Latin@rama dokumentiert den Bericht einer Frau, deren siebzehnjähriger Sohn am 23. August 2011 in einem Polizeirevier in Peñalolén, Santiago de Chile, festgehalten und misshandelt wurde. Die Autorin ist dem Autor des Blogs und Übersetzer des Textes bekannt. Er sieht keinen Grund, an der Authentizität des Beschriebenen zu zweifeln.
Anderthalb Seiten Text mit nur zwei Satzzeichen versuchten die Tatsachen zu beschreiben, aufgrund derer ich um 2:15 Uhr morgens [am 24. August 2011] im 43. Polizeirevier von Peñalolén Anzeige erstattete.
Der Text, den der diensthabende Beamte zu formulieren versuchte, konnte nur schwer meine Frustration und den tiefen Schmerz ausdrücken, den ich angesichts dessen empfand, was mein Sohn und ich in den vergangenen Stunden durchgemacht hatten.
Die Aussagen Dutzender Zeugen, dass die vier siebzehnjährigen Jugendlichen nichts mit der Demonstration in der Nähe zu tun hatten, konnten nicht verhindern, dass die Jugendlichen festgenommen und in ein Polizeifahrzeug gebracht wurden. Es scheint, als sei das Aussehen der jungen Studenten, die nicht dem Geschmack der Erwachsenen entsprechen, Grund genug, um ihre Rechte zu verletzen und sie wie richtige Kriminelle zu behandeln.
Ein kurzer Anruf von Antonio [Name geändert] war genug, um seine Angst zu spüren. Er sagte mir, er sei mit seinen Freunden festgenommen worden, wisse nicht, wo man ihn hinbringe, er danke mir für alles und liebe mich sehr. Danach waren alle Versuche, ihn anzurufen, umsonst.
Nach vielen Anrufen und Besuchen einiger Polizeireviere im Viertel fand ich heraus, wo sich mein Sohn befand, beziehungsweise wohin er gebracht würde, wenn die Untersuchung auf Verletzungen abgeschlossen war.
[Die Polizisten] zeigten nicht das geringste Mitgefühl mit den Eltern, die, voller Angst und Unruhe, endlich Nachrichten von ihren Kindern erhalten wollten, nach fast dreistündiger Wartezeit ohne jede Antwort. Sie sagten nur, dass [die Jugendlichen] wegen verbaler Verunglimpfungen festgenommen worden seien, und dem Polizisten, der sie kontrollierte, ins Gesicht gespuckt hätten. Es ist zwar richtig, dass Jugendliche impulsiv und aufmüpfig sind, aber mein Sohn ist nicht dumm, und er weiss genau, was er sich erlauben kann und was nicht. Einem Polizisten ins Gesicht zu spucken ist etwas, was ihm niemals einfiele, geschweige denn täte (obwohl ich zugeben muss, dass ich gestern nacht in einigen Momenten Lust dazu verspürte).
Auch meine wiederholen Bitten, dass Antonio zu bestimmten Zeiten ein Medikament einnehmen müsse, stießen bei den diensthabenden Polizisten auf taube Ohren. Eine junge Anwältin, die zufälliger- und glücklicherweise bei uns war, schaffte es, die Beamten davon zu überzeugen, ihm die Tabletten zu bringen, nachdem sie den Polizisten erklärte, sie könnten zur Rechenschaft gezogen werden, wenn mein Sohn während seiner Haft einen Krampfanfall bekäme, sollte es ihm nicht erlaubt werden, die Medikamente zu den vorgeschriebenen Zeiten einzunehmen.
Inzwischen waren fast fünf Stunden vergangen, und die Beamten sagten uns immer wieder, dass unsere Kinder in ein paar Minuten freigelassen würden, sobald die nötigen Untersuchungen abgeschlossen seien. Sie ließen allerdings auch keinen Zweifel daran, dass sie kein Problem damit hätten, die Untersuchung auf die maximal erlaubte Dauer von acht Stunden auszudehnen. Wir seien deshalb gut beraten, geduldig zu warten.
Kurz nach 1 Uhr morgens rufen sie mich endlich auf, um meinen Sohn sehen zu können und eine „Empfangsquittung“ für den Minderjährigen zu unterschreiben. Als ich endlich hereinkomme, sehe ich ihn auf dem Boden sitzen, in T-Shirt, die Schuhe ohne Schnürbänder, und mit rotem Gesicht. Ich frage die Beamten, warum sie meinem Sohn nicht erlaubt haben, den Parka anzuziehen, angesichts der niedrigen Temperaturen. [Anmerkung des Übersetzers: die momentanen nächtlichen Außentemperaturen in Santiago liegen um den Gefrierpunkt, die Häuser sind allgemein nicht oder schlecht geheizt.] Ich bekomme zur Antwort, dass der Parka Kordeln habe, und deswegen verboten sei. Allerdings hatten die Beamten meinen Sohn die Kordeln aus dem Parka sowie die Bänder seiner Schuhe entfernen lassen.
Ab diesem Moment wurde es immer schlimmer. Mein Sohn, meinen Ärger spürend, sagte mir in diesem Moment – vor den Beamten –, dass er mehrfach von einem Polizisten geschlagen worden sei, dass die Beamten ihn an den Haaren gezogen hätten, und dass er mit einem Schlag auf den Boden geworfen worden sei. Ein Polizist habe ihn aufgefordert, sich auszuziehen, während er ihn mit Fußtritten traktierte, damit er sich beeile. Nachdem er sich bis auf T-Shirt und Unterhose ausgezogen habe, hätten sie ihn erneut ins Gesicht geschlagen.
Ich brauche nicht zu erklären, was ich in dem Moment verspürte. Ich konnte meinen Ärger und meine Empörung nicht unterdrücken. Nun begann ein absurder Wortwechsel mit den Polizisten, die darin endete, mich „freundlicherweise“ aus dem Polizeirevier zu begleiten. Ich lief in das Büro des diensthabenden Beamten, um Erklärungen zu verlangen und ihn zu bitten, das Verfahren zu beschleunigen, worauf mir ein Beamter breit lächelnd mitteilte, ich müsse warten, bis die Papiere neu ausgestellt worden seien, da mein Name falsch geschrieben worden sei.
Während ich rief und weinte, riet mir die Anwältin, wegen der Aggression der Beamten gegen meinen Sohn Anzeige zu erstatten. Mehr als 15 Minuten lang weigerte sich der diensthabende Beamte, meine Anzeige aufzunehmen. Er führte mehrere Gründe an, an die ich mich nicht mehr erinnere. Schliesslich konnte ich auf Druck der Anwältin doch die Anzeige erstatten. Sie sagte resigniert, es sei zwar unwahrscheinlich, dass meine Anzeige etwas bewirkt, aber bot an, mich zu begleiten, so dass wenigstens eine Aufzeichnung von dem möglich war, was am 23. August 2011 [auf dem Polizeirevier] passierte.
Heute bin ich mit meinem Sohn zu Hause geblieben, um zu versuchen, das Geschehene zu verarbeiten und zu verstehen.
Die Haltung und das Verhalten einiger Polizisten kann ich nicht verstehen. Während wir diskutierten, rügte mich einer der Beamten und sagte, er wohne in Victoria, stehe jedem Morgen um sechs Uhr auf und zusätzlich müsse er die „Bengel“ ertragen, die Unordnung verursachten. Ein anderer lachte, als ich ihm sagte, dass mein Sohn aufgrund seiner „Eplilexie“ [sic!] ( so schrieb er in seinem Bericht) um 21:30 Uhr sein Medikament einnehmen müsse. Wenn dem so sei, meinte er, wass mache mein Sohn dann auf der Straße? (Er wurde um 19:30 Uhr festgenommen.)
Aus der Reflexion meiner Gespräche mit den Polizisten, meinen Versuchen, mit ihnen in einen Dialog zu treten, ihrem Schreibstil und ihrem Verhalten, wird mir klar, dass diese eine direkte Konsequenz der schlechten Qualität des öffentlichen Bildungssystems in unserem Land sind. Sie spiegeln in aller Deutlichkeit wider, dass Chancenlosigkeit Ärger und Verbitterung hervorruft.
Ich werde weiterhin für einen grundlegenden Wechsel unserer Gesellschaft eintreten: Für unsere Kinder und Jugendliche, damit sie zu gebildeten, toleranten, respektvollen und engagierten Bürgern werden; und für die zukünftigen Polizisten, damit sie ihre Aufgabe verstehen und wirklich erfüllen. Ich glaube, dass wir ein besseres Land zum Leben schaffen können, denn unser Land braucht nicht Respekt und Toleranz, sondern respektvolle und tolerante Bürger, die in ihm wohnen.
Machen wir weiter…
F. C.