Der 30jährige Sozialwissenschaftler Guillaume Gass, Sohn einer Kolumbianerin und eines Schweizers forscht über städtische soziale Bewegungen und den politischen Wandel der Demokratie in Kolumbien. Nach seinem ersten Studium hat Gass im bolivianischen La Paz in einem Kleinkreditprojekt gearbeitet und danach in Paris, Erfurt und derzeit Chicago an seinem Promotionsvorhaben gearbeitet. Das nachfolgende Gespräch haben wir im Dezember 2022 während seiner Feldforschung in Bogotá geführt.
Eine seiner zentralen Fragen ist, inwieweit die Wahrnehmung der Gewalt diese Konflikte selbst prägen. Das hat mit den Erfolgschancen der derzeitigen Verhandlungen der neuen Regierung unter Gustavo Petro mit dem ELN (Volksheer für nationale Befreiung), Dissidenten der FARC-Guerrilla, aber auch mit Banden und Drogenkartellen um einen umfassenden Frieden in Kolumbien zu tun. Aber im Interview wurde auch deutlich, dass die jahrzehntelangen und mit vielen Enttäuschungen verbundenen Bemühungen von Menschenrechtsorganisationen letztlich doch Wirkung gezeigt haben. Und auch, dass fehlende Begriffsklarheit bisweilen nützlich für gemeinsame Schritte zum Frieden sein kann, auch wenn Kolumbien angesichts der kritischen Sicherheitslage in vielen Regionen noch ein langer Weg dahin bevorsteht.
Im Einleitungstext deiner ethnografischen Forschung zu Ausdrucksformen politischer Meinungsverschiedenheiten im heutigen Kolumbien bringst du das Beispiel eines Massakers vom März 2021, das von Seiten der Regierung und der sozialen Organisationen vollkommen unterschiedlich interpretiert wurde. „Ohne Pause gegen die Narcokriminellen! (…) Bei der Bombardierung durch unser Militär mit Unterstützung der Staatsanwaltschaft wurden 13 Mitglieder der FARC-Dissidenz neutralisiert“, zitierst du den damaligen Verteidigungsminister. Oppositionelle Medien und Menschenrechtsorganisationen hätten dagegen von einem Kriegsverbrechen gesprochen. 14 Kinder hätten sich zu jenem Zeitpunkt im Lager befunden und seien durch Bomben oder Maschinengewehrsalven getötet worden. Sie seien zwangsrekrutiert gewesen, um sie als „Kriegsmaschinen“ zu missbrauchen, habe der Verteidigungsminister später als Erklärung nachgeschoben.
„Die Verantwortung der Regierung steht heute außer Frage“
Haben wir es bei diesen unterschiedlichen Interpretationen mit Propaganda zu tun, oder gibt es tatsächlich so gegensätzliche Wahrnehmungen über den gleichen Sachverhalt? Was hat deine Forschung dazu ergeben?
Beides trifft in gewisser Weise zu. Kolumbien hat eine lange Geschichte von Gewalt, die in der Politik, dem bewaffneten Konflikt oder dem Drogenhandel eine Rolle spielt. Das Verständnis der Gewalt hat sich im Laufe der Jahre aber geändert. Mit der Menschenrechtsdebatte Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre kam ein neuer Bezugsrahmen. Und in den 90er Jahren haben die sozialen Organisationen mit den Menschenrechtsabkommen und neuen Gesetzen auch mehr Instrumente in die Hand bekommen, um ihre Rechte in Bezug auf die Gewalttaten einzufordern. Es wurde klar, dass die Gewalt über die Organisationen und das staatliche Handeln überwunden werden kann und muss.
Die Verantwortung der Regierung für die Lösung des Konfliktes steht dabei heute außer Frage. Etwa beim Schutz der Sprecher*innen sozialer Organisationen oder Menschenrechtsaktivist*innen. Staatliche Institutionen, die damit betraut waren, gab es bereits früher. Aber nicht diese verbreitete Stimmung in der Gesellschaft, die vom Staat einen effektiven Schutz auch einfordert. Wenn heute ein Jugendlicher in einem Viertel von Paramilitärs oder Drogenbanden ermordet wird, dann mobilisieren sich die Menschen, auch dort wo die Täterschaft eindeutig ist, um vom Staat Schutzgarantien einzufordern. Der Schutz der Menschenrechte ist per definitionem Aufgabe des Staates. Und dass die Menschen dieses Konzept heute teilen, ist ein Ergebnis der Arbeit der Menschenrechtsorganisationen in all den Jahren. Heute reden alle vom Recht auf Leben. Und das Leben war eine zentrale Parole der Kampagne von Gustavo Petro.
Neue Wahrnehmungsweisen nach dem Friedensvertrag mit der FARC
Mit dem Friedensvertrag mit der FARC im Jahr 2016 veränderte sich nicht nur die Art der Gewalttaten, sondern es begann auch ein neuer Zyklus in der Wahrnehmung. Am deutlichsten wird das bei der Ermordung von Anführer*innen sozialer Organisationen, von Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen. Auftragsmörder und Morde gab es selbstverständlich schon lange vor 2016. Aber seit dem Friedensvertrag werden solche Gewalttaten systematisch erfasst. Früher gab es vereinzelte Daten durch spezialisierte NRO. Heute gibt es eine Vielzahl von Berichten unterschiedlicher Akteure, die auch breit kommuniziert werden. Sei es in den Massenmedien oder im kleinen Rahmen in Kulturzentren. Auch Museen der Erinnerung wurden eröffnet.
Anders als zur Jahrtausendwende finden wir heute auch ein gemeinsames Verständnis von den Opfern. Damals redete man von den Opfern der FARC auf der einen oder des Paramilitarismus auf der anderen Seite, von den Opfern der Entführungen, den Opfern der Vertreibungen, des Verschwindenlassens etc.. Heute spricht man von den Opfern des bewaffneten Konflikts unabhängig davon, wer die Täter waren. Das hat es den Opferbewegungen erleichtert, gemeinsam zu handeln. Sie sind wichtig für den Friedensprozess geworden. Man kann heute schwerlich öffentlich über den bewaffneten Konflikt diskutieren, ohne die Opfer mitzubedenken.
Und wo liegen heute die Unterschiede in der Interpretation?
In den sozialen Organisationen gibt es mehr Forderungen. Man verurteilt die Morde an Aktivist*innen. Aber gleichzeitig versucht man mit der Äußerung, sich auch politisch zu positionieren. Die Linke brachte damit zum Beispiel ihre Ablehnung der Regierung von Iván Duque zum Ausdruck. Allerdings zu recht. Diese Regierung hat die Menschenrechte nicht respektiert, Menschen ermorden und Massaker zugelassen. Die Kritik an der politisch motivierten Gewalt wurde so zu einem gemeinsamen Kritikpunkt an der Regierung Duque (2018-2022) und einer der Hauptstoßrichtungen der Wahlkampagne von Gustavo Petro. Und so wirken sich veränderte Wahrnehmungen der Gewalt dann auf Wahlprozesse aus.
Jugendliche in den Randvierteln sehen eine Verbindung der Alltags- mit der politischen Gewalt
Bei den Gesprächen in den Wohnvierteln werden die Leute konkreter in Bezug auf die Ursachen der Gewalt und die Täter. Etwa bei den „Falsos Positivos“ (Tausende junge Männer aus Randvierteln, die von den Sicherheitskräften getötet und dann in Guerrilla-Uniformen gesteckt wurden, um Prämien zu kassieren, Anm. PS). Viele der Jugendlichen, die ich hier in Bogotá getroffen habe, sehen eine direkte Verbindung zwischen den „Falsos Positivos“ und der Gewalt während des Nationalen Streiks. Den Ursprung der Polizeigewalt während des Streiks sehen sie auch in der politischen Gewalt unter Uribe begründet. Die Kritik an dieser Gewalt verbinden sie mit eigenen Erfahrungen in den Vierteln, etwa mit dem Einschreiten der Polizei gegen Jugendliche, die an der Ecke Haschisch rauchen.
Aber so unterschiedlich diese Sichtweisen auf die Gewalt zu denen der politischen oder Menschenrechtsorganisationen sind, gibt es auch Schnittmengen, die gemeinsames Handeln ermöglichen. Dies wurde bei den Protesten gegen die Polizeigewalt im vorletzten Jahr deutlich. Diese wird gemeinhin als Teil eines insgesamt gewalttätigen Staates gesehen.
In der Nationalen Universität in Bogotá gibt es ein Graffiti mit einem Zitat des 1966 getöteten Befreiungstheologen und Mitglied der ELN Guerrilla Camilo Torres, nachdem die Gemeinsamkeiten gesucht werden müssen, um Einheit zu schaffen. Nur wenige Meter weiter an der Bibliothek hat jemand den Schriftzug von Gabriel García Marquez, nach dem die Bibliothek benannt ist und der keineswegs politisch rechts stand, mit dem Konterfei von Camilo Torres übermalt. Mit der Einheit scheint es nicht so einfach zu sein….
Die Frente Unido des Camilo Torres war eine andere Zeit. Es ging ähnlich wie in der 68er Bewegung in Europa damals sehr stark auch um die Frage, wie eine Allianz zwischen Studierenden und Arbeiterschaft geschmiedet werden könne, auch wenn andere mögliche Allianzen ebenfalls eine Rolle spielten. Die Gesellschaft heute ist jedoch viel segmentierter und heterogener in den Interessen und Lebensstilen. Und so ist es noch schwieriger eine gemeinsame Mobilisierung zu erreichen.
Frieden – ein so schwammiger Begriff, dass er zu nützlichen Missverständnissen führen kann
In einer aktuellen Ausstellung „Der Zeuge“ von 500 Fotos von Jesús Abad zum bewaffneten Konflikt, die zwischen 1992 und 2018 aufgenommen wurden, wird der Künstler mit dem Satz zitiert, dass der Friede nicht alleinige Verantwortung des Staates ist, sondern die Aufgabe aller. Aber schon der Begriff des Friedens wird sehr unterschiedlich interpretiert.
Diese Ambiguität führt zu funktionalen Missverständnissen. Obwohl die einzelnen Personen oder Gruppen unterschiedliche Vorstellungen haben, ermöglicht die fehlende Begriffsklarheit, dass es zu Begegnungen kommen kann. Dabei ist es faszinierend, wie die Zivilgesellschaft sich das Thema zu eigen gemacht hat. Es beschäftigt sie schon seit drei Jahrzehnten, aber nie mit einer solchen Intensität wie 2016 bei dem Referendumsprozess über das Friedensabkommen mit der FARC.
Das Abkommen wurde mehrheitlich abgelehnt…
Aber bei einer sehr geringen Beteiligung. Vor allem die Jugendlichen waren für das Abkommen, aber sie gingen kaum abstimmen. Trotzdem hat man damals über Monate einen hohen Mobilisierungsgrad erlebt. Es gab eine Mahnwache auf der Plaza Bolivar, an der sich die unterschiedlichsten Personen beteiligt haben: philanthropische Jugendliche aus der Oberschicht aus dem Norden von Bogotá ebenso wie solche aus politischen Parteien, aus den Randvierteln, oder ehemalige Mitglieder der M19-Stadtguerrilla. Und aus dieser amorphen Zusammensetzung entstanden die unterschiedlichsten Aktionen. Einige haben als Friedensaktion Bäume gepflanzt, im Sinne des harmonischen Zusammenlebens mit der Natur.
Anderntags hat man mir gesagt, die staatlichen Transferleistungen an sozial schwache Personen bedeuteten Frieden…
Genau. Alles kann Frieden bedeuten. Ich habe auch junge Leute gesehen, die unter diesem Motto anderen geholfen haben, ihren Schulabschluss zu machen. Viel von dem, was es früher schon gab, wird heute im Namen des Friedens getan.
Wenn alles Frieden ist, dient das nicht auch dazu, die reale alltägliche Gewalt, Aggressionen und Konflikte zu verdecken?
Frieden und Gerechtigkeit
Nein. Es hilft vielmehr, einen anderen Blick auf die Konflikte zu werfen. Wie oft habe ich es erlebt, dass wenn es in einer Gruppe zu heftigen Auseinandersetzungen kam, irgendjemand aufgestanden ist und gesagt hat: ‚Wie können wir so etwas zulassen, wenn wir doch für den Frieden arbeiten?!‘
Gibt es einen Paradigmenwechsel? Vor zwanzig Jahren war die Befreiung, soziale Gerechtigkeit oder der wirtschaftliche Fortschritt Leitziele. Heute steht in Kolumbien der Frieden im Mittelpunkt?
Mag sein, aber auch heute verbinden viele den Frieden mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der Überwindung der sozialen Ungleichheit. Das hat mit den Ursachen der Gewalt zu tun. Nicht nur bewaffnete Akteure, sondern auch die sozialen Ungerechtigkeiten verhindern Frieden. Wirtschafts- und Friedenspolitik gehen Hand in Hand. Es geht um das Gesundheitswesen, die Bildungspolitik, die Kommunikation zwischen abgelegenen Regionen. Gleichwohl ist das Thema Frieden so breit, dass es manchmal abstrakt bleibt und nur noch schwer zu fassen ist.
Uribe steht für Gewalt ohne Ende
Inwieweit ist die Regierungsübernahme von Petro das Ergebnis vorheriger Veränderungen im bewaffneten Konflikt?
Vielleicht müssen wir uns fragen, was zum Glaubwürdigkeitsverlust des Uribismo geführt hat. Denn der hat mit dem Aufstieg von Petro zu tun, auch wenn er ihn nicht komplett erklärt. Die Frage ist, wie wir von dieser absoluten Begeisterung für ein militärisches Vorgehen gegen die FARC im Jahr 2002 und der Wiederwahl mit einer satten Mehrheit im Jahr 2006 zu der heutigen Situation gekommen sind, wo Alvaro Uribe vor allem bei den jungen Leuten als Übeltäter dasteht. Vermutlich erwarten sie bei Uribe, dass die Gewalt mit ihm nie ein Ende findet.
Und die FARC, auf die sich alle Aufmerksamkeit konzentriert hatte, gibt es so nicht mehr. Das erlaubt es nun, andere Probleme wie die Ungerechtigkeit stärker in den Blick zu nehmen. Der Uribismus war für sein politisches Projekt auf die FARC als Gegner angewiesen. Die radikale Ablehnung des Friedensvertrages mit der FARC war ein politischer Fehler und hat dem Uribismus sicher Unterstützung gekostet. So, als gesagt wurde, dieses „verdammte Stück Papier“ müsse zerfetzt werden. In der Öffentlichkeit kam das so rüber, dass der Uribismo den Frieden selbst zerstören wolle.
Gustavo Petro ist erst wenige Monate im Amt
Was hat sich in Bezug auf den bewaffneten Konflikt verändert, seit Petro an der Regierung ist?
Gustavo Petro ist erst wenige Monate im Amt. Bislang gibt es vor allem Gesetzesinitiativen. Die aktuelle Regierung genießt jedoch zum Bespiel das Vertrauen der früheren FARC-Mitglieder, denn mit ihm wird der Demobilisierungsprozess wieder finanziert. Die Regierung Duque hatte die Übergangsjustiz oder auch die Produktionsprojekte für frühere Mitglieder der FARC mit dem Argument sabotiert, es stünden keine ausreichenden Haushaltsmittel zur Verfügung. Wichtig war auch die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Venezuela und diesen Staat in den Verhandlungsprozess mit der ELN-Guerrilla einzubeziehen sowie die humanitären Vereinbarungen im Cauca und im Chocó. Es geht dabei um die Rückkehr von Vertriebenen, aber auch um die Einrichtung humanitärer Korridore, in die die Menschen flüchten können, weil die bewaffneten Akteure keinen Zugang haben. Das sind erste Maßnahmen, um die überbordende Gewalt einzuschränken.
Ein Schlüsselelement ist auch, wie die Regierung im Friedensprozess mit dem Uribismus umgeht. Das war schon mutig, einem Vertreter des Uribismus und der Viehzüchter, der eng mit dem Paramilitarismus verbunden ist, die Hand zu reichen und ihn aktiv in die Verhandlungen einzubeziehen.
Komplexe Verhandlungsprozesse sind schwer zu kontrollieren
Ist es nicht eine der Grundlagen eines erfolgreichen Konfliktlösungsmechanismus, dass alle Akteure beteiligt werden?
Grundsätzlich ist das sicher richtig. Aber in einer so polarisierten Gesellschaft wie Kolumbien hat es viele überrascht und bei einer Mehrheit auch Anklang gefunden. Und auch wenn die Verhandlungen mit dem ELN (Ejercito de Liberación Nacional) nicht einfach sind, weil die ELN Guerrilla nicht so zentralisiert ist, wie es die FARC war, habe ich große Hoffnungen, dass der Prozess gelingt.
Viel schwieriger sind die Verhandlungen mit den bewaffneten Gruppen, die keinen politischen Anspruch haben, wie dem Clan del Golfo. Auch wenn ihre Mitglieder ursprünglich aus dem Paramilitarismus oder sogar der Guerrilla kommen, werden sie heute in der Goldausbeutung, dem Drogenhandel oder noch anderer illegaler Geschäfte aktiv. Es sind regelrechte Heere, die große Territorien kontrollieren.
Eine Schwierigkeit ist auch, dass Petro gleichzeitig mit unterschiedlichen Gruppen Verhandlungen führt. Mögliche Wechselwirkungen sind nur schwer unter Kontrolle zu behalten. Aber wenn dagegen alles im Geheimen verhandelt würde, würde es ein Legitimationsproblem gegenüber der Öffentlichkeit geben.
Kleine Schritte zum Entstehen einer Friedenskultur
Eine erfolgversprechende Maßnahme der neuen Regierung ist die Schaffung des sozialen Friedensdienstes als Alternative zum Militärdienst. Da soll es zum Beispiel um Medienerziehung und alternative Formen der Konfliktlösung gehen. Die Wahrheitskommission hat sich ebenfalls dafür eingesetzt, damit die Verbreitung der gesammelten Informationen auch nach Ende des Mandats der Kommission weiter geht. Dafür haben sie Jugendliche geschult und didaktisches Material erstellt. Es geht dabei nicht nur um die Vergangenheit, sondern es werden auch aktuelle Themen wie die Polizeigewalt bearbeitet. Ich habe einen solchen Prozess hier in Schulen von Bogotá begleitet und zum Glück scheint es viele Akteure zu geben, die das unterstützen wollen, auch aus dem Ausland. So werden im Kleinen wichtige Schritte gegangen, damit der Konflikt verarbeitet wird und daraus eine Friedenskultur entstehen kann.