Als Kind der Nachkriegszeit – in den 90er Jahren geboren -, hätte ich nie gedacht, dass ich eine brutale Diktatur erleben würde, von der mir meine Eltern und Großeltern erzählt haben. Ich bin ein Kind der Generationen des neuen Jahrtausends, die von den Kindern der Sandinistischen Volksrevolution als apathisch gegenüber der sozialen Realität, als unpolitisch, als „soziale Netzwerkaktivisten“ abqualifiziert wurde, die nicht zu kämpfen wissen. Seit etwas mehr als zwei Monaten zeigt meine Generation das Gegenteil. Wir gingen auf die Straße, um die Diktatur zu bekämpfen, ohne Banner, aber mit unseren Umwelt- und Gerechtigkeitsfahnen, fast ohne Wissen, wie man eine Studierendenbewegung organisiert, geschweige denn einen politischen Kampf, und ohne das Wissen, wie man sich vor staatlich bezahlten Attentätern verteidigt. All dies mussten wir in sehr kurzer Zeit lernen. Es war überwältigend und anstrengend. Wir werden nie mehr so sein wie früher.
Jetzt, nach zwei Monaten des zivilen Aufstands, habe ich mehr Fragen als Gewissheiten. Wie lange werden wir in der Lage sein, so viel Brutalität zu widerstehen? Ist ein Dialog mit einer völkermörderischen Regierung als Gesprächspartner überhaupt möglich? Wie können wir das Schweigen der Regierungen fast ganz Mittelamerikas interpretieren? Was können wir aus dem Schweigen einiger Aktivisten und Wissenschaftler der lateinamerikanischen Linken herauslesen? „Wir müssen mit der Kultur des Schweigens brechen“, schreibt die nicaraguanische Studentin Fiore Stela Bran Aragón in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift envío (hier der komplette Text, von Manfred Liebel übersetzt ins Deutsche).
„Im Moment haben wir eine Pattsituation“, heißt es in einem anderen Bericht aus Nicaragua vom gestrigen Donnerstag: „Die Regierung schafft es nicht, mit roher Gewalt die Proteste abzuwürgen und die Protestierenden schaffen es nicht, Ortega an den Verhandlungstisch zu bringen oder/und dass er abtritt. War die Zahl der täglichen Morde zwischenzeitlich zurückgegangen, ist sie in den letzten Tagen wieder gestiegen. Es wird immer mehr zu einem Krieg gegen das eigene Volk. Systematisch werden jetzt in jedem Ort die Barrikaden brutal gestürmt und die Bevölkerung eingeschüchtert durch willkürliche und teilweise gezielte Entführungen (Verhaftungen durch illegale Milizen), durch weiteren Einsatz der Scharfschützen, schmutzige Medienkampagnen, Entlassungen, Bedrohungen etc. Inzwischen setzt die Regierung auch Kriegswaffen wie z. B. Granatwerfer gegen die Bevölkerung ein. Man sieht Fotos, wo die Menschen ihre toten Angehörigen auf Handkarren nach Hause schieben. Krankenhäuser werden von den Staatsmilizen besetzt, damit die Verletzten dort nicht behandelt werden können. Priester werden daran gehindert, am Kriegsschauplatz zu vermitteln.
Doch trotz aller Repression gab es am 12. Juli wieder eine beeindruckende Demonstration der Protestbewegung. In Managua, Jinotega, Matagalpa, Chinandega, León und Masaya sind wieder Zehntausende marschiert. Heute geht es mit einem eintägigen Generalstreik weiter.
Am Sonntag berichtete die Presse von 11-14 Toten in Carazo. Laut Aussage vom CENIDH sind es doppelt so viel (24 Tote). Am Montag saßen noch ein Dutzend Protestierende in einer Kirche in Diriamba fest. Kardinal Brenes, Weihbischof Baez und der Nuntius fuhren – begleitet von nationaler und internationaler Presse – nach Diriamba, um zu vermitteln. Unterwegs wurden sie von vielen Menschen gegrüßt. Doch in Diriamba hatten die vermummten Milizen das Gebiet und die Kirche unter Kontrolle und es gab ein paar Pro-Regierungsdemonstranten, die die Gruppe aus Managua zuerst verbal angriffen (Mörder…) und sich jedem Dialog mit dem Kardinal verweigerten. Stattdessen drängten sie in die Kirche, verletzten u. a. den Weihbischof, den Nuntius und Journalisten und zerstörten die Inneneinrichtung sowie Kameras der Reporter. Hinterher stellte sich heraus, dass die Hauptakteurin Schwester der Gesundheitsministerin ist, die Anweisungen gegeben hat, Demonstranten nicht zu behandeln. Die Vizepräsidentin entschuldigte das Verhalten der Eindringlinge mit dem Hinweis, dass jeder ein Recht habe, seine Emotionen zu äußern…
Terrorwelle, Sippenhaft, Selbstjustiz
Auch sonst geht die Terrorwelle weiter. Gezielt werden Personen durch illegale Milizen fest genommen und sollen als Terroristen angeklagt werden. Wenn die Betroffenen nicht angetroffen werden, lassen die Milizen ausrichten, dass wenn sie sich nicht stellen, die Mutter oder die Großmutter dran glauben müssten. Ein Polizist, der gekündigt hatte, wurde durch Kopfschuss ermordet. Seine Mutter macht die Polizei dafür verantwortlich und sagt, dass sie selber bedroht wird.
Aus dem Norden wird berichtet, dass die vermummten Milizen alleine gestern fünf Fincas überfallen haben und dort Autos, Vieh etc. mitgenommen haben. Gerade kam die Nachricht rein, das in Morrito (Dep. Río San Juan) vier Menschen ums Leben gekommen sind. In Wiwilí wurde ein Angehöriger des Militärs tot aufgefunden. Er soll an der Ermordung eines Protestierenden auf einer Barrikade beteiligt gewesen sein. Unter diesen Umständen wird es immer wahrscheinlicher, dass die betroffenen Nicaraguaner wie in Wiwilí die Justiz in die eignen Hände nehmen und dass es zu einem Bürgerkrieg kommt.
Die neue Bilanz der nationalen Versammlung für Menschenrechte (10.07.)
351 Tote (die interamerikanische Menschenrechtskommission spricht von 261 Toten). Ein Artikel in der Prensa nennt die die Todesursachen: Von den 309 Toten (Quelle ANPDH) bis Ende Juni sind 253 durch Schussverletzungen ums Leben gekommen. 198 starben durch einen einzigen Schuss, der meist von schräg oben kam und in 127 Fällen wiesen die Toten Schussverletzungen im Oberkörper und Kopf auf. Nur 2 Tote sind durch „morteros“ (selbstgebaute Abschussvorrichtungen für Böller, die hier meist bei Festen eingesetzt werden und nun als Verteidigungswaffe von den Protestierenden benutzt werden) gestorben.
2.100 Verletzte
261 Verschwundene
Allein im Juli gab es laut CENIDH bislang 149 illegale Festnahmen durch die Milizen.
Und am Freitag dann neue besorgniserregende Informationen über die Situation der Studentinnen und Studenten, die die UNAN (Nationale Universität) besetzt hielten: „Die Regierung hatte angekündigt, dass Montag der Universitätsbetrieb wieder aufgenommen wird. Gleichzeitig wurden einige Häuser in der Nähe der UNAN geräumt und den Studenten wurde Strom und Wasser abgestellt. Über acht Stunden lang wurde dann die besetzte Universität von vier Seiten mit schweren Waffen beschossen. Etwa 50 Bewaffnete hatten die Universität unter Dauerbeschuss genommen. Zur gleichen Zeit fand eine außerordentliche Sitzung der OEA statt. Und Luis Almagro forderte die Einstellung des Angriffs auf die Universität. Gleichzeitig wurde auf allen Kanälen eine Rede Daniel Ortegas übertragen. Dadurch wurden die Direktübertragungen von dem Angriff auf die Universität unterbunden. Ein Teil der Studenten und Studentinnen hat sich in eine Kirche geflüchtet. Diese wurde dann umstellt und auch beschossen. Bislang sind fünf Verletzte bekannt, aber Genaueres wird man erst am Samstag wissen (es gibt Hinweise, dass wieder fünf Menschen getötet wurden, Nachtrag Samstag).
Internationale Begleitung
Schon am Mittwoch hatte es eine außerordentliche Sitzung der OEA zu Nicaragua gegeben. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) benannte glasklar die Verletzung der Menschenrechte durch die nicaraguanische Regierung und forderte wieder die Einstellung aller Gewalt gegen die Zivilgesellschaft. Die nicaraguanische Regierung wies alles zurück und sprach von einem angestrebten Staatsstreich durch die Demonstranten. 12 Länder vor allem aus Südamerika verurteilten das Verhalten der nicaraguanischen Regierung und forderten zum Teil Neuwahlen. Venezuela unterstützte offen das Regime in Nicaragua und Bolivien steht auch eher auf Seiten von Ortega. Die Karibikstaaten sowie die mittelamerikanischen Staaten bis auf Costa Rica und Honduras schweigen weiterhin. In zwei Orten ist es der Interamerikanischen Menschenrechtskommission gelungen, dass die Gefangenen frei gelassen wurden. Die Mitglieder der CIDH haben ihr Entsetzen darüber geäußert, wie sehr sich die Lage seit dem 30.05 verschlechtert hat.
Dialog?
Die Bischofskonferenz hat trotz der negativen Haltung der Regierung entschieden, weiter am Dialog festzuhalten, da dies der einzige Verhandlungskanal ist. Montag soll es ein erneutes Treffen geben“, endet der Bericht, den latinorama wenige Tage vor dem Jubiläum der sandinistischen Revolution dokumentiert.
Aufruf unterschreiben:
Auf der Homepage des Informationsbüros Nicaragua kann eine Solidaritätserklärung für eine demokratisches und sozial gerechtes Nicaragua zum 19. Juli, dem Jahrestag der sandinistischen Revolution unterschrieben werden.
Weitere Hintergrundinformation:
in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika
Titelfoto: Die sandinistische Revolution auf den Kopf gestellt, Textfotos: Eine Generation, die auch zu kämpfen weiss, Gedenken an die Ermordeten, Demonstration am Muttertag: Meiner Mutter hat mich nicht neun Monate ausgetragen, damit die Diktatur mir in 42 Tagen das Leben nimmt (Quelle: M. Liebel)