Seit Monaten befindet sich die in Bolivien regierende „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) im langsamen, aber zwischenzeitlich dabei durchaus stürmischen Sinkflug. Dies vor allem aufgrund interner Konflikte um die Macht, um die Kontrolle von Geschäften und um den Zugang zu den knapper werdenden staatlichen Ressourcen. Dies beschreibt punktgenau auch Sandra Weiss in ihrem Beitrag „Zunder in den Anden“ in der Zeitschrift IPG. Dort warnt sie auch davor, dass letztlich die organisierte Kriminalität von diesen politischen und sozialen Verwerfungen profitiert.
Den innerparteilichen Streit konnten auch die Spitzentreffen, Einheitsappelle und diverse Massendemonstrationen nicht übertünchen, die in den vergangenen Monaten immer wieder stattfanden, aber jeweils eine geringe Halbwertzeit hatten. So wie der große Marsch von Zehntausenden, vielleicht Hunderttausend mehr oder weniger freiwillig angereisten Anhänger*innen und Staatsangestellten in La Paz „zur Verteidigung der Demokratie“ Ende August.
Dass Präsident Luis Arce Catacora dabei und trotz stockender wirtschaftlicher Wiederbelebung und klammem Staatshaushalt bei Meinungsumfragen bei weitem die höchsten Zustimmungsraten einfährt, macht die Opposition vielleicht etwas hilflos. Es stört aber vor allem seinen Parteichef Morales, oder besser gesagt dessen enges Umfeld. Das will den Sprecher der Kokabauern wieder in den Präsidentensessel hieven, dies „Vorbild eine Mannes und Anführers“, so Juan Ramón Quintana. Der Ex-Militär, frühere Freund der Familie des Diktators Hugo Banzer mutierte zum erklärten Sozialisten und wurde später Minister und Botschafter von Morales. Heute schult er Parteikader, ist Geschäftsmann. Für Strippenzieher hinter den Kulissen wie ihn scheint es auch keine Rolle zu spielen, dass der Kokabauernführer bei Umfragen in der Gunst des Wahlvolks sogar noch deutlich hinter dem rechten Bürgermeister von Cochabamba Manfred Reyes Villa zurück liegt und von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung negativ bewertet wird (vgl. auch diesen früheren Beitrag auf latinorama).
Einigkeit beim Ziel der Machtsicherung
Denn so tief die Gräben der unterschiedlichen Fraktionen in der Partei sind, so werden die Reihen immer wieder geschlossen, wenn es um die Absicherung der Macht der MAS für die Zukunft geht. Derzeit beim Konflikt um das Datum der Volkszählung. Im Juni noch hatte der zuständige Minister im Parlament versichert, die Vorbereitungen seien im Plan und die Durchführung im November 2022 garantiert. Oppositionelle Verantwortungsträger hatten eine stärkere Einbeziehung gefordert, um den Termin einhalten zu können. Nur einen Monat später ließen die gleichen Personen der Regierung verlauten, es sei unabdingbar, die Volkszählung auf Mitte 2024 zu verschieben. Anders sei eine technisch saubere Durchführung mit zuverlässigen Ergebnissen nicht zu gewährleisten. Die Ergebnisse würden dann frühestens ein Jahr später vorliegen.
Und dies scheint auch ein Grund für den plötzlichen Sinneswandel. Denn das wäre nicht nur zu spät, um für die nächsten Präsidentschaftswahlen die Wahlkreise neu einzuteilen, die derzeit die ländlichen Regionen begünstigt. Die Verschiebung würde auch die auf den Volkszählungsdaten beruhende ungleiche Ressourcenverteilung der staatlichen Mittel zugunsten der MAS eine Zeit lang weiter festschreiben. Diese werden schon jetzt zu mehr als 80 Prozent von der Zentralregierung vergeben. La Paz konditioniert mit Gesetzen und Zuschüssen auch einen Teil der restlichen Gelder, die für Regionalregierungen, Lokalregierungen, autonome indigene Bezirke und Universitäten übrig bleiben. Von einem Zensus würden bei einer Neuverteilung aufgrund der Migrations- und Verstädterungsprozesse vor allem Santa Cruz, El Alto und das kleine Pando profitieren. Alles Regionen, die derzeit nicht vom MAS geführt werden. Oder wenn sie diesem nahe stehen wie die Bürgermeisterin von El Alto Eva Copa, dann gehören sie zumindest nicht der Fraktion von Evo Morales an.
Bei der Mittelverteilung scheint aber weniger der Zensus das Problem, als die seit bald einem Jahrzehnt fällige Fiskalreform. Hier weigert sich die regierende MAS, den Regionen und Munizipien für die mit der neuen Verfassung hinzugekommenen Aufgaben auch die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen.
Volkszählung als Allheilmittel gegen den Zentralismus?
Doch insbesondere in Santa Cruz wird die Volkszählung als Allheilmittel gegen den Zentralismus empfunden, der durch die neue Verfassung überwunden werden sollte. So wurde die Forderung nach der Durchführung des Zensus im Jahre 2023 zu einem politischen Schlachtruf. Bei einer Volksversammlung Anfang Oktober in Santa Cruz wurde der Regierung ein Ultimatum gestellt, das Dekret, mit dem der Zensus auf 2024 verschoben worden war, zu annullieren. Die Organisator*innen sprachen von anderthalb Millionen Teilnehmer*innen. Die regionale Wahlbehörde, die die Versammlung zu beobachten hatte, hat auch drei Wochen später noch nicht ihren Bericht veröffentlicht. Wie es heißt, fehlt noch die Zahl der Teilnehmer*innen. Doch selbst wenn es nur 500.000 gewesen sind und wenn die Volksversammlungen als Instrumente der demokratischen Willensbildung und Entscheidungsfindung eine der fragwürdigeren Errungenschaften der bolivianischen Verfassung sind: Die Veranstaltung hätte eine Mahnung für die Regierung sein können, die Proteste ernster zu nehmen. Es seien nur wenige Tausend gewesen, so der MAS Abgeordnete Rolando Cuellar. Und Präsident Luis Arce Catocora versuchte die Veranstaltung mit der Bemerkung klein zu reden, die Menge sei politisch irrelevant. Eine Reaktion, die – zumal in einem kleinen Land mit nicht einmal 12 Millionen Einwohner*innen – wenig geeignet war, den angekündigten unbefristeten Generalstreik aus dem Weg zu räumen.
Unklarheiten im Wahlregister
Bezüglich des Termins der Volkszählung möglicherweise auch relevant ist die Frage, ob die Ergebnisse den Daten des Wahlregisters widersprechen könnten. Seit längerem gibt es – auch von einem nach Androhung von Strafprozessen inzwischen ausgeschiedenen Mitglied des nationalen Wahlgerichtshofs – Anschuldigungen, dass das Wahlregister künstlich aufgeblasen sei.
Anklagen gegen Funktionär*innen, die bei den letzten Wahlen entdeckt wurden, als sie Doppeleinschreibungen vorgenommen hatten, sind im Sand verlaufen. Und viele Bolivianer*innen können aus ihrem privaten Umfeld von Fällen berichten, dass die verstorbenen Eltern im Wahlregister auftauchten. Und Angehörige, die nicht gewählt hatten, wurden vom Wahlgericht später mit der Aussage überrascht, sie hätten ihre Stimme doch abgegeben.
Vor allem in Bezug auf die ländlichen Regionen, zu denen Mitglieder der Opposition häufig keinen Zugang bekommen, weil sie von den Basisorganisationen der MAS kontrolliert werden, werden Zweifel geäußert, ob die Zahl der Wähler*innen wirklich der Zahl der berechtigten Bewohner*innen entspricht. Doch dies dürfte schwer zu kontrollieren sein, da Migrant*innen aus der Stadt zum Zensus häufig in ihre Heimatgemeinden zurückkehren, damit die staatlichen Gelder dorthin fließen. Viele leben tatsächlich im Wechsel sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Die Zweifel werden jedoch verstärkt durch die bisherige Weigerung der Behörden, die Daten des Wahlregister mit dem des Zivilregisters abzugleichen.
Eine technische Frage wird zum Machtkonflikt stilisiert
Statt zu verhandeln, oder sogar den Forderungen entgegen zu kommen, um den Konflikt zu entschärfen, nutzte die Regierung die Zeit bis zum angekündigten Streikbeginn, um die eigene Basis zu mobilisieren. Wohl auch in der Hoffnung, dass sich die Proteste auf Santa Cruz beschränken würden. Dort hatte man sogar den Bürgermeister auf die Regierungsseite ziehen können. Obwohl der aufgrund des immensen Bevölkerungswachstums am meisten Interesse an einer Neuverteilung der staatlichen Gelder haben müsste und durch seine Parteinahme deutlich an Zustimmung verloren hat. Und El Alto ist zwar kritisch gegenüber Evo Morales, von dem die Stadt sich benachteiligt fühlt, aber alles andere als den Oppositionsparteien zugeneigt. Tatsächlich wurden dann in La Paz, Potosí und Cochabamba Unterstützungserklärungen abgegeben und Demonstrationen angekündigt oder durchgeführt. In Tarija im Süden des Landes wurde ein – in diesem Fall – eintägiger Streik angekündigt, sollte die Regierung auf dem Termin in 2024 beharren.
Regierungssprecher*innen erklärten die Protestbewegung gegen die Verschiebung der Volkszählung auf das Jahr 2024 als parteipolitisch motivierten Destabilisierungsversuch. Gar von einem Putschversuch gegen die Regierung Arce war die Rede. Und manche Hardliner in Santa Cruz mögen auch darauf spekuliert haben. Sie erinnern sich, dass Evo Morales 2019 nach seinem versuchten Wahlbetrug durch wochenlange Streiks zum Rücktritt gezwungen worden war. So zum Machtkonflikt stilisiert, waren Verhandlungslösungen um so schwieriger.
Straßenblockaden werden unterstützt, wenn sie der Regierung zu nützen scheinen
Anhänger*innen der MAS organisieren fast im Wochentakt irgendwo im Land und vor allem in Santa Cruz gegen den dortigen Gouverneur Luis Fernando Camacho Straßenblockaden. Bisweilen schickt die Regierung sogar Polizei, um die Blockierer vor Räumungen durch betroffene Anwohner*innen zu schützen.
500 der Polizist*innen, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Vorfeld des Generalstreiks zusätzlich nach Santa Cruz geschickt worden waren, mussten in Montero nun aber selbst zu Fuss eine Blockade für einen geforderten Krankenhausbau umgehen.
Gegenüber dem Generalstreik der Oppositionellen ist die in den Regierungsmedien etablierte Argumentationslinie klar: Die Proteste werden als Angriff der Oligarchie auf die kleinen Leute dargestellt. Denn die müssen von der Hand in den Mund leben. Die Blockaden seien eine Verletzung ihres Grundrechts auf Freizügigkeit und auf Arbeit, deren Durchsetzung die Regierung mit organisierten Parteianhänger*innen, der Polizei und Räumungsgerät garantieren werde.
Bei einem Rücktritt von Arce stünde auch Evo Morales politischer Ziehsohn bereit
Die drohende Beeinträchtigung von Produktion und Handel durch einen tage- oder gar wochenlangen Generalstreik im wichtigsten Wirtschaftszentrum Boliviens wäre gerade für Präsident Arce ein guter Grund gewesen, rechtzeitig auf die Opposition zuzugehen und nicht das dreiwöchige Ultimatum abzuwarten. Sein Image als erfolgreicher Ökonom ist das politische Pfund, mit dem er wuchert. Und manche hatten ihn gewählt, damit die ständigen Unruhen und Straßenblockaden ein Ende finden. Bei einer möglichen gewaltsamen Eskalation wird Arces Ansehen jedoch angekratzt, selbst wenn die Ordnungskräfte im Verbund mit den zur „Pazifizierung“ entsandten Gruppen von Parteianhänger*innen letztlich obsiegen. Und bei einem Rücktritt, den die Opposition laut Regierung eigentlich erzwingen wolle, stünde zunächst der Vizepräsident David Choquehuanca, und danach Evo Morales politischer Ziehsohn Andrónico Rodriguez von den Kokabauern des Chapare als Senatspräsident für die Nachfolge bereit. Beides politische Konkurrenten von Arce. Den Fehler eines massenhaften Rücktritts der Amtsträger*innen aus den eigenen Reihen wie im Jahr 2019 wird die MAS gewiss nicht mehr wiederholen.
Im Vorfeld des Generalstreiks breiteten sich der ehemalige Präsident Jorge „Tuto“ Quiroga und sein ehemaliger Chef des staatlichen Statistikamtes dann auch noch datailliert darüber aus, wie sie in der Vergangenheit mit wesentlich weniger finanziellen Mitteln, weniger Personal und schlechterer technischer Ausstattung als heute in deutlich kürzerer Zeit eine Volkszählung mit soliden Ergebnissen durchgeführt hätten. Der ehemalige Statistik-Chef ließ es sich auch nicht nehmen zu erwähnen, dass er den Job damals nur unter der Bedingung der politischen Unabhängigkeit angenommen habe. Der derzeitige Chef des Nationalen Statistik-Instituts ist seit Monaten krank geschrieben. Sein Rücktritt wurde von der Regierung nicht angenommen.
Erste Verhandlungen und ein Toter
Wenige Stunden vor dem angekündigten Streikbeginn am 21. Oktober zeigte sich die Regierung dann etwas flexibler. Wohl auch weil die Gegenveranstaltung der Regierungspartei am gleichen Tag weit weniger als ein Zehntel der Anzahl von Menschen zusammen brachte, als das Comité Civico, das Komitee der Verbände und Berufsorganisationen von Santa Cruz, drei Wochen zuvor.
Nun bot die Regierung eine Vorziehung des Zensus um ein bis zwei Monate auf April 2024 an und die Umverteilung staatlicher Gelder spätestens sechs statt zwölf Monate danach. Auch das Initiativkomitee für einen Zensus 2023 unter Führung des Rektors der staatlichen Universität von Santa Cruz flexibilisierte seine ursprünglichen zeitlichen Vorstellungen, hielt aber am Jahr 2023 fest. Vier Monate zeitlicher Differenz statt einer Einigung. Sprich der Generalstreik begann noch um Mitternacht. Und in der Grenzstadt Puerto Quijarro gleich mit einem Toten, einem Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Der war mit seinen Parteigenoss*innen losgeschickt worden, um die dortige Blockade des Grenzpostens nach Brasilien „friedlich“ aufzulösen. Und so wie man sich vorher gegenseitig fehlende Verhandlungsbereitschaft und fehlende Information über die jeweiligen Vorschläge vorgeworfen hatte, geben die Konfliktparteien sich nun gegenseitig die Schuld an dem Tod.
Der vor allem in den zentralen Bezirken von Santa Cruz und zahlreichen Provinzstädten weitgehend befolgte Generalstreik wird fortgesetzt.
Eskalation statt Kompromisse
Die öffentlich übertragenen Verhandlungen am ersten Streiktag schienen einen Kompromiss zu versprechen: Die Modifikation des ursprünglichen Dekrets zur Verschiebung auf das Jahr 2024 mit der Formel, der Termin solle in einer Fachkommission nach rein technischen Kriterien geklärt werden. Bei einem so politisierten Thema war allerdings nicht klar, was mit den rein technischen Kriterien konkret gemeint war. Denn die Fachdebatte im Vorfeld war an fehlenden Informationen gescheitert. Und noch bevor sich die Konfliktparteien zu Beratungen zurückzogen, machte ein Regierungsmitglied deutlich, das Dekret solle erst verändert werden, wenn die Kommission einen neuen Termin bestimmt habe. Umgekehrt bestand das Bürgerkomitee nach Rückkehr aus den Beratungen auf einer Modifikation, die das Jahr 2023 festlegen würde. Sprich: die erste Verhandlungsrunde war gescheitert.
Die Ankündigung der regierungsnahen Basisorganisationen am nächsten Tag, die Städte einzukesseln, wenn der Generalstreik nicht beendet werde, bedeutete die nächste Eskalationsstufe. Denn dann würde nicht nur das Recht auf Freizügigkeit und Arbeit verletzt, sondern auch die Lebensmittelversorgung abgeschnitten. Ein Plan, den auch schon Evo Morales 2019 umzusetzen versucht hat.
Wie auch immer der Generalstreik ausgeht und wie auch immer die Terminfrage für die Volkszählung am Ende entschieden wird: Es ist nur ein Element im Kampf um die Bewahrung oder Rückgewinnung der Macht, der ansonsten derzeit vor allem innerhalb der Regierungspartei geführt wird. Um weitere Konfliktfelder wird es in den nächsten Beiträgen der kleinen latinorama Serie „Operation Macht“ gehen.