Indigene und weitere traditionelle Völker und Gemeinschaften stehen in Brasilien unter enormen Druck seitens ökonomischer Interessen der Großfarmer:innen und deren verlängertem politischen Arm, der „ruralista“-Fraktion im brasilianischen Nationalkongress, die seit Jahren die in der Verfassung von 1988 vorgesehene Ausweisung („Demarkation und Homologation“) der Indigenen Territorien beschneiden, beschränken, wenn nicht gar aufheben möchten. Vor allem der tropische Regenwald Amazoniens und die Savannenlandschaft des Cerrado, aber auch Gebiete anderer Biome Brasiliens stehen hier im Fokus der Inwertsetzungsstrategien von Farmer:innen und Firmen, von Politiker:innen und Geschäftsleuten, meist verbrämt unter dem stolzen Mantra von „Entwicklung“ und „Fortschritt“. Es sind vor allem die Indigenen Territorien, die dem Kommerzinteresse ein Dorn im Auge sind. Gestern tagte Brasiliens Oberster Gerichtshof STF erneut, um in der Urteilsfindung der sogenannten Stichtagsregelung des „Marco Temporal“ voranzukommen.
Von Christian Russau
Die Bedrohungen Amazoniens und indigener Territorien sind vielfältig
Es handelt sich um eine ganze Reihe von vor allem großen Infrastrukturprojekten aber auch geplanten Gesetzesänderungen, die die Integrität der Indigenen Territorien in Brasilien derzeit bedrohen. Die sichtbarsten und folgenschwersten Eingriffe auf Mensch und Umwelt befürchten die Indigenen durch die unzähligen kleinen, mittelgroßen bis hin zu großen Staudammbauten in den Flüssen Amazoniens. Zu schmerzhaft und deprimierend waren die Erfahrungen mit dem Staudammbau Belo Monte, dessen Umweltauflagen bis heute nicht vollständig erfüllt wurden und der viele Indigene und Flussanwohnende ribeirinhos ihrer Hauptproteinquelle, den Fisch, entzogen hat. Die Menschenrechtsorganisation Movimento Xingu Vivo para Sempre aus Altamira hatte zehn Jahre nach Baustart von Belo Monte eine desaströse Bilanz ziehen müssen. Gegenwärtig befindet sich vor allem die Tapajós-Region im Fokus der Staudammbefürworter:innen, auch wenn der letzte Plan des Megadammes São Luiz do Tapajós infolge des starken Widerstands der indigenen Munduruku gestoppt werden konnte. Aber die Betroffenen vor Ort wissen: Auch wenn ein Großprojekt wie der São Luiz do Tapajós von der Bundesumweltbehörde IBAMA abgelehnt wird, bedeutet dies nicht das Aus für das Projekt für immer – es kann immer wieder aus den Schubladen hervorgeholt werden, wenn die politische Agenda dafür opportun genug erscheint.
Nicht minder schwere Umweltauswirkungen befürchten die Indigenen, vor allem die Munduruku, Kayabi und Apiaka aus dem direkten Einzugsgebiet von Tapajós, Juruena und Teles Pires, von der geplanten Schiffbarmachung der drei Flüsse Tapajós, Teles Pires und Juruena, um den Sojatransport via Wasserstraße an die Atlantik-Überseehäfen am Amazonas zu erleichtern. Ein Ausbau der Wasserstraßen würde deutliche Preisreduzierungen bei den Logistikkosten der Soja-Barone aus dem Mittleren Westen wie dem Bundesstaat Mato Grosso bedeuten, was den weltmarktinduzierten Nachfragedruck beim Sojaanbau und mithin die Landkonflikte in der Region noch weiter massiv ansteigen lassen würde. Gleiches gilt im Übrigen für den weiteren Ausbau der Bundesstraßen, deren Asphaltierung dazu führt, dass dort ein regelrechtes Einfalltor für illegale Entwaldung geschaffen wird: Denn asphaltierte Bundesstraßen „zerhacken Amazonien“, wie Umweltaktivist:innen schon lange kritisieren, da entlang ihrer Routen 80 Prozent aller Rodungen in Amazonien erfolgen, Erhebungen zufolge entlang eines 30 Kilometer breiten Streifens eben entlang der asphaltierten Straßen.
Enorme soziale und Umweltauswirkungen befürchten die Menschen in den Indigenen und weiteren traditionellen Territorien auch durch den vermehrten Bau von Bahnlinien wie z.B. der Ferrogrão-Bahnlinie, die den Jamanxim-Nationalpark in Pará durchschneiden würde und den Nachfragedruck auf die Soja-Anbaugebiete mit allen damit einhergehenden Landkonflikten weiter erhöhen würde. Gleiches gilt im Übrigen auch für das Milliardenprojekt zum Bau einer Bahnstrecke und neuen Hafens im Munizip Alcântara im Bundesstaat Maranhão für den Ausbau des Exports von Soja, Erzen und künftig auch Wasserstoff, an dem die Deutsche Bahn sich nun beteiligt hat.
Auch der weiter voranschreitende Ausbau von Bergbau großindustrieller Art wie der Erzbergbau von Vale in Carajás oder der Bauxitbergbau der Mineração Rio do Norte (MRN) in Oriximiná bedroht immer wieder durch Umweltverschmutzung und -verseuchung, durch Ausweitung der Tagebauflächen sowie durch weitere Mißachtung der eigentlich unveräußerlichen Menschenrechte der direkt vom Projekt betroffenen Menschen die Lebenswelten der angrenzenden Anwohner:innen, oft Indigene, Quilombolas oder Angehörige weitere traditioneller Völker Brasiliens. Brasilien ist der zweitgrößte Eisenerzproduzent der Welt und der viertgrößte Bauxitproduzent.
Hinzu kommen im landwirtschaftlichen Bereich des Agrobusiness horrend hohe Pestizideinsätze, nicht selten mit Wirkstoffen europäischer, auch deutscher Hersteller, deren Verwendung in Europa schon längst verboten ist. Dies ficht aber das brasilianische Agrobusiness nicht an, im Gegenteil, im brasilianischen Nationalkongress liegen derzeit mehrere Gesetzesvorhaben auf dem Tisch, in denen es um die weitere Flexibilisierung der Umweltgesetzgebung und um die Verabschiedung des sogenannten Giftpakets geht. Letztere Gesetzesvorlage des „Pacote do Veneno“ („Giftpaket“) der PL 1459/2022 würde die Grundlagenbestimmung über Produktion, Lagerung, Verwendung und Entsorgung von Agrarchemikalien in Brasilien neu definieren. Die Folge wären: noch mehr Flexibilisierung und noch mehr Pestizide auf Brasiliens Äckern.
Die judikative-legislative Rückdrängung der Indigenen und weiteren traditionellen Gruppen aus ihren Territorien
Doch ganz oben auf der Agenda der Verfechter:innen der Idee, dass die „noch unerschlossenen“ Regionen Brasiliens mittels inwertsetzender Entwicklungsideologie zu profitablen Produktionszentren für den Weltmarkt werden sollen, stehen nicht konkrete Großprojekte, sondern die judikativ-legislative Rückdrängung der Indigenen und weiteren traditionellen Territorien ganz oben auf der politischen Agenda. Zentraler Argumentationspunkt dabei ist die juristische Argumentation der sogenannten Stichtagsregelung „Marco Temporal“. Am 7. Juni dieses Jahres befasste sich der Oberste Gerichtshof STF zum wiederholten Male mit der Stichtagsregelung „Marco Temporal“.
Beim „Marco Temporal“ geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach der die juristische Anerkennung jedes indigenen Territoriums von dem Nachweis seiner Nutzung am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der heute gültigen Verfassung Brasiliens, abhängen soll. Die indigene Gemeinschaft, die Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet erhebt, müsse nachweisen, dass sie an besagtem Stichtag auf genau diesem Land gelebt hat oder sich zu diesem Stichtag in einem gerichtlichen Streit um das Land oder in einem direkten Konflikt mit Eindringlingen befunden habe. Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“ versuchen die Zusammenschlüsse der indigenen Völker Brasiliens seit Jahren, auf die Absurdität der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ in Medien und Öffentlichkeit hinzuweisen.
Der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) sieht die juristische These des „Marco Temporal“ als verfassungswidrig an, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, ignoriert und einfach den Stichtag als Grundlage des neuen Gesetzes anerkennt. Darüber hinaus werde die Tatsache ignoriert, dass es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage gab, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebiets am 5.Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die eine kulturelle und spirituelle Bedeutung haben, aber nicht bewohnt werden.
Stichtagsregelung des „Marco Temporal“ und der Fall des Indigenen Territoriums der Terra Indígena Raposa Serra do Sol
Im Jahre 2009 hatte der Oberste Gerichtshof STF bereits einmal über die Stichtagsregelung des „Marco Temporal“ entschieden. Damals ging es um die Anerkennung des indigenen Territorium Raposa Serra do Sol. Das 1,7 Millionen Hektar große Gebiet in der nördlichen Hälfte des Bundesstaates Roraima ist die Heimat der indigenen Macuxis, Patamonas, Ingaricós, Taurepangues und Uapixanas. Es ist das größte Schutzgebiet Brasiliens und eines der größten der Welt. Damals wurde den Indigenen das Recht auf ihr Territorium und die Ausweisung aller anderen, als illegal angesehenen Invasor:innen vom Obersten Gerichtshof in einem in der Tat nervenaufreibenden Gerichtsprozess beschlossen – und dieses Urteil berief sich dabei auf die Stichtagsregelung des „Marco Temporal“. Die betroffenen Indigenen konnten nachweisen, dass sie zum Stichtag vom Oktober 1988 auf dem besagten Gebiet als Gemeinschaft lebten. Das 2009 erlassene Urteil wurde einerseits mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn das Gericht erkannte an, dass die rechtliche Absicherung der indigenen Gebiete ein nationales Gebot ist – auch aufgrund der historischen Schuld gegenüber den indigenen Völkern. Anderseits führte aber das Urteil in seiner Begründung auch die bewiesene Besiedlung des Gebiets im Jahre 1988 an, berief sich also auf den Stichtag. Dies löste seinerzeit Befürchtungen aus, dass in diesem eigentlich positiven Urteil eine Zeitbombe versteckt sei. 2013 entschied der Oberste Gerichtshof in einem weiteren Verfahren, dass das Urteil von 2009 über das Gebiet Raposa Serra do Sol nur für diesen konkreten Fall gelte. Seitdem stand noch immer ein Grundsatzurteil zur Stichtagsregelung des „Marco Temporal“ aus.
Stichtagsregelung des „Marco Temporal“ und der Fall des Indigenen Territoriums der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ
2009 war dann das Jahr, in dem ein anderer Landkonflikt um ein indigenes Territorium – die Terra Indígena Ibirama La Klãnõ im südlichen Bundesstaat Santa Catarina – die juristische Argumentation um die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ forcierte. Die Landesumweltbehörde des Bundesstaates Santa Catarina (vormals unter dem Namen Fundação do Meio Ambiente do Estado de Santa Catarina (Fatma), nun Instituto do Meio a Ambiente de Santa Catarina (IMA)) forderte vor Gericht die Räumung eines 80.000 Quadratmeter großen Gebietes, das von indigenen Xokleng, Kaingang und Guarani besetzt ist und das angrenzt an das im Jahre 1958 vom Staat ausgewiesene (aber noch nicht abschliessend demarkierte) Gebiet der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ. Das historisch von den Xokleng und den angrenzenden Kaingang und Guarani bewohnte Gebiet wurde Ende der 1980er Jahre noch durch den Bau des Staudamms Barragem Norte beeinträchtigt, so dass die Indigenen wiederum nur ein kleineres Gebiet beanspruchen konnten. Auf dem Gelände befinden sich heutzutage aber auch Tabakfarmer:innen und es sind dort Holzfirmen aktiv. Im Jahr 2000 reichten die Farmer:innen und eine Holzfirma Klage ein und argumentierten mit der Stichtagsregelung. Die Landesregierung von Santa Catarina argumentiert, dass die Indigenen das Gebiet illegal besetzt hielten und die Anerkennung als indigenes Territorium nicht rechtens sei, da die Indigenen am Stichtag, dem 5. Oktober 1988, auf dem Gebiet nicht anwesend waren. Daher gelte die Stichtagsregelung des „Marco Temporal“. Im Jahr 2013 wandte das Bundesgericht der 4. Region (TRF-4) im Bundesstaat Santa Catarina das Kriterium der Stichtagsregelung an, indem es der Landesumweltbehörde die Entscheidungshoheit über das Gebiet Ibirama La Klãnõ zusprach.
Nach dieser Entscheidung des TRF-4 legte die Indigenenbehörde des Bundes, FUNAI, beim Obersten Gerichtshof STF Berufung gegen die Entscheidung des Bundesgerichts TRF-4 ein. Im Jahre 2019 entschied Richter Alexandre de Moraes, dass dieser Fall – im Gegensatz zum vorherigen Fall der Raposa Serra do Sol – sehr wohl strahlende Rechtskraft grundlegender Natur habe, so dass das hier im STF zu entscheidende Urteil Grundsatzcharakter entfalte – und entsprechend künftig für alle anderen Landkonflikte um indigene Territorien in Brasilien Rechtskraft entfalte. Dies betrifft als erstes die aktuell noch anhängigen Prozessfragen von 214 noch unentschiedenen Demarkationen, die unter explizitem Verwies auf die oberstgerichtliche Entscheidung zum „Marco Temporal“ in Warteschleife verlegt wurden. Im Jahr 2021 gaben bereits zwei Richter des STF ihr diesbezügliches Votum ab: Richter Edson Fachin gegen den „Marco Temporal“ und Richter Kassio Nunes Marques für den „Marco Temporal“, bevor der Abstimmungsprozess im STF unterbrochen wurde.
Die Vertreibung und Ermordung der Xokleng und die historische deutsche Mitverantwortung
Brisant ist die Frage der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ im südlichen Bundesstaat Santa Catarina auch aus deutscher Perspektive, wie ein Hintergrundbericht der brasilianischen Sektion von Survival International darlegt. Denn die gewaltsame und äußerst brutale und menschenverachtende Vertreibung, Tötung bis hin zur Vernichtung der angestammt im Gebiet des heutigen Santa Catarina lebenden indigenen Xokleng ab den 1850er Jahren bis in die 1930er Jahre war eine direkte Folge der massiven deutschen Einwanderung in den Süden Brasiliens.
Brasilien – damals noch Kaiserreich – begann insbesondere ab dem Jahre 1850, die europäische Einwanderung zu fördern, um Land im Süden des Landes zu besetzen, zu „kultivieren“, zu „entwickeln“. Viele dieser Gebiete waren indigenes Land, was dazu führte, dass ein großer Teil der Xokleng und anderer indigener Völker gewaltsam aus ihren Territorien vertrieben wurde. Um den Weg für die europäische Besatzung freizumachen, finanzierte die Regierung die so genannten Bugreiros (das waren bewaffnete Gruppen, die auf die Ausrottung indigener Völker spezialisiert waren) und beschleunigte so den Prozess der kolonialen Landnahme. Die Besetzung des historisch angestammten indigenen Gebietes des Ibirama La Klãnõ der erst kurz zuvor kontaktierten Xokleng-Indigegen erfolgte äußerst brutal und gewaltsam durch die Bugreiros und eben durch deutsche Einwanderer:innen.
Ein zeitgenössischer deutschsprachiger Bericht aus dem Jahre 1907 zeigte klar die menschenverachtende Weltsicht der deutschen Einwanderer:innen und legitimierte den Genozid an den Indignen. Karl A. Wettstein (Oberleutnant a.D.) veröffentlichte 1907 sein Buch „Brasilien und Blumenau“, Bibliothek des Reichskolonialamts, Leipzig: Verlag von Friedrich Engelmann, 1907, in dem er zunächst die deutsche Lesart der Indigenen wiedergab: „[D]er alte Bewohner der Urwälder, der Botokude oder, wie man die Indianer gewöhnlich nennt, der Buger. Von diesem halbwilden Urwaldbewohner, der unbekleidet, vielfach noch mit Steinbeilen ausgerüstet, von Schnecken und Gewürm und von Erde als Zukost lebt, in rein okkupatorischem Gewerbe als Sammler, Fischer und Jäger das Hinterland von Blumenau durchstreift und keinerlei Handwerk, sondern nur tierischen Kampf ums Dasein kennt, trennt uns abgrundtief die Verschiedenheit der Kultur.“
Wettstein fuhr fort: „Dem Deutschtum aber erwächst die Aufgabe, durch mittelbare Hilfsmittel, namentlich Bahnen, das Unwesen der Buger unschädlich zu machen und durch schnell vorwärts geführte Kolonisation diese wilden Völker in rückständigere Nachbargebiete abzuschieben.“
Gleiche Schrift Karl A. Wettsteins zitiert die Zeitung „Urwaldboten“ aus Blumenau, die in deutscher Sprache den deutschstämmigen Leser:innen Folgendes vermittelte: „Die Buger stören die Kolonisation und den Verkehr zwischen Hochland und Küste. Diese Störung muß beseitigt werden und zwar so schnell und gründlich wie möglich. Sentimentale Betrachtungen über die ungerechte Praxis der Bugerjagden, die den Grundsätzen der Moral widersprechen, sind hier ganz und gar nicht am Platze. Will man sich aber auf dieses Gebiet begeben, so liegt es unserem Empfinden näher, Mitleid mit den Opfern der Wilden zu bekunden, anstatt mit den Mördern zu sympathisieren. […] Die vagabundierenden Stämme müssen durch ein großes Aufgebot von Bugerjägern und Waldläufern aufgehoben und so mit einem Schlage unschädlich gemacht w[e]rden. Der aufgehobene Stamm muß verpflanzt und unter strenger Bewachung interniert werden.“
Stichtagsregelung „Marco Temporal“: Historische Nicht-Anerkennung von 500 Jahren Landraub und Genozid sowie ein zu enges räumliches Verständnis indigener Gebiete
Die Vertreter:innen der Xokleng argumentieren deshalb vor Gericht, dass sie gewaltsam aus ihren Gebieten vertrieben wurden, viele ihrer Vorfahren ermordet wurden und dass ihnen ja erst die Verfassung von 1988 das Recht auf ihr angestammtes Gebiet (in der Theorie) gab und sie erst ab dann schrittweise ihre historischen Gebiete wieder in den Blick nehmen konnten. „Wenn wir 1988 nicht in einem bestimmten Gebiet waren, dann heißt das nicht, dass es Niemandsland war oder dass wir nicht dort waren, weil wir es nicht wollten. Die Stichtagsregelung verfestigt eine historische Gewalt, die bis heute ihre Spuren hinterlässt“, so der indigene Sprecher Brasílio Priprá von den Xokleng im Jahre 2020.
Hinzu zur historischen Nicht-Anerkennung von 500 Jahren Landraub und Genozid an Indigenen kommt, so die juristische Argumentation der Associação Brasileira de Antropologia ABA, die vor dem STF in der Klage um den Fall der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ als „amicus curiae“ auftreten, dass die These der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ von einem zu engen räumlichen Verständnis indigener Gebiete ausgehe. Die These des „Marco Temporal“, so die Anthropolog:innen von ABA, basiere „auf einer statischen Raumvorstellung, die im Widerspruch zu der dynamischen Art und Weise steht, in der indigene Völker ihr Territorium in Übereinstimmung mit der Verfassung besetzen. Für die Verfassung muss die traditionelle Besetzung eines indigenen Landes vier Elemente berücksichtigen: Räume für ständige Besiedlung, für produktive Aktivitäten, für physische und kulturelle Reproduktion und für die Erhaltung der Umwelt. Diese Elemente sind einander gleichwertig und werden im Laufe der Zeit auf unterschiedliche Weise genutzt. Es kann zu Fruchtwechseln, zur Diversifizierung von Jagd-, Fischerei- und Sammeltätigkeiten und sogar zu Veränderungen der Orte kommen, an denen Behausungen gebaut werden, sei es, um diese Tätigkeiten zu begleiten, sei es aus kosmologischen/religiösen Gründen oder aus spezifischen Gründen der sozialen Organisation. Die These lässt den Druck von außen außer Acht, der von der staatlichen Politik, von Landkonflikten oder von der Einschleppung von Krankheiten ausgeht, die die demografische Dimension und die Verteilung der indigenen Völker in den Gebieten beeinflussen können. Sie lässt auch die Tatsache außer Acht, dass ein Gebiet nicht nur durch seine wirtschaftlichen, sondern auch durch seine symbolischen Qualitäten gekennzeichnet ist, die die Entwicklung einer bestimmten Lebensweise ermöglichen.“
Machtpoker des Kongresses: Die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ und die PL 490
Während jahrelang vor dem STF um die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ gerungen wird und die Entscheidung darüber immer wieder vertagt wurde, da allen Beteiligten die Brisanz und vor allem die Konsequenzen einer diesbezüglichen Urteilsfällung klar wurde, blieb der Nationalkongres seinerseits nicht untätig. Als in der Öffentlichkeit der 7. Juni dieses Jahres als Termin des Obersten Gerichtshofes STF zur Entscheidung über die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ durch die Bekanntgabe durch die Richterin Rosa Weber publik wurde, schaltete sich das extrem konservativ dominierte brasilianische Abgeordnetenhaus ein und billigte am 30. Mai dieses Jahres den Gesetzentwurf über die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ in der Gesetzesinitiative PL 490/07 mit 283 Ja-Stimmen bei 155 Nein-Stimmen. Möglich wurde diese erdrückende Mehrheit für den „Marco Temporal“ durch die parteiübergreifende Fraktion der sogenannten „ruralistas“ der FPA (Frente Parlamentar da Agropecuária). Diese FPA stellt 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus, und in der zweiten Kammer des Nationalkongresses, dem Senat, zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator:innen. Die FPA stellt somit derzeit die mächtigste parteiübergreifende Fraktion im Nationalkongress dar.
Der vom Abgeordnetenhaus verabschiedete Gesetzesentwurf PL 490 beschränkt die Demarkation indigener Gebiete auf diejenigen, die am 5. Oktober 1988, dem Datum der Verkündung der neuen Bundesverfassung, bereits traditionell von diesen Völkern besetzt waren, ist also eine 1:1-Auslegung der Stichtagsregelung „Marco Temporal“. Um der PL 490 zufolge als traditionell besetztes Land zu gelten, muss laut dem Text objektiv nachgewiesen werden, dass es zum Zeitpunkt der Verkündung der Verfassung dauerhaft von der entsprechenden indigenen Gruppe oder Volk bewohnt war, für produktive Tätigkeiten genutzt wurde und für die Erhaltung der Umweltressourcen und die physische und kulturelle Reproduktion notwendig war. Wenn die indigene Gemeinschaft ein bestimmtes Gebiet vor diesem Zeitpunkt nicht bewohnt hat, kann das Land demnach nicht als traditionell bewohnt anerkannt werden, egal aus welchem Grund. Die Gesetzesinitiative PL 490 sieht außerdem die Erlaubnis vor, transgene Kultursorten auf von indigenen Völkern genutztem Land anzubauen, und verbietet es, bereits abgegrenztes indigenes Land zu erweitern: Wenn demnach ein Teil des ursprüngichen Territoriums in der Vergangenheit erfolgreich demarkiert wurde, so kann dieses Gebiet nicht in einem weiteren Schritt noch ausgeweitet werden. Zudem sieht die PL 490 vor, dass alle noch nicht abgeschlossenen administrativen Demarkationsprozesse an die neuen Gesetzesregeln angepasst werden müssten und bestimmt die Ungültigkeit aller in der Vergangenheit erfolgten Demarkationen, „die diesen Regeln nicht entsprechen“, so die PL 490. So wird die ganze Dramatik der PL 490 zur Stichtagsregelung „Marco Temporal“ deutlich, denn sie betrifft nicht nur künftige Demarkationen, sondern könnte rückwirkend auch bestehende Demarkationen juristisch angreifbar machen. Die am 30. Mai vom brasilianischen Abgeordnetenhaus verabschiedete PL 490 geht nun in die zweite Kammer des brasilianischen Nationalkongresses, in den Senat, wo sie unter der neuen Gesetzesinitiaven-Nummer PL 2903. Sollte der Senat Änderungen vornehmen, muss die PL wieder zurück zur Abstimmung in die Abgeordnetenkammer. Letztlich kann Präsident Lula noch sein Veto einlegen, aber auch dann bleiben dem Kongress noch weitere legislative Maßnahmen.
Beobachtende gehen mehrheitlich davon aus, dass die nach kurzfristiger Anberaumung recht schnelle Verabschiedung der PL 490 im brasilianischen Abgeordnetenhaus mit dem Termin des 7. Juni im Obersten Gerichtshof STF zu tun hat. Die „ruralistas“ der Frente Parlamentar da Agropecuária haben hier dem STF einen Wink ihrer Macht mit dem Zaunpfahl gegeben, denn sollte der STF gegen die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ stimmen, so bliebe dem Kongress natürlich noch die legislative Macht, eine neue Stichtagsregelung oder andere Versuche der Beschneidung indigener Territorialrechte gesetzgeberisch durchzusetzen und dergestalt Rechtswirkung in ihrem Sinne legislativ zu erlangen, solange sie damit nicht explizit gegen die Verfassung verstoßen. Das Ringen um den „Marco Temporal“ und die grundlegenden Angriffe auf die Territorien indigener und weitere traditioneller Völker und Gemeinschaften in Brasilien ist noch lange nicht entschieden. Der indigene Widerstand jedoch ist weiterhin entschlossen, ihre Rechte zu wahren, zu schützen und zu verteidigen.
Der STF tagt: Was wird aus der Stichtagsregelung „Marco Temporal“? – Vertagt.
Am 7. Juni dieses Jahres nahm Brasiliens Oberster Gerichtshof STF die Beurteilung der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ auf ihre Verfassungsgemäßheit im Falle der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ im südlichen Bundesstaat Santa Catarina wieder auf. Der Richter Alexandre de Moraes erinnerte in seiner Urteilsbegründung an das Massaker an den Xokleng im Jahre 1930, bei dem 284 Indigene, einschliesslich etlicher Kinder, brutal ermordet wurden, und dass daraufhin die wenigen Überlebenden flohen. Moraes fragte, wie könnten Verfechter:innen der Marco-Tempora-Regelung annehmen, dass die Überlebenden auf ihrem angestammten Gebiet hätten bleiben können, ohne dann auch ermordet zu werden? Moraes gab auch zu bedenken, dass selbst bis zum postulierten Datum der Stichtagsregelung des Marco Temporal, Oktober 1988, viele der Nachfahren der wenigen überlebenden Xokleng sich nicht trauten zurückzukehren, weswegen er die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ ablehne. Gleichzeitig erinnerte Moraes an die Bäuerinnen und Bauern, die vormals von Indigenen bewohnte Länderereien vom brasilianischen Staat in gutem Glauben und rechtskräftig erworben haben und dass diesen genauso Rechtssicherheit gewährt werden müsse. Dies könne, so der Vorschlag von Richter Moraes, erreicht werden, indem entweder die Entschädigungszahlungen für Enteigungen für einzurichtende Indigene Territorien erhöht werden oder aber, in den Fällen, in denen, so Moraes, „ganze Städte“ auf dem vormaligen indigenen Gebiet errichtet wurden, dass dann den Indigenen adäquate Ersatzflächen des Staates angeboten werden.
Daraufhin ergriff der Richter André Mendonça das Wort und bat um mehr Zeit zur Analyse der Rechtsfragen und beantragte Vertagung. Der Richter Luís Roberto Barroso erläuterte in seinem Kommentar kurz, dass er die Argumente von Richter Moraes verstehe, kritisierte aber Moraes‘ Argument des Angebots von adäquaten Ersatzlandflächen für Indigene in Fällen, wo die Frage rechtmässig in der Vergangenheit erworbenen Privateigentums eine Enteignung verbiete. Denn im aktuellen Fall der Xokleng gehe es nicht um Privatbesitzer:innen, sondern um das Landesumweltamt des Bundesstaats von Santa Catarina, das Anspruch auf das Gebiet erhebt und es bei einem Teil des Gebietes sich sowieso über ein Naturschutzgebiet handele. Barroso stimmte aber zu, dass die Frage der Entschädigungen und Ersatzflächen Thema sein müsse, wenn man die Frage des „Marco Temporal“ als Rechtsfrage mit Grundsatzcharakter behandele. Dies solle der Gerichtshof bei der nächsten Urteilsdebatte in dem Fall berücksichtigen.
Die vorsitzende Richterin Rosa Weber vertagte infolge der Aussetzungsbitte von Richter Mendonça die Urteilsdebatte. Mit dem Votum von Richter Alexandre de Moraes steht es nun 2:1 gegen die Stichtagsregelung „Marco Temporal“, ein neuer Sitzungstermin wurde nicht genannt.