Monatelang war das bolivianische Parlament von der Exekutive gegängelt und daran gehindert worden, seiner gesetzgebenden und Kontrollfunktion nachzukommen. Dies auch mit Hilfe einer von der Regierung abhängigen Justiz. Nach dem offen ausgetragenen Machtkonflikt zwischen Präsident Luis Arce Catacora und Ex-Präsident Evo Morales ist die MAS (Movimiento al Socialismo) allerdings gespalten und hat die Regierung die Mehrheit im Parlament verloren.
Anfang Juni nun rebellierte das Parlament. Der Machtkonflikt zwischen den Verfassungsorganen liegt offen und sein Ausgang ist ungewiss.
Mit stoischer Mine öffnete Israel Huaytari Martínez als Präsident des bolivianischen Abgeordnetenhauses in den letzten Wochen immer wieder die Mikrofone. Eine lange Liste von Rednern und Rednerinnen der Regierungsfraktion betonten in stundenlangen und immer wiederkehrenden Sitzungen die Notwendigkeit, neue Kredite für den Andenstaat zu bewilligen. Die Opposition und Anhänger*innen von Evo Morales forderten dagegen eine Änderung der Tagesordnung und die Behandlung des Gesetzentwurfes zur Beendigung der Mandate der obersten Richter*innen. Die hatten sich Ende vergangenen Jahres nicht nur selbst die Amtszeit verlängert. Sondern mit ihren Urteilen haben sie immer wieder auch den Neuwahlprozess verzögert, durch den sie abgelöst werden sollen. Oder sie haben dem Parlament wegen angeblich fehlender Rechtsgrundlage entgegen dem Paragraf 135 der Verfassung untersagt, amtierende Minister*innen zu befragen und ihnen ihr Misstrauen auszusprechen. Auch wenn so etwas dank unklarer Gesetzeslage üblicherweise keine Folgen hat: Zwar müssen solche Minister*innen dann laut Verfassung entlassen werden. Doch nicht erst Präsident Arce Catacora folgt der Praxis, die Betroffenen danach gleich wieder neu zu berufen.
Konfliktpunkt: Amtszeitbegrenzung der obersten Richter*innen
Währenddessen hörte sich der aus der Gewerkschaftsbewegung im Norden von Potosí kommende Abgeordneten-Präsident alle Beschwerden ohne die Mine zu verziehen an, um der nächsten Sprecherin oder dem nächsten Sprecher das Wort zu erteilen. Nur eines tat er nicht: Den umstrittenen Gesetzentwurf auf die Tagesordnung zu setzen, oder dies nur zur Abstimmung zu stellen. Und so blieb es lange bei reinen Tagesordnungsdebatten. Obwohl das Gesetz zur Begrenzung der Amtszeit der obersten Richter*innen Teil des politischen Kompromisses zur Beendigung der fast zweiwöchigen nationalen Straßenblockaden zwischen Januar und Februar war. (siehe diesen vorherigen Beitrag auf Latinorama).
Der Vizepräsident und Präsident beider Abgeordnetenkammern David Choquehuanca hatte damals die Verhandlungen organisiert und die Ergebnisse schließlich akzeptiert, nachdem er das Parlament im Dezember gegen dessen Willen und mit Unterstützung der obersten Richter zwangsweise in den Urlaub geschickt hatte. So konnten die Gesetzentwürfe zur Beendigung des Mandats der Richter*innen nicht mehr fristgerecht behandelt werden. Fortan wären dafür beide Kammern – Senat und Abgeordnetenhaus – in gemeinsamer Sitzung zuständig gewesen. Doch der dafür verantwortliche Vizepräsident Choquehuanca weigert sich seitdem beharrlich, die Versammlung auch nur einzuberufen. Eine Anzeige wegen Verletzung der Dienstpflichten wurde von der Justiz abgelehnt bzw. aufgeschoben. Die Abgeordneten schienen der Willkür der Regierung machtlos ausgeliefert. Ein Versuch, durch die Besetzung des Podiums der Parlamentsleitung den neuen Mehrheitsverhältnissen Geltung zu verschaffen, endete im März in gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Während Präsident Arce in Russland ist, probt das Parlament den Aufstand
So blockieren sich seit Monaten Justiz und Regierung auf der einen Seite, und das Parlament auf der anderen Seite gegenseitig. Schließlich sah der Senatspräsident Andrónico Rodríguez, der sich zunehmend als Alternative im unlösbar scheinenden Machtkonflikt zwischen Arce und Morales positioniert, die Chance, die Blockade zu durchbrechen.
Der Präsident war zu Putin nach Russland gereist, der Vizepräsident hatte dessen Amtsgeschäfte übernommen. Folglich übernehme er, Andrónico Rodríguez, als dritter in der Hierarchie die Funktionen des Vizepräsidenten. Seiner Einberufung beider Kammern folgte ein Gerichtsbeschluss, der dies untersagen wollte, dies durch den Richter, der auch schon die parlamentarischen Anhörungen von Minister*innen untersagt und damit seine geringe Wertschätzung der parlamentarischen Kontrollfunktionen zum Ausdruck gebracht hatte. Hinzu kamen Drohungen der Arce-Anhänger, Rodríguez wegen Amtsanmaßung durch die Polizei festnehmen zu lassen. Und wie schon im Dezember entzog das Verfassungsgericht auch diesmal wieder dem jungen Politiker die Kompetenz zur Einberufung von Versammlungen. Ex-Präsident Eduardo Rodríguez Veltzé, der selbst einst dem Verfassungsgericht in einer Zeit vorgestanden hat, als rechtlicher Sachverstand noch im Vordergrund der Entscheidungsfindung stand, meinte, das Verfassungsgericht sei gar nicht zuständig in dieser Frage. Alles, was in der Versammlung geschehe, urteilten die obersten Richter dennoch, sei rechtlich unwirksam.
Parlamentssitzung im Dämmerlicht
Die Parlamentsverwaltung, bzw. Unterhauschef Huaytari kündigten für den Tag zudem die Desinfizierung der Räumlichkeiten an, wie es hieß „zur Vorbeugung von Krankheiten“. Alle müssten das Gebäude dafür verlassen. Der Polizeigeneral Álvaro Álvarez erklärte später, der Abzug des Personenschutzes für Andrónico Rodriguez sei nur kurzfristig gewesen, um das Personal fortzubilden.
Aber auch eine Polizeisperre um das Parlament herum, teilweise versperrte Türen und Aufzüge, blockierte Zugangsausweise und die Unterbrechung der Stromzufuhr konnten am 6. Mai die Zusammenkunft des gesetzgebenden Organs mit dem nötigen Quorum nicht verhindern, auch wenn es erst einmal im Halbdunkel tagen musste und manche Abgeordnete auf Megaphone zurückgreifen mussten, um sich Gehör zu verschaffen. Anscheinend waren sie auf so etwas vorbereitet, wenn nicht Meister der Improvisation. In Abwesenheit der Gefolgsleute von Präsident Arce wurde der so lange verschobene Gesetzentwurf dann – diesmal ohne lange Debatten – im Schnellverfahren von den Gefolgsleuten Evo Morales gemeinsam mit der der Opposition verabschiedet. Und gleich dazu noch die Autorisierung an die Parlamentskommissionen, mit dem Auswahlprozess der neuen Richter*innen fortzufahren, der eigentlich schon letztes Jahr hätte stattfinden sollen. Und obwohl die Verwaltung dann wieder das Licht einschaltete, wenn auch nicht die Mikrofonanlage, war der Kompetenzkonflikt zwischen den Verfassungsorganen offensichtlich. Präsident Arces Anhängerschaft sprach – wie schon bei den jüngsten Protesten der Transportunternehmen wegen Treibstoffmangels – von einem Staatsstreich, einer Straftat. Man bereite die Anzeige gegen Rodríguez vor. Der selbst vertritt die Auffassung, dass das Vorgehen regelkonform und bereits in der Vergangenheit gängige Praxis seiner heutigen Kritiker gewesen sei. Zudem seien die Anordnungen des Gerichts zu spät und nicht rechtskonform übergeben worden.
Aber es ist wenig wahrscheinlich, dass die derzeitigen Richter dieser Sichtweise folgen und ihrer eigenen Entmachtung zustimmen. Laut einem erstem Kommentar werde man „in strikter Befolgung der Gesetze“ reagieren.
Präsident Arce ist gerade in Sankt Petersburg. Dort lobte er vor Präsident Putin seine Wirtschaftspolitik und stellte sich an der Seite Russlands als Opfer eines hybriden Krieges dar. Es ist zu bezweifeln, dass er nach seiner Rückkehr die beschlossenen Gesetze unterzeichnet. Mit Ausnahme der ebenfalls in der Sitzung bewilligten Kredite, die er angesichts des Devisenmangels und der wirtschaftlichen Schwierigkeiten dringend benötigt. Die Anhänger von Evo Morales haben jedenfalls neue Straßenblockaden angekündigt, sollte Präsident Arce innerhalb von zehn Tagen die vom Parlament verabschiedeten Gesetze nicht unterzeichnen.