt würden. „Im Vergleich zu den Ärztegehältern in Deutschland ist der Job hier ja fast ein Ehrenamt“, bemerkt die Ärztin leicht ironisch. „Um gut zu verdienen, arbeiten viele parallel in zwei oder gar drei Krankenhäusern oder Arztpraxen.“
Dies vergrößert aber auch das Risiko, das Virus zu verbreiten. Zuletzt gab es in mehreren Kliniken von Buenos Aires Fälle, in denen Personal positiv getestet wurde. Gleichwohl sei jetzt während der Krise nicht der richtige Moment, Gehaltsforderungen zu stellen, meint Salomón. Dies müsse stattdessen nach der Pandemie neu verhandelt werden.
Allabendlicher Applaus
Als Motivation empfindet die Ärztin den allabendlichen Applaus, den die Bürger*innen den Beschäftigten des Gesundheitsbereichs zollen. „Die Anerkennung durch die Leute ist sehr befriedigend.“ Gleichwohl ist der Beifall nach zwei Monaten Quarantäne allmählich merkbar abgeklungen. Die Menschen scheinen nach bald neun Wochen ein wenig müde vom staatlich verordneten „Stubenarrest“ zu sein.
Was die Belegschaft betrifft, erzählt Salomón, dass einige Kolleg*innen mit Verweis auf eigene gesundheitliche Probleme nicht mithelfen können. Andererseits haben sich junge Ärztinnen und Ärzte bewusst freiwillig zum Einsatz gegen die Pandemie gemeldet. Unter dem Strich meint sie, dass es in der Stadt Buenos Aires ausreichend medizinisches Personal gibt. Engpässe könne es eher in den Armenvierteln des Vorortgürtels um die Stadt herum geben.
Im Hospital Penna hat sich mit den Wochen das Personal eingespielt: „Am Anfang hatten alle irgendwie Angst vor einer neuen Krankheit. Es gab jeden Tag neue Informationen. Aber im Lauf der Zeit hat sich ein Gemeinschaftsgeist entwickelt, gemeinsam zu kämpfen. Das ist etwas Gutes.“
Immerhin etwas, was Mut macht für die kommenden harten Wochen. Denn die Säle im Krankenhaus füllen sich zusehends – aber zumindest hat die Ärztin nun keine Angst mehr.
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