vonPeter Strack 25.10.2025

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Soledad Domínguez hat für das Zentrum zur Förderung von Frauen „Gregoria Apaza“ die Lebensgeschichten von zehn Frauen in El Alto aufgeschrieben, die durch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit sowie soziale und politische Beteiligung herausragen.

Buchtitel

Daraus ist das im September 2025 erschienene Buch „Mujeres Alteñas – Autonomía Económica y Poder“ entstanden. In stark gekürzter Form veröffentlichen wir auf Latinorama das Porträt von Soledad Chapetón: 1980 geboren, aus einfachen Verhältnissen kommend hat sie studiert und wurde später Bürgermeisterin von El Alto. Ende Oktober tritt sie im neu gewählten bolivianischen Parlament für das Parteienbündnis Unidad ihr Amt als Senatorin von La Paz an.

von Soledad Domínguez

Steine gab es im Überfluss auf dem Weg hinter der letzten Bushaltestelle und den letzten Häusern hinter dem Abzweig nach Viacha. Und diese Steine nahmen die Mitglieder der Familie Chapetón Tancara immer dann mit, wenn sie von ihren Tätigkeiten zurück zu ihrem Haus kamen, das mitten im Nirgendwo lag.

Ein Haus in El Alto

Damals wohnten dort sechs Personen: Die Mutter, die mit dem Verkauf von Fisch vom Titikaka-See Geld verdiente; der Vater, der als Polizist über Wochen nicht nach Hause kam; die beiden älteren Söhne, die neben der Schule kehrten, die Wäsche wuschen, kochten und die beiden kleinen Schwestern kämmten und zurecht machten. Auch sie brachten, wenn sie von der Schule zurück kamen, soweit es die Kräfte zuließen, kleinere Steine mit. Ansonsten spielten sie viel. Soledad erinnert sich, dass der Mangel damals ihre Kreativität angeregt hat: Unsere Puppen waren Glasflaschen, denen wir mit Plastikbeuteln Kleider verpassten.

Carmen Soledad fand als Jüngste gewöhnlich keine Ausreden, um das Haus verlassen zu können. So war sie dazu verurteilt, auch die Suppen zu essen, die der Vater dann zubereitete, wenn er mal für wenige Tage dienstfrei hatte. Er konnte zwar nicht so gut kochen wie die Mutter oder die Brüder. Aber dafür konnte er umgraben und säen, Lehmziegel herstellen, Mauern errichten und Dächer decken. Damals gab es einen großen sonnigen Hof, ein paar Pflanzen, zwei oder drei lebhafte Hunde, Hühner, die Eier legten und ein paar eingepferchte Schweine. Die Hütte bestand nur aus einer Küche und einem großen Zimmer, in dem alle schliefen. Da die Brüder schon Jugendliche waren, baten sie den Vater, wenigsten ein weiteres Zimmer zu bauen. So machte der sich dann an die Arbeit, immer wenn er vom Dienst nach Hause kam. Mit den Jahren wurde aus der Hütte ein zweistöckiges wohnliches Haus.

Porträt aus dem Buch „Crónicas de Mujeres Alteñas“, Quelle: CPMGA

Wirtschaftlich unabhängig werden

Mit 17 Jahren machte Soledad ihr Abitur und mit 18 begann sie ein Studium der Erziehungswissenschaften an der staatlichen Universität San Andrés von La Paz. Doch nach einem Jahr wurden die wirtschaftlichen Engpässe ihrer Familie spürbar. Ihr fehlte Geld, um Fotokopien und Lehrbücher, aber auch die Busfahrten von El Alto hinunter nach La Paz und abends zurück nach Hause zu bezahlen. So begann sie in einem Geschäft an der Kante von El Alto zu arbeiten, in dem Stempel verkauft wurden. Die junge Frau nahm die Bestellungen entgegen und gab die Wünsche an den Designer weiter. Sie lernte auch, Anstecker für Abitursfeiern zu fabrizieren. Drei Jahre lang arbeitete sie im Geschäft von Don Serafín. Dies mit flexiblen Zeiten, die sie an die Anforderungen des Studiums anpassen konnte. Trotzdem schaffte sie ihren Abschluss nicht innerhalb der fünf Jahre, wie sie es versprochen hatte. So bewarb sie sich in ihrem letzten Studienjahr um einen Bibliothekarsposten, bekam die beste Bewertung und damit auch die Stelle.

Am Eingang zur staatlichen Universität San Andrés in La Paz, Foto: Peter Strack

Bei acht Arbeitsstunden pro Tag in der Bibliothek von Villa Adela reduzierte Soledad ihr Studium auf das Nötigste. Manchmal reichte es nicht, um nach der Arbeit rechtzeitig zur Universität zu kommen. Manche Lehrkräfte hatten dafür kein Verständnis und verschlossen ihr die Tür. So dauerte es noch zwei weitere Jahre, bis sie ihr Studium beenden konnte. Kurz davor absolvierte sie noch ein Praktikum in einer Stiftung, die sich um Kinder und Erwachsene kümmerte, die auf der Straße leben. Die Auseinandersetzung mit so viel Gewalt und enttäuschten Hoffnungen ließ sie vorsichtiger durchs Leben gehen.

Familie ist wichtig: Der Weg in die Politik

Soledad Chapetón begann im Jahr 2005, sich auch politisch zu engagieren. Sie war verliebt in einen Jugendlichen, der heute ihr Ehemann ist. Angesichts der bevorstehenden Wahlen beschlossen sie, sich gemeinsam über die Parteiprogramme zu informieren. Bei ihr, betont Soledad, blieb eine Idee aus einem Faltblatt der Unidad Nacional hängen. Dort war davon die Rede, das Humankapital zurückzuholen, das ins Ausland gegangen war. So wie einer ihrer Brüder, der in Brasilien ein Auskommen gefunden hatte. „Ich hatte auch eine Freundin, deren Mutter schon migriert ist, als sie noch klein war. Die Mutter schickte zwar Geld und Waren, aber die Anwesenheit der Familie ist doch immer wichtig. So bin ich zur Politik gekommen.“

In der kollektiven Erinnerung der Bevölkerung von El Alto waren damals noch die Ereignisse aus dem Oktober 2003 lebendig: Der Volksaufstand gegen die Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada und insbesondere das Massaker des Militärs in Senkata. Die politische Stimmung war angespannt: Die Kämpfe gegen die Privatisierung der Wasserwerke in Cochabamba, die Forderungen, die Erdöl- und Erdgasvorkommen zu verstaatlichen und den indigenen Völkern Land und Würde zu garantieren. Eine verfassungsgebende Versammlung sollte zur Neugründung Boliviens führen. Hinzu kam der Druck der Eliten aus dem Tiefland, die die Autonomie ihrer Regionen stärken wollten, um ihre Macht zu erhalten. Und Soledad identifizierte sich mit jenem Vorschlag, der sich in dieser Konfrontation wie eine politisch-ideologische Nische darstellte. „Ich sagte mir: Don Samuel (Doria Medina, Parteichef von Unidad Nacional) versteht, was wir empfinden, wenn ein Angehöriger die Familie verlässt.

In der Verfassungsgebenden Versammlung

Und so wurde Soledad Chapetón angesichts fehlender Chancen für Fachleute aus der Mittelschicht, eine würdige Arbeit zu finden, zu einer zentralen Figur in der Partei Unidad Nacional (UN). Noch nicht während der Wahlen im Dezember 2005, aber im Laufe der Zeit. Zunächst als Sympathisantin, später als aktives Mitglied der Basis gewann Soledad die Aufmerksamkeit der Parteifunktionäre. Die waren auf der Suche nach Kandidat*innen für die Verfassungsgebende Versammlung, die die frisch gewählte Regierung der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) einberufen hatte.

Sie sind eine der wenigen Frauen hier in El Alto, die für so ein Amt qualifiziert sind“, sagte ihr ein Funktionär. Soledad war davon sehr angetan, aber auch erschrocken und verwirrt. „Trau dich, das schaffst du“, meinte ihre Mutter. Doch der Vater zweifelte: „Hast du Geld für eine Wahlkampagne?“ Natürlich nicht und deshalb fragte sie Don Luis von der Partei in El Alto, ob sie Geld benötigen würde. „Uy, ja, man muss schließlich Essen für die Leute besorgen, Treffen organisieren, einladen. Wenn du kein Geld dafür hast, kannst du einen Schritt zur Seite machen. Es gibt genug Leute in der Warteliste.“ Soledad erkundigte sich bei der Parteiführung in La Paz. “Geld brauchst du nicht“, hieß es dort. „Wir werden dir alles nötige Material geben. Aber du musst dich Vollzeit einbringen.“ Der Wahlkreis 15 war sehr groß. Das tat Soledad und erhielt auch einen der verfügbaren Sitze. Am 6. August begann sie in Sucre mit der Arbeit an der Seite von sieben weiteren Abgeordneten ihrer Partei, alles Männer.

Bei einer Stimmabgabe im Wahlbüro, Foto: Facebook Soledad Chapetón

Bis zum Dezember 2007 kämpfte die Mehrheitsfraktion der MAS um eine neue Verfassung, während die Minderheiten diese boykottierten. Die Forderung der Bevölkerung von Sucre, dass ihre Stadt nicht nur Hauptstadt sondern auch Regierungssitz werden sollte und die sofortige Unterstützung dafür aus dem Tiefland brachten die Verfassungsgebende Versammlung fast zum Scheitern. Doch nach 18 Monaten verabschiedete die Mehrheitsfraktion den neuen Verfassungstext. „Es gab vorherige interne Absprachen zwischen den Fraktionen. Das hat mich desillusioniert“, erinnert sich Chapetón. „Dieser Teil der Debatte fehlte in der Versammlung. Es fehlte ganz offensichtlich auch die Zeit dafür“.

Moderatorin in Radio und Fernsehen

Trotz dieses bitteren Beigeschmacks der Verfassungsgebenden Versammlung warf Soledad politisch nicht das Handtuch. Sie wollte keine Zuschauerin sein und hatte verschiedene Pläne. Einer davon war ein Radioprogramm. „Das wurde im Radio Integración ausgestrahlt und von Don Samuel (Doria Medina) bezahlt. Mein Ziel war es, alle die guten Seiten von El Alto zu zeigen.“ Aber sie zeigte nicht nur die schöne Seite von El Alto, sondern als Moderatorin gab sie den Menschen auch die Möglichkeit, etwa gegen Unsicherheit und Kriminalität zu protestieren. „2010 schlug mir Samuel vor, für das Bürgermeisteramt von El Alto zu kandidieren“, erzählt Soledad, und „er sei sich vollkommen bewusst, dass es die Zeit der MAS sei, die von vielen Menschen in El Alto unterstützt werden würde.“ Soledad landete mit 31 Prozent auf dem zweiten Platz hinter Edgar Patana, der für die MAS 39 Prozent der Stimmen erhielt. Soledad Chapetón widmete sich danach einem täglich einstündigen Fernseh-Programm mit dem Titel „La Casa de los Alteños” und leitete ein Rechtsberatungsbüro mit dem gleichen Namen. “Die Miete zahlte Samuel. Die Rechtsanwält*innen, ein Architekt und eine Psychologin arbeiteten ehrenamtlich wie ich selbst auch. Mein Geld verdiente ich währenddessen in einer sozialen Stiftung.“

So erwarb Soledad Chapetón bis 2015 nicht nur mehr Unterstützung des Parteiapparates von Unidad Nacional, sondern auch eine tiefere Kenntnis der Bedürfnisse der Bevölkerung von El Alto. Auch so war der Wahlkampf schwierig. Soledad Chapetón galt als Gegnerin der Regierung. Auf den Märkten tauchten Leute auf, die ihr sagten, sie dürfe dort nicht auftreten. „Aber ich ließ mich nicht zum Schweigen bringen. Mir war klar, dass ich nicht die Sprecher*innen der lokalen Organisationen überzeugen musste, sondern die Menschen an der Basis.“ Und so wurde Soledad Chapeton am 29. März 2015 mit 54 Prozent der Stimmen zur ersten Bürgermeisterin von El Alto gewählt.

Straßenwahlkampf in El Alto 2025, Foto: Facebook Soledad Chapetón

Bürgermeisterin von El Alto: Machtkampf mit den Nachbarschaftsorganisationen

An ihrem ersten Tag im Amt wechselte Chapetón die Dezernent*innen aus, schuf die Abteilung für öffentliche Sicherheit neu und strich oder fusionierte dafür andere, die sie für überflüssig hielt. Aber mit der Ernennung der Unterbürgermeister*innen für die 14 Distrikte von El Alto begann ein Machtkampf mit den Nachbarschaftsvereinigungen. Die hatten diese Posten bislang besetzt. „Es gab Erklärungen der Dachverbände dieser sozialen Organisationen, die meine Ernennungen ablehnten.“ In einer Sitzung mit hundert Vertreter*innen der Nachbarschaftsorganisationen, Elternbeiräten, der Verbände der Schülerinnen und Schüler und der Verkäufer*innen und des Handwerks gab es keine Einigung. Schon am nächsten Tag kündigten diese Organisationen den Generalstreik gegen die Bürgermeisterin an. Die lud zu einer Pressekonferenz ein. „Ich hatte im Bürgermeisteramt Scheinverträge entdeckt, mit denen einige Kinder von Sprecher*innen der Organisationen Geld verdienten, ohne dafür zu arbeiten. Selbstverständlich war es in der kurzen Zeit nicht möglich, alles aufzudecken. Aber das Wenige, was ich kannte, machte ich öffentlich.“ Und so schloss sich die Bevölkerung dem Streikaufruf nicht an. “Lasst sie doch erst einmal arbeiten“, sagten die Leute vor den Fernsehkameras, „sie ist doch gerade erst einen Tag im Amt.“

Wieder kam es zu einem Treffen. “Du wirst uns nicht sagen, was wir zu tun haben“, schrie sie ein Sprecher an. Doch die Bürgermeisterin bremste ihn aus: “Wenn sie mir gegenüber keinen Respekt zeigen, dann muss ich sie auch nicht respektieren.“ Sie drohten, die Sitzung zu verlassen. „Macht, was ihr wollt. Respekt verlangt Gegenseitigkeit“, antwortete sie und so wurde der Dialog erneut abgebrochen. Einen Monat lang dauerte der Konflikt an. Stück für Stück konnten Lösungen gefunden und die Wut einzelner Sprecher*innen gemildert werden. Sie verteidigte ihr Amt, in dem sie Drohungen öffentlich machte und geduldig Erklärungen abgab: „Das Kommunalgesetz autorisiert die Bürgermeisterin, die Distriktbürgermeister*innnen auszuwählen. Zumal ich niemanden Fremden in die Distrikte bringe, sondern Leute auswähle, die dort wohnen.“ Und sie kritisierte die Basisorganisationen. „Dort treffe ich zu 90 Prozent Männer und nur zehn Prozent Frauen. Ich fragte sie: Warum reden immer nur die Männer? Lasst doch auch mal die Schwestern zu Wort kommen. In den Sitzungspausen kamen dann Frauen zu mir und sagten ‚Gut gemacht, meine Schwester‘. Ich spürte, dass sie auch wütend über das Monopol der Männer waren.

Foto: Peter Strack

Februar 2016: Das Bürgermeisteramt wird abgebrannt
Anfang 2016 hatte sich Soledad Chapetón zwar in ihrem Amt gefestigt. Aber die Konflikte mit den Sprecher*innen der sozialen Organisationen, vor allem den Elternbeiräten, waren noch nicht überwunden. Denn früher hatten diese eine wichtige Funktion bei der Auswahl der Lieferant*innen bei Anschaffungen. Soledad konnte sich nie mit der Idee anfreunden, die Beschaffungsprozesse an die Wünsche der Elternbeiräte anzupassen. „Wenn die Anschaffung für meinen Distrikt ist, dann musst du auch bei diesem oder jenem kaufen“, machten diese Druck. Am 17. Februar kam mittags ein Protestmarsch von Eltern am Bürgermeisteramt an, um eine bessere Ausstattung für die Schulen ihrer Kinder einzufordern. Einzelne Personen aus der Masse griffen das Gebäude an, drangen in die Büros ein, setzten Mobiliar und Akten in Brand und wurden gewalttätig gegen das Personal. Am Ende waren sechs Personen tot und 18 verletzt.

Es war keine friedliche Demonstration“, erklärt Chapetón. „Man nimmt keine Benzinkanister mit, um friedlich zu demonstrieren. Die Leute vom MAS haben mir nie verziehen, dass ich ihnen ihre politische Hochburg weggenommen habe. Während meiner ganzen Amtszeit habe ich die Ablehnung der nationalen Regierung zu spüren bekommen. Und trotzdem habe ich viele Projekte umsetzen können.“

Auf Wandgemälden in Senkata wird Gerechtigkeit für die Opfer gefordert, Foto: Peter Strack

November 2019: Nach dem Rücktritt von Evo Morales
Am 10. November 2019 erklärte Evo Morales nach einer Polizeirevolte und einer Empfehlung der Militärspitze seinen Rücktritt als Präsident. Er war bedrängt von einem Aufstand der Mittelschichten, die ihn des Wahlbetrugs bezichtigten. In El Alto hatte es vor diesem Tag keine größeren Proteste gegen den Präsidenten gegeben. Doch schon am Montag inmitten des Chaos jener Tage gab es zornige Menschen in El Alto. Sie kritisierten die Polizei, weil sie die Whipala (die Flagge der indigenen Bewegungen) geschändet hätten. Soledad Chapetón sagt dazu: „Du weisst nicht, ob die Leute wirklich zornig waren, ob sie sich ärgerten oder ob sie Angst hatten. Denn in den Straßen in meinem Viertel hieß es, dass Gruppen in die Schule eingedrungen sein, um Computer zu stehlen. Diebe nutzten die Gunst der Stunde.“ Und nachts gab es Gerüchte, dass Privathäuser überfallen würden. „Ich musste meine Mutter aus ihrem Haus in Sicherheit bringen. Mein Vater war damals schon tot.“
In den folgenden Tagen marschierten Massen von Bewohner*innen von El Alto und Landbevölkerung nach La Paz, um gegen die Übergangsregierung von Jeanine Añez zu protestieren. Dann wurde die Gas-Abfüllanlage und das Treibstofflager in Senkata blockiert. „Auf WhatsApp zirkulierten Aufforderungen des früheren MIR-Anhängers (die inzwischen aufgelöste sozialdemokratische Partei des früheren Präsidenten Jaime Paz Zamora) und späteren MAS-Abgeordneten Renan Cabezas: “Jetzt müsst ihr zum Haus von Chapetón gehen, weil sie El Alto verraten hat und Camacho unterstützt“. Luis Fernando Camacho aus Santa Cruz war einer der Anführer der Proteste gegen Morales. „Ich habe ihn nicht einmal gekannt“, sagt Chapetón. Am Freitag den 19. November warnten Nachbarn die Bürgermeisterin: „Sole, sie sind auf dem Weg zu deinem Haus.“ Chapetón erinnert sich nicht mehr so genau, ob es zu dem Zeitpunkt schon Tote gegeben hatte. „Aber es war der Tag, an dem Planierraupen die Gräben in Senkata zuschütteten, damit die Tankwagen die Blockade des Treibstoffdepots überwinden konnten. Es waren keine Fahrzeuge der Stadtverwaltung. Zu keinem Zeitpunkt bekam ich einen Anruf von der Übergangsregierung, dass sie Gerätschaft benötigt hätten. Ich rief den Innenminister an. Er antwortete nicht. Ebenso wenig der Verteidigungsminister. ‚Ohje Sole‘, sagte mir der Verwaltungschef unserer Stadtverwaltung. Wir können nichts tun. Es ist alles blockiert.“

Strassenblockade in El Alto, Foto: Veronika Kern

Auch das Elternhaus brennt
Am Nachmittag drangen maskierte Personen in ihr Elternhaus ein, um es zu plündern und in Brand zu setzen. Laut Soledad Chapetón waren es „Übeltäter, die von irgendwem bezahlt wurden“. Sie glaubt, dass der entstandene Rauch sie zwang, das Haus schnell wieder zu verlassen. „Das waren die zwei schwierigsten Momente in meinem Leben. Der Brand des Bürgermeisteramtes, bei dem leider sechs Menschen ums Leben kamen und dieser zweite Moment, wo sie versucht haben mein Elternhaus niederzubrennen, nur weil ich die ‚gelbe Bürgermeisterin‘ von El Alto war.
In Senkata wurden am selben Tag neun Menschen von Schüssen der Polizei und Militärs getötet. Soledads Amtszeit als Bürgermeisterin endete aufgrund einer Verschiebung der Neuwahlen wegen der COVID-Pandemie am 3. Mai 2021. Im Rückblick sagt Soledad Chapetón: „Manchmal bekommt man in der Politik Undankbarkeit einzelner Personen zu spüren. Aber sie ist auch eine große Chance, anderen zu dienen. Und diese Genugtuung erfüllt mich immer wieder, wenn ich durch die Straßen gehe und Bauten sehe, die ich für meine Stadt errichten konnte.“

Die politische Karriere von Soledad Chapetón ist wieder im Aufwind. Sie ist die wichtigste Figur ihrer Partei in El Alto und vielleicht im ganzen Departamento La Paz. Und so erwartet sie ein neuer Lebensabschnitt in einem Bolivien, das erneut einen Wandel erlebt.

Wahlkampf 2025 für „La Sole“, wie Soledad Chapetón im Volksmund in El Alto genannt wird, Foto: Facebook Soledad Chapetón

Meine Botschaft an die Frauen

Ich bin davon überzeugt, dass sich Frauen im Leben immer wieder neue Möglichkeiten eröffnen. Ich möchte ihnen sagen, dass sie keine Angst haben sollen, die Herausforderungen anzunehmen. Man hat uns daran gewöhnt, uns selbst einzuschränken. Dass wir uns einreden, etwas nicht schaffen zu können. Aber ich denke, die Schwierigkeiten sind vor allem mentaler Natur. Du selbst setzt dir die Grenzen.“

Die Chronik von Soledad Domínguez wurde von Peter Strack stark gekürzt und ins Deutsche übersetzt. Wir danken dem Zentrum zur Förderung der Frau „Gregoria Apaza“ in El Alto für die Abdruckgenehmigung. Das komplette Buch auf Spanisch findet sich hier. CRÓNICAS_DE_MUJERES ALTEÑAS_-_AUTONOMÍA_ECONÓMICA_Y_PODER.

Blick von El Alto auf La Paz, Foto: Peter Strack

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