vonGerhard Dilger 06.07.2010

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Latin@rama: Herr Galeano, wer wird Fußballweltmeister?

Eduardo Galeano: Zum Propheten tauge ich nicht. Und außerdem, das gestehe ich Ihnen, will ich die Zukunft gar nicht wissen.Wenn eine Zigeunerin meine Hand nimmt und mir anbietet, sie zu lesen, flehe ich sie an: „Señora, bitte seien Sie nicht grausam“.

Ich will nicht wissen, was geschehen wird, ja, nicht einmal vorweg spüren, denn das Beste im Leben wartet immer hinter der nächste Ecke. Und ich füge hinzu: Zum Glück gehen die Vorhersagen daneben. Die Zeit macht sich über jene lustig, die sie erraten möchten.

„Geschlossen wegen Fußball“ (Foto: Zero Hora)

Was halten Sie von der deutschen Mannschaft?

Erstaunlich! Sie hat die Kraft und die Schnelligkeit der alten Zeiten, dazu eine Eleganz und eine Freude, vielleicht der Beitrag so vieler jungen Spieler, die in ihre Reihen aufgenommen wurden, der Einwanderer oder Einwandererkinder. Im Fußball wie im Leben bedeutet die ethnische Vermischung Verbesserung.

Und warum haben es die Argentinier letztlich nicht geschafft?

Sie haben in mehreren Spielen geglänzt und jetzt sind sie weg, gedemütigt durch ein Schützenfest: Das macht mich traurig, auch wenn der deutsche Sieg mehr als gerecht war. Wo hat Argentinien versagt? Offensichtlich hat es das Mittelfeld vernachlässigt, es fehlte an den Verbindungen zwischen vorne und hinten, und Messi wurde nach allen Regeln der Kunst von der deutschen Abwehr blockiert.

Vielleicht hat das auch ein wenig mit der Messi-Abhängigkeit zu tun. Wenn es einen so außergewöhnlich guten Spieler gibt, kommt es fast zwangsläufig zu so etwas. Jedenfalls, das ganz nebenbei, Messi spielte während der ganzen WM viel besser als der andere Superstar Cristiano Ronaldo. Der war da, aber keiner hat ihn gesehen.

Pelé zweifelte ja vor der WM Diego Maradonas Trainerkünste an. Hatte er Recht?

Im heutigen Fußball verrichtet der Trainer eine unsaubere, ja hochgiftige Arbeit: Es ist der Sündenbock der Niederlagen, und dasselbe Volk, das ihn in den Himmel gehoben hat, schickt ihn später in die Hölle. Vor ein paar Jahren schon wussten die Leute nicht mehr, was Trainer heißt, dann nannte man ihn technischen Direktor.

Die meisten südamerikanischen Stars spielen in Europa. Kann man diesen Fußball-Rohstoffexport abstellen?

Nein. Wir Länder des Südens werden weiter Hände und Füße für die Arbeit in den Norden der Welt exportieren.

Brasilien ist mit seinem Dunga-Rezept gescheitert. Was würden Sie Ihren Nachbarn im Hinblick auf die WM 2014 empfehlen?

Ich gebe und erhalte ungern Ratschläge, aber uns Lateinamerikanern geht es nicht gut, wenn wir die Erfolgsrezepte der Europäer nachahmen. Weder im Fußball noch sonstwo. Wir haben das auch nicht nötig. Ich habe schon mehrfach über die jetzige deutsche Mannschaft folgendes Lob gelesen und gehört: „Sie spielen wie Südamerikaner“.

Das Dunga-Rezept war nicht das beste für die südamerikanischste der südamerikanischen Mannschaften: Woran krankte Brasilien, dass es solche Medikamente brauchte?

Wie lautet Ihre bisherige WM-Bilanz?

Mein guter Freund Pacho Maturana, der zwei National- und mehrere Vereinsmannschaften in diversen Ländern trainiert hat, pflegt zu sagen, und er irrt sich nicht: „Der Fußball ist ein Zauberreich, in dem alles passieren kann“. Wir Lateinamerikaner waren glücklich, zum ersten Mal in der Geschichte kamen vier unserer Mannschaften ins Viertelfinale und dann, mit einem Schlag, paff! war nur noch Uruguay alleine gegen Europa übrig.

Mit dieser Ausnahme ist die WM wieder eine EM. Vorher gab es schon keine Afrikaner mehr, ganz Afrika ist nicht mehr bei dieser WM dabei, der ersten WM in Afrika. Die Boateng-Brüder sind die dramatische Metapher des Geschehenen: Der Boateng, der für Ghana spielt, ist weg, und übrig ist der Boateng, der für Deutschland spielt.

Es waren ja die Himmelblauen, die den afrikanischen Traum beendet haben. Wie haben Sie die letzten Momente der Partie Uruguay-Ghana erlebt?

Das war ein Hitchcock-Film. Das hat mir den Atem geraubt. Mir und allen, die das spannendste aller WM-Spiele gesehen haben. Wie man weiß, gewann Uruguay, und gleichzeitig wurde so die Niederlage von ganz Afrika besiegelt. Ich habe das gefeiert, und zugleich habe ich eine tiefe Trauer verspürt. Im Fußball wie im Leben gibt es Freudenmomente, die schmerzen.

Warum ist diese uruguayische Mannschaft so stark?

Weil sie an das glaubt, was sie tut, und die Begeisterung gleicht das aus, was ihr fehlt. Ich weiß nicht, ob sie ins Finale kommt, aber wieder ist es wundersam wahr, dass ein Land mit weniger Einwohnern als ein Viertel von Buenos Aires fähig sein kann, die Welttrophäe zu erobern. Wir alle feiern das, die wenigen, die wir sind, denn Uruguay ist ein äußerst fußballverrücktes Land, hier schreien alle Babys bei ihrer Geburt Gooooooool!!!!

Im Celeste-Trikot steckt viel Energie. Und die Geschichte hilft auch. Unser Ländchen hat zwei Fußball-Olympiaden gewonnen, als es die WM noch nicht gab, und zwei Weltmeisterschaften, die erste hier in Montevideo, und dann die von 1950, als wir Brasilien bei der Einweihung des größten Stadions der Welt, dem Maracanã, vor 200.000 tobenden Zuschauern besiegt haben.

Eduardo Galeano, 69, schrieb den Fußball-Klassiker Der Ball ist rund und die Tore lauern überall (Wuppertal 1997, Neuauflage Zürich 2006). Zuletzt erschienen von ihm Fast eine Weltgeschichte (Wuppertal 2009) und Geschichte von der Auferstehung des Papageis (Zürich 2010).

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Nachtrag 8.7.  Das Original-Interview ist hier nachzulesen.

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