vonPeter Strack 30.12.2023

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

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Bei seinen Besuchen im ganzen Land, so Boliviens Präsident Luis Arce Catacora in seiner Weihnachtsansprache, habe er feststellen können, dass die Stabilität zurückgewonnen worden sei. Und mit der Politik der Industrialisierung und Importsubstituierung würden die Grundlagen für ein neues Bolivien mit einer diversifizierten Wirtschaft und Chancen für alle gelegt. Eine wirtschaftliche Krise, so Arce kurz davor, bestehe nur in den Kommentaren Oppositioneller, die seine Regierung zu destabilisieren versuchten.

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Man sei dabei, die aufgetretenen Schwierigkeiten zu überwinden, beruhigte Präsident Arce. Und zwar so, dass die verletztlichsten Gruppen der Bevölkerung dabei priorisiert würden. Arce proklamiert damit das Gegenmodell zum jüngst in Argentinien zum Präsidenten gewählten Javier Milei. Aber auf dessen Versprechen setzten wohl auch deshalb so viele sozial Benachteiligte ihre Hoffnung, weil die Peronisten rechtzeitige und ausreichende Kurskorrekturen versäumt hatten.

Die über 9 Prozent Wachstum, mit denen die Regierung Arce 2022 warb, wurden schon damals nicht erreicht, Foto: Peter Strack

Die makroökonomischen Eckwerte, mit denen die bolivianische Regierung reüssiert, sind eine im internationalen Vergleich mit 2,1% niedrige Inflationsrate sowie die Stabilität des offiziellen Wechselkurses der bolivianischen Währung. Hinzu kommt eine seit dem ersten Covid-Jahr wieder wachsende Wirtschaft, auch wenn das Bruttoinlandsprodukt mit laut Regierungsangaben knapp 2,7% weniger gewachsen ist, als in den Vorjahren und auch als in der Haushaltsplanung für 2023 mit 5,1% zu Grunde gelegt wurde. Schließlich wird eine mit 3,8% der Beschäftigten niedrige Arbeitslosenziffer als Erfolg angeführt.

Von versteckter und offener Arbeitslosigkeit und der Prekarisierung der Arbeitsbedingungen

Dabei sind allerdings über 80% der Beschäftigten in Bolivien im informellen Sektor tätig und dieser Anteil steigt sogar noch an. Darunter sind zwar eine Reihe von Topverdienern etwa aus dem Handel, dem Immobiliensektor, dem Schmuggel oder der Drogenwirtschaft. Auch ist der Wirtschaftsminister der Meinung, dass aufgrund des kostenlosen staatlichen Basisgesundheitsdienstes und einer Grundrente für alle nicht von Informalität die Rede sein könne. Doch die große Mehrzahl derjenigen, die ohne Anstellungsverhältnis, Steuern zu zahlen und Sozialversicherung erwerbstätig sind, verdient weniger als den gesetzlichen Mindestlohn.

Zudem ist der Gesundheitsdienst nur an wenigen Orten wirklich kostenlos und schon gar nicht vollständig. Und die staatliche Mindestrente reicht mit umgerechnet etwa 380 Euro im Jahr auch in Bolivien nicht zum leben. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) wies in ihrem jüngsten Bericht über die Arbeitssituation in Lateinamerika darauf hin, dass Bolivien sich in einem Prozess der Verarmung der arbeitenden Bevölkerung befinde. Die Inflation habe die Lohnzuwächse aufgefressen. Insbesondere für Jugendliche, alleinstehende Frauen und die informell Beschäftigten seien die Bedingungen heute immer noch prekärer als in der Zeit vor der Covid-Pandemie.

Die Hälfte de regulären Beschäftigungsverhältnisse sind beim Staat: Postschalter in Sucre, Foto: Peter Strack

Dass etwa die Hälfte der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse inzwischen im Staatssektor zu finden sind, hat auch mit einer Arbeitsmarktpolitik zu tun, die der von Javier Milei in Argentinien geplanten diametral entgegensteht: Staatlich festgesetzte und nicht mit den Unternehmen verhandelte Lohnerhöhungen, Beschränkung von Entlassungen (selbst dann, wenn Unternehmen Defizite erwirtschaften) und kontinuierlich steigende Sozialabgaben. Denen darf sich nur der Staat selbst als Arbeitgeber entziehen, etwa durch Konsultoren- oder Kettenarbeitsverträge. Bei der Post wurde die zunehmende Last der Sozialabgaben noch unter der Regierung Morales dadurch gelöst, dass das Unternehmen geschlossen und Monate später ein neues Unternehmen gegründet wurde. So konnten das übernommene Personal keine akkumulierten Rechtsansprüche mehr geltend machen. Und bei den Neuanstellungen konnte die Regierung ihre Parteifreunde berücksichtigen.

Der Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums, von dem in einem früheren Beitrag auf Latin@rama berichtet wurde, ist inzwischen wegen Korruption bei der Vergabe von Arbeitsplätzen zwar in Untersuchungshaft. Auch wurde ein Gutteil des Personals im Ministerium fast zeitgleich ausgetauscht. Doch noch ist unklar, ob es sich tatsächlich um eine Antikorruptionsmaßnahme handelt oder einfach um interne Auseinandersetzungen in der Regierungspartei um Pfründe. Bislang jedenfalls sind für junge Fachkräfte, die sich nicht dem Parteidiktat unterwerfen wollen, die Aussichten auf eine reguläre Beschäftigung weiter frustrierend gering. Viele von ihnen schauen deshalb nach Spanien oder Chile, selbst wenn sie in Bolivien dringend benötigt werden.

Luis Arce Catacora als Pilot: Die Regierung lobt auf Großplakaten die niedrige Inflationsrate.  Foto: Peter Strack

Subventionen dämpfen die Inflation auf Kosten einer erhöhten Staatsverschuldung

Werfen wir einen Blick auf die Inflationsrate. Die ist auch wegen des Reallohnverlustes niedrig. Viele Verbraucher*innen sind einfach knapp bei Kasse und können keine höheren Preise zahlen. Seit dem Schockprogramm von Javier Milei sind die Preise für die geschmuggelten Waren aus Argentinien aber deutlich angestiegen. Dabei sind die Preise für wesentliche Nahrungsmittel wie Brot oder den Sozialtarif bei Strom festgelegt.

Aber vor allem Treibstoffe vom Kerosin, über das Gas und Benzin bis hin zum für das Transportwesen und die Landwirtschaft wichtige Diesel werden stark subventioniert. In 2023 kostet das den Staat rund eine Milliarde Euro, immerhin etwa drei Prozent des Staatshaushaltes. Im Jahr 2016 war es gerade mal ein Fünftel dieser Summe. Auch wegen Zahlungsrückständen des allein für den Import autorisierten Staatsunternehmens YPFB kommt es immer wieder zu akutem Treibstoffmangel. Der verdoppelte Dieselpreis, den Agrarproduzenten dann auf dem Schwarzmarkt zahlen müssen, um ihre Ernte nicht zu verlieren, geht in die Berechnung der Inflationsrate nicht ein.

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Ein unerfülltes Versprechen der Regierung aus dem Jahr 2019, erfolgreiche Erdgasexplorationen im Einklang mit der Natur, Foto: Peter Strack

Unökonomisch und unökologisch

Die Treibstoffsubventionen kommen dabei nicht nur der bolivianischen Bevölkerung, sondern auch den Nachbarstaaten zugute. Laut Angaben des Statistikinstituts wurden im Vorjahr 31% mehr Diesel nach Bolivien importiert als im Lande verbraucht wurden. Das kann nicht nur an der Flotte der Esel gelegen haben, von denen an der peruanischen Grenze berichtet wird. Die seien dazu trainiert worden, alleine mit den Treibstoffkanistern über die unbewachte Grenze ins Nachbarland zu laufen, wo für den Treibstoff Weltmarktpreise gezahlt werden, um nach dem Abladen wieder zu ihren Besitzern zurückzukehren.

Evo Morales hatte vor Jahren eine Anpassung der Treibstoffpreise politisch nicht durchsetzen können. Doch damals sprudelten noch die Einnahmen aus dem Erdgasverkauf. So treiben die Subventionen heute Bolivien nicht nur weiter in die Schuldenfalle, sie verhindern auch eine ökologische Anpassung zugunsten klimafreundlicher Energien.

Die Stabilität des Wechselkurses ist fiktiv

Auch trotz der enormen Kosten für die Zentralbank und Währungsreserven betont Präsident Arce immer wieder, es werde keine Abwertung des Boliviano geben. Dabei hat diese längst stattgefunden. Auf dem Parallelmarkt wird der US-Dollar inzwischen für 7,70 Bolivianos und nicht mehr die offiziellen 6,96 Bolivianos verkauft. Und Unternehmen, die US-Dollar für die Bezahlung von Importprodukten benötigen, wird zwar auf dem Papier der offizielle Wechselkurs berechnet. Doch die Gebühren sind so hoch angesetzt, das die Kosten dem Schwarzmarktkurs nahe kommen. Diese gut 10 Prozent Wertverlust de bolivianischen Währung seit dem Jahr 2011 sind tatsächlich nicht dramatisch, vor allem im Vergleich mit Argentinien.

Dennoch will die Regierung nicht einmal diese Anpassung vornehmen, um die aktuellen Versorgungsschwierigkeiten mit der US-Währung zu beseitigen und die Entstehung eines Parallelmarktes zu verhindern. An den Überweisungen der Auslandsbolivianer*innen verdient der bolivianische Staat ja auch ganz gut mit dem niedrigen Wechselkurs. Selbst Besitzer von Dollarvermögen können nicht in dem von ihnen gewünschten Umfang auf ihre Konten zugreifen. Maximal 500 Dollar bekommt eine Privatperson am Schalter. Die Regierung bezeichnet das als normal. Und ein Dollar-Konto kann nur eröffnen, wer mindestens 5000 US-Dollar bar einzahlt. Anscheinend fürchtet die Regierung, die mit der Stabilisierung der nationalen Währung all die Jahre auf die Bolivianisierung der Wirtschaft gesetzt hat, eine Flucht in Fremdwährungen. Diese könnte ja noch einen stärkeren Kursverlust verursachen.

Insbesondere für Jugendliche, alleinerziehende Frauen und die Mehrheit der im informellen Sektor Tätigen ist die Situation noch prekärer als vor der Covid-Pandemie, Foto: Peter Strack

Ratingagenturen stufen Boliviens Kreditwürdigkeit herab

Die Ratingagenturen haben allerdings immer weniger Vertrauen in die Erfolgsrhetorik der bolivianischen Regierung. Und dazu hat sicher beigetragen, dass über Monate Wirtschaftsdaten wie die Höhe der Zentralbankreserven einfach nicht oder viel zu spät veröffentlicht wurden. Nachdem 2023 auch noch der größte Teil der Goldbestände der Zentralbank verkauft wurde, ist allein klar, dass die Währungsreserven von im Jahr 2014 noch rund 15 Milliarden US-Dollar inzwischen auf unter 2 Milliarden gesunken sind. Zuletzt stufte Standard & Poor ihre Einschätzung zu Boliviens Kreditwürdigkeit im November von B- auf CCC+ herab. Begründet wurde das mit den geringen Währungsreserven, dem hohen Haushaltsdefizit und der mangelnden Transparenz der Zentralbank.

Tatsächlich wird es schwieriger für Bolivien, auf dem internationalen privaten Markt Schulden aufzunehmen. Beim letzten Versuch, Staatsanleihen zu verkaufen, mussten höhere als die marktüblichen Zinsen angeboten werden, und trotzdem wurde nur ein Teil der Anleihen gekauft. So wird vermehrt auf den Inlandsmarkt zurückgegriffen. Dies geschah mit der Verpflichtung der Rentenfonds, einen bestimmten Teil der Anlagen beim bolivianischen Staat zu tätigen. Seit September 2022 sind die Rentenfonds ohnehin wieder verstaatlicht, Kreditgeber und Kreditnehmer sind identisch. Auch die Aufsichtsbehörde ist von der Regierung abhängig – keine guten Voraussetzungen für eine Anlagepolitik im Sinne der Versicherten.

Entwicklung der Auslandsschulden Boliviens in der Zeit der Militärdiktaturen, der Redemokratisierung und seit Regierungsantritt der MAS, Quelle: Fundación Jubileo

Steigende Staatsschulden

In einer jüngsten Veröffentlichung zieht die Stiftung Jubileo Bilanz. Sie war eine der Hauptakteure der Entschuldungskampagne für den bolivianischen Staat zu Beginn der Regierungszeit von Evo Morales. 2022 betrug die Auslandsverschuldung mit rund 13 Milliarden USD etwa 10 Milliarden mehr als im ersten Regierungsjahr 2006. Gab es zu Regierungsbeginn nur bilaterale und multilaterale Gläubiger, so schuldete der bolivianische Staat bereits 16% privaten Gläubigern mit den entsprechend höheren Zinsen. Und der Schuldendienst betrug mit 1,8 Milliarden fast so viel wie der Umfang der neu aufgenommen Auslandskredite. Die Verschuldung im Inland liegt inzwischen mit 15,6 Milliarden US-Dollar noch höher.

Nicht eingerechnet dabei sind die fünf Milliarden Schulden der Staatsbetriebe bei der Zentralbank, allen voran der Stromgesellschaft ENDE, des Erdölkonzerns YPFB und des staatlichen Lithiumunternehmens YLB. Selbst in den ersten Regierungsjahren bis 2014, als es noch kein Haushaltsdefizit gab und die Erdgaseinnahmen hoch waren, hat die MAS-Regierung massiv Schulden gemacht hat. Das entspricht nicht der keynesianischen Lehre antizyklischer Fiskalpolitik, die Präsident Arce in England studiert hat. So liegen heute die Gesamtschulden bei 65% des Bruttoinlandsprodukts, 15% mehr als die von Andenpakt und Mercosur empfohlene Höchstgrenze. Sie wurde erstmals seit dem Entschuldungsprogramm zum Regierungsantritt von Morales im Jahr 2020 wieder überschritten. Und der Schuldendienst frisst heute 30 Prozent der Staatseinnahmen auf.

Entwicklung der Gesamtschulden des bolivianischen Staates ohne die Staatsunternehmen, blaugrün die Auslandsschulden, gelb die Inlandsschulden, Quelle: Fundación Jubileo

Industrialisierung als Schlüssel zum Erfolg?

Folgt man der Regierung, ist das alles kein Grund zur Sorge. Denn mit den aufgenommenen Krediten würden die Industrialisierung Boliviens und damit zukünftige Einnahmen finanziert. Bolivien werde immer weniger auf Importe angewiesen sein. Diese Strategie war in Lateinamerika nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre sehr verbreitet. Und es ist tatsächlich schwer verständlich, warum das Agrarland Bolivien nicht nur Kartoffeln und Mehl, sondern mit seinem Rohstoffreichtum auch Nägel, Bleistifte und Dieseltreibstoff importieren muss. Doch ob die Importsubstitutionsstrategie im heutigen Bolivien unter veränderten Weltmarktbedingungen noch funktioniert? „Mas ruido que nueces“ heißt eine Studie des Forschungszentrums CEDLA, die 2018 eine ernüchternde Bestandsaufnahme machte. Und seitdem hat sich wenig verbessert.

Zwei von drei Staatsunternehmen erwirtschaften Gewinne, Quelle: Hugo Siles Espada

Laut einer Studie von Hugo Siles Espada mit Daten von 2022 sind zwar die Einnahmen der 500 größten Unternehmen Boliviens gegenüber dem Vorjahr um knapp 12% gestiegen, die Gewinne aber um gut 12% gesunken. Und nur zwei von drei Staatsunternehmen machen überhaupt Gewinne. Unter den 21 Staatsunternehmen mit Gewinnen sind vor allem Dienstleistungsbetriebe wie die Strom- oder die Luftfahrtgesellschaft sowie extraktive Unternehmen wie beim Erdgas und die staatlichen Bergwerke. Nur drei Unternehmen tragen im eigentlichen Sinne zur angekündigten Industrialisierung bei: Ein Kartonagebetrieb, die Computerfabrik Qhuipus, die vor allem den Staat selbst beliefert, und laut Liste erstaunlicherweise auch der Metallurgische Komplex von Mutún, der eigentlich erst 2024 die Produktion aufnehmen und mit Erdgas als Energieträger betrieben werden soll.

Krise? Für manche funktioniert das Wirtschaftsmodell recht gut: Öffentliche Verschuldung, private Aneignung; Foto aus El Alto: Katrin Schweiker

Gemischte Bilanz der Staatsbetriebe

Doch das Gas wird in Bolivien inzwischen knapp. Mit der sogenannten Nationalisierung fiel nämlich auch die Verpflichtung der bisher verantwortlichen privaten ausländischen Konzerne weg, einen Teil der Gewinne in Explorationen zu re-investieren, wie die Journalistin Amalia Pando kritisiert. All das sollte in Staatshänden bleiben, um die Gewinne im Lande zu behalten. Nur was unter den damaligen Bedingungen noch funktioniert haben mag, wird heute zum Problem. Die Reserven und die Produktion sind stark gesunken und inzwischen zahlt Bolivien mehr für importierte Treibstoffe, als es durch den Gasexport verdient. Weil nicht genug Geld zur Verfügung steht, werden auch die bewilligten staatlichen Haushalte nicht ausgeschöpft. Die öffentlichen Investitionen, bislang Wachstumsmotor, haben sich in den letzten sieben Jahren halbiert. Nun kündigt die bolivianische Regierung Gesetzesmodifikationen an, um das Land attraktiver für ausländische Investoren zu machen. Diese würden weit über Vorschläge politischer Gegner hinaus gehen, die die MAS in der Vergangenheit noch als Ausverkauf des Landes durch neoliberale Laikaien des Imperialismus gebrandmarkt hatte.

Verschuldung der Staatsbetriebe gegenüber der Zentralbank, Quelle: Fundación Jubileo

Ohnehin sind Siles Espadas Zahlen zu den Staatsunternehmen im Blick auf den Industrialisierungseffekt und Rentabilität mit Vorsicht zu interpretieren. Meist handelt es sich bei den aufgeführten erfolgreichen Betrieben um Erbringer von Dienstleistungen, die von der Regierung selbst bezahlt werden (wie die staatliche Druckerei), oder die keine Konkurrenz haben und die Gebühren frei festlegen können (wie die Warenlager des Zolls oder die staatliche Rentenverwaltung). Unter den 11 defizitären Unternehmen sind neben dem Seilbahnunternehmen von La Paz (nicht ungewöhnlich für den öffentlichen Nahverkehr) jedoch gleich sechs Produktionsbetriebe. Dazu gehören die Erzverarbeitungsanlage von Vinto bei Oruro und die Zuckerfabrik von San Buenaventura im Tropischen Norden von La Paz. Der fehlen für eine rentable Auslastung die Rohstoffe. Gebraucht hätte es diese Fabrik eigentlich ebenso wenig die Ende 2023 in Probebetrieb gegangene Zementfabrik in Potosí. Von den vorher bestehenden Unternehmen wurde bereits genügend Zucker bzw. Zement produziert (vgl. auch diesen früheren Beitrag in Welt-Sichten).

Das Volk der Tacana wartet seit Jahrzehnten vergeblich auf die rechtliche Absicherung ihres traditionellen Landes: Die Regierung priorisiert die Erdgasprospektion und Bergwerksunternehmen, Foto: Ara Goudsmit/Revista La Brava

Haushaltslöcher stopfen auf Kosten der Natur

Der Slogan von Präsident Arce bei der Gründung eines staatlichen Pharmaunternehmens im ablaufenden Jahr, dass „jetzt“ die Industrialisierung Boliviens beginne, übersieht geflissentlich, dass es seit vielen Jahren zwar nicht viele, aber auch durchaus erfolgreiche Industriebetriebe gibt. Das Unternehmen Inti SRL, das 3000 pharmazeutische Produkte produziert und vertreibt, wurde von der deutschstämmigen Familie Schilling immerhin schon 1936 in La Paz gegründet.

Das erste in Bolivien produzierte Elektroauto wurde 2019 von einem Privatunternehmen auf den Markt gebracht, noch bevor die staatliche YLN die dafür nötigen Batterien zur Verfügung stellen konnte, Foto: Peter Strack

Aber es geht nicht in erster Linie um Industrialisierung, sondern um die Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft. Dafür wird auch mal ein mit der staatlichen Luftfahrtgesellschaft konkurrierendes Privatunternehmen mit administrativen Schikanen monatelang aus dem Verkehr gezogen, bis die Reserven aufgebraucht und die Besitzer gezwungen sind, es zu verkaufen. Und es geht nicht einmal so sehr um einen starken Staat, sondern die politische Kaste, die diesen kontrolliert. Die meisten Staatsbetriebe sind zudem formal privatrechtlich konstituiert, was die parlamentarische Kontrolle erschwert. Und ob die Welt in Zeiten der Energiewende auf den ersten nuklearen Forschungsreaktor mit russischer Technologie auf 4000 Meter in Bolivien gewartet hat? Dessen Baukosten sollen 300 Millionen US Dollar betragen. Für 2025 ist der Betriebsstart geplant. Dabei ist noch weniger als vermutlich in Deutschland geklärt, wie die radioaktiven Abfälle sicher entsorgt werden sollen.

Eines der Hauptwahlversprechen von Luis Arce im Jahr 2020 war die Produktion von Agrodiesel, um Importe zu substituieren. Dafür wird allerdings importierter Dieseltreibstoff für die Produktion der pflanzlichen Rohstoffe subventioniert, und der Pensionsfonds fördert mit günstigen Krediten die Entwaldung zugunsten neuer Anbauflächen. 164.000 Hektar Wald wurden bereits für den Agrardiesel geopfert, insgesamt über 400.000 Hektar würden zur Versorgung der drei geplanten Fabriken benötigt, kritisierte der ehemalige UNO-Botschafter Pablo Solón auf einer jüngsten Veranstaltung der Vizepräsidentschaft zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in La Paz.

Grafik zum Anstieg der bolivianischen Fleischexporte, Quelle: Bolivianisches Institut für den Außenhandel IBCE

Auch den rasant angestiegenen Fleischexport sieht Solón als eine Haupttriebfeder der Abholzung und des Abbrennens der bolivianischen Wälder. Nur noch 30% des bolivianischen Amazonas-Waldes seien intakt, ein Fünftel endgültig verloren. Über 18.000 Tonnen Fleisch wurden im Jahr 2022 exportiert, zwei Drittel davon nach China und 85% in unverarbeitetem Zustand. Die bolivianische Regierung feiert das als großen Erfolg. Die Exporte bringen dringend benötigte Devisen, aber sie tragen gleich doppelt zur Verschärfung der Klimakrise bei: Durch die Entwaldung und durch die Emission von Methangas.

Gebremste Erwarungen beim Lithium

Zenon Huallani, Gemeindeoberhaupt von Salinas, erhofft sich Arbeitsplätze von der Lithium-Ausbeutung. Mit den Dorfautoritäten habe man aber noch nicht geredet, wie es gesetzlich eigentlich vorgeschrieben ist, Foto: Ara Goudsmit/Revista La Brava

Es sei unmöglich, dass die Ausbeutung der Lithium-Vorkommen in Bolivien die zurückgehenden Gasreserven kompensieren könne, dämpfte der für beides zuständige Minister Franklin Molina die hohen Erwartungen an das „weiße Gold“. Nachdem die Verträge mit den chinesischen Investoren nicht veröffentlicht wurden, ließ er im Interview mit der Tageszeitung El Deber vom 17. Dezember immerhin durchscheinen, dass die aktuellen Lithium-Projekte nicht mehr als 6 bis 8% an Royalities hergeben würden. Auch beim Lithium plane die Regierung zudem Gesetzesänderungen, damit Bolivien attraktiver für Investoren werde.  Die derzeitigen Verträge sehen einen Stufenplan vor, bei dem die späteren Stufen erst relevant werden, wenn Bolivien die gesetzlichen Konditionen für die russischen und chinesischen Investoren verbessert habe. Die Bevölkerung vor Ort wird derweil im Unklaren über mögliche ökologische Folgen gelassen, wie Ara Goudsmit Lambertin in ihrer anschaulichen Reportage in der Online-Zeitschrift Revista La Brava beschreibt.

Was an Steuern eingespart wird, kann als Weihnachtsgeschenk abgegeben werden, so wie diese Allradfahrzeuge an Mitglieder einer Goldkooperative. Nicht alle Kooperativen sind jedoch so lukrativ, und zwischen offiziellen Kooperativenmitgliedern und ihren Angestellten gibt es teilweise erhebliche Unterschiede, Screenshot Internet

Und beim Gold, einem der derzeit wichtigsten Exportprodukte, verhindern politische Motive, dass die Kooperativen, die zur sozialen Basis der Regierung gehören und den Großteil des Goldes fördern, mehr als 4% an Abgaben zahlen.

Dementsprechend versucht die bolivianische Regierung, bei den aktuellen Haushaltsverhandlungen einen Freibrief für die Aufnahme neuer Kredite herauszuschlagen, ohne künftig dafür das Parlament fragen zu müssen, wie es gesetzlich eigentlich vorgesehen ist. 8,9% soll der Staatshaushalt Boliviens 2024 gegenüber dem Vorjahr steigen, so die Planung. Aber das Budget für das Umwelt- und Wasserministerium, das ohnehin zu 80% aus dem Ausland finanziert werde, soll trotz der verschärften Probleme mit der Trockenheit sogar noch um 10% gekürzt werden. Falsche Prioritäten, wie Pablo Solón kritisiert. Dieser Etat wäre weniger als ein Drittel der Summe, die im abgelaufenen Jahr für Treibstoffsubventionen gezahlt wurde.

“Souveränes Lithium – ein großer Schritt hin zur  nachhaltigen Entwicklung Boliviens” verspricht dieses Regierungsplakat, Foto: Peter Strack

Vorerst keine Kurskorrekturen in Sicht

Abgesehen von den Gesetzesänderungen für verbesserte Konditionen für ausländische Investoren gibt es derzeit keine Hinweise darauf, dass die Regierung der MAS vor den für 2025 geplanten Neuwahlen ihren wirtschafts- und insbesondere fiskalpolitischen Kurs ändert. Aber selbst wenn bei der Korruption und bei den skandalös niedrigen Abgaben auf die Goldexporte die Stellschraube angesetzt werden sollte, was erheblichen wirtschaftlichen Handlungsspielraum erzeugen könnte: Bis dahin bleibt offen, wie lange die Probleme der steigenden Verschuldung, der Devisenknappheit und der Zerstörung der natürlichen Reichtümer noch aufgeschoben werden können. Rufe nach einem bolivianischen Javier Milei sind bereits laut geworden. Aber statt allein über den “anarcho-kapitalistischen” Nachbarn zu klagen und die eigene Politik mit teurer Werbung schönzureden, könnten auch eigene Fehlentwicklungen und Entscheidungen reflektiert werden. Und vielleicht wird gerade die Entwicklung in Argentinien für Bolivien noch rechtzeitig die Richtung für seriösere und sozial- sowie umweltverträglichere Lösungen weisen.

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https://blogs.taz.de/latinorama/weder-lithium-noch-milei/

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kommentare

  • Mis felicitaciones por el amplio comentario sobre la economía boliviana, que a la fecha está siendo mal encaminada, disfrazada y ocultada por toda forma. En el caso del Litio hay que señalar que han pasado más de 30 años y a la fecha el gobierno y sus técnicos no pueden producir carbonato de litio, para el colmo el Banco Central de Bolivia a prestado a la empresa estatal Yacimientos de litio boliviano mil millones de dólares americanos para producir 15 mil tonelada de carbonato de litio año y hasta la fecha solo se inaugura y se re-inaugura la planta de producción de carbonato de litio.
    Para los habitantes de la provincia Daniel Campos, donde está ubicado íntegramente el GRAN SALAR DE TUNUPA, de donde se extraerá la salmuera para obtener carbonato de litio, es una verdadera frustración, peor si no participamos en la cadena productiva de la producción de Litio.

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