vonGerhard Dilger 20.08.2025

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Gerade überschlagen sich deutsche Unternehmer, Banker und Professoren wieder einmal vor Begeisterung über Javier Milei. Lautstark bejubeln sie, was „dem in jeder Hinsicht schillernden Argentinier“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) gelungen sei. Oder sie wiederholen, wie Jörg Krämer in der FAZ, das Schauermärchen von einer „fatalen peronistischen Wirtschaftspolitik“. Milei hingegen solle man keinesfalls „als Spinner abtun“, schreibt der Commerzbank-Chefvolkswirt weiter, er „bleibt auf Erfolgskurs“, seine Wirtschaftspolitik „basiert auf einer klaren Logik“.

Auf Table Media raunt es: „Der ‚Verrückte‘ hat der Welt vorgemacht, dass Reformen möglich sind – und lohnen! Dass diese Botschaft in Deutschland noch nicht angekommen ist, dürfte an dem (immer noch!) großen Wohlstandspolster vieler Menschen liegen.“ Schließlich zog der Spiegel nach. Im Hamburger Leitmedium kommt nun ein weiterer Frankfurter Banker zu Wort, diesmal von Metzler Asset Management. Edgar Walk, obgleich erkennbar kein Ultraliberaler, würde Milei „bisher eine Eins geben“.

Er selbst hat diese Note allerdings nicht verdient: Der „Chefvolkswirt“ schreibt von steigenden Exporten und sinkenden Importen in Argentinien für 2024. Das stimmt zwar, doch mittlerweile hat sich dies umgekehrt, weil der Peso überbewertet ist. „Die realen Mieten sinken“, „die Löhne steigen“, die Arbeitslosigkeit gehe zurück, behauptet Walk. Argentinien kennt er ganz offensichtlich nicht. Er ist bloß ein weiterer merkwürdiger Kronzeuge für Mileis angebliche Erfolge. Von denen gibt es mittlerweile viele in Deutschland. Woran liegt das? Wo es doch so erkennbar falsch ist?

Das wahre Feindbild der europäischen Milei-Fans ist der Sozialstaat

Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt begann bereits Anfang 2024 mit dem Narrativ vom bewundernswert disruptiven Wuschelkopf vom Río de la Plata und pflegt es seither inbrünstig, wo immer er kann. Christian Lindner griff es Ende letzten Jahres auf: Hinter den „Provokationen“ von Milei und Musk stecke eine (genau!) „disruptive Energie, die Deutschland fehlt“, schrieb er im Handelsblatt. Diese Überzeugung scheint mittlerweile zum Dogma der ultraliberalen Drei-Prozent-Partei geronnen zu sein.

Karl-Heinz Paqué, Vorstandsvorsitzender der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, veröffentlichte zuletzt ein höchst peinliches Loblied auf die Wirtschaftspolitik des politisch ultrarechten Staatschefs, der ökonomisch aber libertär tickt. Eine Kurzversion davon erschien zuletzt in Clarín, der wohl einflussreichsten argentinischen Tageszeitung.

Gleich zu Beginn wird der Peronismus als „krude Mischung aus gläubigem Staatssozialismus und korrupter Staatspraxis“ denunziert. In Wirklichkeit ist der autoritäre Mussolini-Fan und Linkenfresser Juan Domingo Perón tatsächlich der Begründer des Wohlfahrtsstaates in seiner argentinischen Version ab 1945 – zur gleichen Zeit, als in Großbritannien und anderen europäischen Ländern „soziale Marktwirtschaften“ entwickelt wurden. Letztere, wenngleich nach 1990 teils bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, sind das wahre Feindbild der europäischen Milei-Fans.

In Österreich trommelt die ultrarechte FPÖ für ihren Gesinnungsbruder aus dem tiefen Süden, den selbsternannten „Anarcho-Kapitalisten“ und Thatcher-Fan, der sich außenpolitisch völlig den Interessen der USA oder Israels unterwirft und sich immer wieder von spanischen Rechtsextremen ehren lässt – sei es von Vox oder den Franco-Nachfolgern der Volkspartei PP.

Der argentinische Aufschwung steht auf tönernen Füßen

Jenseits von klientelistischen Auswüchsen und einer fantasielosen Wirtschaftspolitik mit der Notenpresse, die 2023 folgerichtig zum Wahldesaster der Mitte-Links-Peronisten führten, stehen im heutigen Argentinien unter Beschuss: öffentliche Universitäten, die in Forschung und Lehre zur lateinamerikanischen Spitze gehören, ein im kontinentalen Vergleich ebenfalls bemerkenswertes öffentliches Gesundheitswesen oder Arbeiterrechte, die Unternehmern ein besonderer Dorn im Auge sind. Kaufkraftverluste müssen viele hinnehmen: nicht nur – besonders perfide – arme Rentner:innen, sondern auch Arbeiter und Angestellte. Letztere verdienen real 86 Prozent ihres Lohns von Ende 2023.

Ein Zusammenhang zwischen dem Sozialstaat und der ebenfalls außergewöhnlich guten Sicherheitslage in Argentinien liegt nahe: Buenos Aires und Córdoba gehören auch nachts zu den sichersten Städten Lateinamerikas – dass es im Elendsgürtel der Hauptstadt seit Jahrzehnten ganz anders aussieht, soll aber auch nicht verschwiegen werden. Der durch Mileis Finanzpolitik geförderte Drogenhandel macht alles nur noch schlimmer – darauf wies zuletzt Marcelo Colombo hin, Erzbischof von Mendoza und Vorsitzender der argentinischen Bischofskonferenz. Den Milei-Fans hierzulande ist all das egal.

Gebetsmühlenartig beschwören sie einen Aufschwung, der in Wirklichkeit auf tönernen Füßen steht. Sie sehen eine „dynamische wirtschaftliche Erholung“, weil die Wachstumsraten im Vergleich zur Rezession von 2024 beeindruckend wirken. Immer werden die 5,8 Prozent wiederholt, die das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal 2025 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zulegte, oder auf die Jahresprognose von 5,5 Prozent der Weltbank verwiesen. Der IWF wiederum lobt Milei und will seiner Partei „Die Freiheit schreitet voran“ ganz unverblümt mit einem im April erteilten 20-Milliarden-Dollar-Darlehen zum Erfolg bei den Parlamentswahlen im Oktober verhelfen.

Aber kann das gelingen? Oder schauen die Leute auch hinter die Fassade der guten Wirtschaftszahlen und Prognosen?

„Dass ausgerechnet deutsche Liberale Milei feiern, ist enttäuschend“

Mileis größter Erfolg ist zweifellos, dass er mit seinen Kürzungen im Staatsapparat und im Sozialbereich die Inflation auf derzeit unter 40 Prozent senken konnte. Dennoch kommen immer weniger Menschen ohne Einschränkungen beim Essen ans Monatsende. Im Parlament jedenfalls wird der Gegenwind für die Regierung heftiger. Mit großer Mehrheit verabschiedete der Senat im Juli drei Anträge der peronistischen Mitte-Links-Opposition. Unter anderem wurden ein „Behindertennotstandsgesetz“ und eine Rentenerhöhung von 7,2 Prozent beschlossen.

Milei hat gegen diese und weitere Beschlüsse sein Veto eingelegt. Falls das Parlament nächste Woche mit Zweidrittelmehrheiten dagegenhält, sieht es finster für ihn aus – doch bisher ließen sich immer noch Abgeordnete in letzter Minute ködern.

„Dass ausgerechnet deutsche Liberale nach zwischenzeitlicher Skepsis nun wieder Milei feiern und umarmen, ist enttäuschend“, meint Carl Moses, Unternehmensberater in Buenos Aires und Liberaler alter Schule, „mit dem Holzhammer entsteht keine neue Ordnung“. Wer Argentinien leichtfertig zum Vorbild mache, solle „genauer hinschauen – und die Realität von der Projektion trennen.“ Der Naumann-Chef erklärt das Land „zum neuen Musterknaben der Weltwirtschaft – und verkennt dabei zentrale Realitäten“. Der angebliche Haushaltsüberschuss, so Ökonom Moses, beruhe „auf nicht durchhaltbaren Kahlschlägen und buchhalterischen Tricks“.

Naumann-Chef schmeichelt Hardlinerin, die Rentner niederknüppeln lasst

Gerade berichtete Ex-Banker Hans-Dieter Holtzmann, derzeit Naumann-Büroleiter in Buenos Aires, stolz von einem Besuch bei Sicherheitsministerin Patricia Bullrich. Mit der Hardlinerin habe er über die „eindrucksvollen Fortschritte der Regierung in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik“ geredet – Bullrich ist für das brutale Vorgehen von Polizeikräften zuständig, die fast jeden Mittwoch brutal gegen protestierende Rentner:innen und Presseleute vorgehen. Ein Fotograf wurde im März mutwillig lebensgefährlich verletzt.

Es bleiben Fragen: Will die FDP zur FPÖ mutieren? Dafür ist es wohl zu spät, doch beim ultraliberalen Kurs folgt sie weiterhin ihrem langjährigen Caudillo Lindner. Wird die „Friedrich Naumann-Stiftung für die Freiheit“ überleben? Das wird sich nach der kommenden Bundestagswahl zeigen – es ist durchaus denkbar, dass die radikalisierten Liberalen mit Oppositionsgehabe wieder eine Nische im Parteiensystem zurückerobern können.

Was lernt das Statistische Bundesamt von der argentinischen Statistikbehörde Indec? Wie man die Armutsrate gezielt herunterrechnet. Agustín Salvia von der Argentinischen Katholischen Universität UCA schätzt, dass derzeit rund 35 bis 37 Prozent der Argentinier:innen in Armut leben – für eine vierköpfige Familie sind das umgerechnet rund 750 Euro pro Monat. Die Regierung vermeldete dagegen 31,7 Prozent für das erste Quartal 2025.

Kommt die Kettensäge nun auch nach Deutschland? Sieht man sich die derzeitigen Haushaltskürzungen zugunsten der Zeitenwende-Aufrüstung an, erübrigt sich die Frage. Noch als Wirtschaftsminister bekannte Robert Habeck mit Blick auf das Lieferkettengesetz, wolle am liebsten „die Kettensäge anwerfen und das ganze Ding wegbolzen“.

Eine Einschätzung, die Friedrich Merz im Dezember spontan abgab, lässt immerhin hoffen: „Völlig entsetzt“ sei er über die Anregung Lindners gewesen, ein wenig „mehr Milei und Musk“ zu wagen, sagte er im Dezember bei Maischberger, „was dieser Präsident dort macht, er ruiniert das Land, er tritt wirklich die Menschen mit Füßen, und das als Beispiel für Deutschland zu nehmen, ich muss sagen, ich bin einigermaßen sprachlos gewesen, und das passiert bei mir nicht so häufig“.

Schließlich: Wird Milei Argentinien – in Freiheit, verdammt noch mal!, so sein Schlachtruf – zu altem Wohlstand zurückführen? Mit Sicherheit nicht, auch wenn Ultraliberale bis zu zum Absturz des „Maulwurfs, der den Staat zerstören will“ (Milei über Milei) weiterjubeln werden. Alt- und Neoliberale hoffen hingegen auf marktwirtschaftliche Strukturreformen, die jedoch nur mit breiten politischen und gesellschaftlichen Mehrheiten verankert werden könnten – doch dazu ist der Hassprediger Milei weder willens noch in der Lage. Er pöbelt lieber weiter gegen andersdenkende Politiker oder Journalisten und setzt seinen auf den Weltwirtschaftsforen in Davos besonders ausgiebig zelebrierten Kulturkampf fort.

Der Soziologe Alejandro Horowicz fasst zusammen: „Die Nachfrage sinkt, kaum jemand investiert, die Wirtschaft fällt auseinander“. Wie die Wahlen im Oktober ausgehen, sei dennoch völlig offen: „Der Anteil der Nichtwähler steigt rapide, die Frage ist, wer verliert mehr Stimmen, die untereinander zerstrittenen Peronisten oder die Regierung?“

Eine erste Version erschien auf freitag.de

 

 

 

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kommentare

  • Als ehemaliges FDP-Mitglied würde ich behaupten, dass die FDP sich weitestgehend vom Liberalismus entfernt hat. Statt dessen betreibt man zunehmend Etatismus für die Oberschicht und stumpfes nach unten treten. Nicht umsonst sind sehr viele Sozialliberale ausgetreten. Wenn man in der FDP versucht hat die Werte der Freiburger Thesen hochzuhalten, dem Grundsatzprogramm der FDP aus der Brandt/Schmidt-Ära, wurde man schon seit Jahren zunehmend als linksgrünversifft, als Nestbeschmutzer und sonst dergleichen beschimpft. 2015 hat sich die FDP ja auch vom Beinahmen „Die Liberalen“ bewusst verabschiedet und diesen in „Freie Demokraten“ geändert. Daher sollte man dem auch entsprechen und die FDP nicht mehr als Liberale bezeichnen. Denn Freiheit für alle wollen diese Herrschaften mehr als offensichtlich nicht mehr, außer vielleicht bei sozialer Verantwortung.

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