vonGerhard Dilger 18.10.2012

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Von Martin Ling, ila 358

Die Champions von morgen werden bei den Champs von heute gemacht, den jährlich stattfindenden Leichtathletik- Schülerlandesmeisterschaften in Jamaika. Auch wenn die Dominanz der jamaikanischen Sprinter und Sprinterinnen erst seit den Olympischen Spielen in Peking 2008 manifest ist, als die JamaikanerInnen elf Medaillen auf den Strecken von 100 bis 400 Meter abräumten, in London war es vor Kurzem sogar noch eine mehr, reicht die Sprinttradition weit zurück. Bereits 1910, 52 Jahre vor der Unabhängigkeit, wurde der erste Wettstreit zwischen Schülern von sechs Lehranstalten auf der Karibikinsel veranstaltet. Schülerinnen dürfen erst seit 1957 offiziell um die Wette rennen.

Ob Jungs oder Mädchen: Rennen ist in Jamaika der Sport Nummer eins, schon längst bevor Usain Bolt 2008 damit angefangen hat, mit drei Olympiasiegen an seinem selbst gesteckten Ziel der lebenden Legende zu basteln und als Sportler zur Weltmarke zu werden wie es zuvor auf der Insel nur dem Reggae-Musiker Bob Marley gelungen war. Wie selbstverständlich Rennen in Jamaika ist, brachte die 400 Meter-Läuferin Novlene Williams-Mills vor den Spielen in London gegenüber der Washington Post zum Ausdruck: „Wir sind ein armes Land und nicht viele besitzen ein Auto. Das führt dazu, dass Du als Kind überall hinrennst“, schilderte die dreifache Bronzemedaillengewinnerin den Alltag im ländlichen Jamaika, wo sie im Landkreis St. Parish aufwuchs.

Klar, es gibt Cricket und Fußball, die beiden Mannschaftssportarten, die von der einstigen Kolonialmacht, dem Vereinten Königreich, auf die Insel gebracht und  begeistert adoptiert wurden. Auch Usain Bolt spielte beides in seiner Jugend und liebäugelt nach eigenen Angaben mit einer Karriere als Profifußballer bei seinem Lieblingsverein Manchester United im Anschluss an seine Leichtathletiklaufbahn. Ohne Ball wäre er mit Sicherheit der Schnellste.

Doch schon jedem jamaikanischen Kind ist klar: Der schnellste Weg berühmt zu werden, ist der Sprint. Schließlich reicht die Liste alleine der Goldmedaillengewinner von Arthur Wint (400 m) 1948 in London über Donald Quarrie (200 m) 1976 bis zu den 100-Meter-DoppelolympiasiegerInnen Usain Bolt und Shelly Ann-Fraser, die beide 2008 und 2012 reüssierten. Und Merlene Ottey, Jamaikas Sprintqueen, erlangte Weltruf, auch ohne bei Olympischen Spielen eine Goldmedaille einheimsen zu können – dafür neun silberne und bronzene und die letzte als 40-Jährige 2000 in Sydney.

An sportlichen Vorbildern fehlt es auf der 2,7 Millionen-EinwohnerInnen-Insel nicht, da bedarf es gar nicht des Blickes in die 5 Millionen Menschen zählende Diaspora, die mit Ben Johnson (Kanada 1988), Linford Christie (Großbritannien 1992) und Donovan Bailey (1996) jamaikanisch-Stämmige 100-Meter-Olympiasieger hervorbrachte, wobei Johnson seine Medaille wegen Dopings direkt verlustig ging und auch Christie Jahre später unerlaubter Methoden überführt wurde, ohne deswegen aus den Ergebnislisten von Barcelona 92 gestrichen zu werden.

Frei von Dopingverdacht ist kein Weltklassesprinter und keine Weltklassesprinterin. Dieser Generalverdacht trifft auch auf  Jamaika zu, zumal es in den letzten Jahren mehrere Dopingfälle „leichterer“ Art gab, sprich Medikamentenmissbrauch, der nicht mit mehrjährigen Strafen sondern nur mit mehreren Monaten geahndet wurde. Davon betroffen unter anderem Doppelsilbermedaillengewinner Yohan Blake 2009 und auch Olympiasiegerin Shelly Ann Fraser-Pryce 2010.

Eine weiße Weste hat nach wie vor Usain Bolt (Foto: Birte Timm), der die jamaikanischen Erfolge als Resultat harter  Arbeit beschreibt, wobei er selbst nicht gerade als extrem trainingsfleißig gilt. Dabei aber fraglos als außergewöhnlich talentiert, denn Bolt wurde schon als 15-Jähriger Juniorenweltmeister über 200 Meter zuhause in Kingston. Ein einschneidendes Erlebnis: „Das war das Schwerste, vor meinen Leuten zu laufen. Alle erwarteten den Sieg von mir. Das einzige, was du in einer solchen Situation im Kopf hast, ist, dass du für sie gewinnen musst. Du musst einfach dein Bestes geben. Wenn du später vor Millionen von Fremden rennst, ist das eine Leichtigkeit. Niemand von denen kennt dich“, sagte er vor der Weltmeisterschaft 2009 in Berlin gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Zuhause laufen müssen die Schüler und Schülerinnen. Jede Schule hat eine Laufbahn, dabei handelt es sich in der Regel um ein grasbewachsenes Feld, auf dem mit Teerfarbe die Bahnen markiert sind. Sprint wird im Schulsport methodisch gelehrt und wer mit seinem Talent auffällt, wird speziell gefördert, so wie Usain Bolt der in Trelawny in den Bergen des Cockpit Country aufwuchs, in dem sich einst entlaufene Sklaven, die so genannten Maroons verschanzten. Dort rannte der kleine Usain hügelauf und hügelab, weil das der Arzt gegen seine Hyperaktivität empfohlen hatte. Und schon damals schnell: „Wenn Usain mich auf dem Fahrrad kommen hörte, spurtete er den Berg hoch nach Hause“, erinnert sich der Vater Wellesley. „Ich wusste, wenn ich vor ihm ankomme, stimmt irgendwas nicht.“

An der William Knibb Memorial High School, an der der Läufer Bolt entdeckt wurde, gibt es nicht einmal Feuerlöscher. Investiert wird dagegen seit Jahr und Tag in zwei hauptamtliche Leichtathletiktrainer. Sie widmeten sich mit Inbrunst dem damals Elfjährigen, den der Krickettrainer wegen mangelndem Talent aus der Schulauswahl befördert hatte. Für die Leichtathletik-Auswahl reichte das Talent allemal und eine Teilnahme an den Champs, den landesweiten Meisterschaften der Oberschulen waren das erste große Ziel nicht nur seiner Läuferkarriere.

Schon im Grundschulalter finden Schulwettkämpfe statt. Der alles überstrahlende Höhepunkt sind indes die Champs, die alljährlich in der Hauptstadt Kingston im Nationalstadion stattfinden: An die 200 Schulen treten dort inzwischen gegeneinander an, dort wo auch die Trials genannte Qualifikationen für Großereignisse wie Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele stattfinden. Und wie bei den Trials ist das Stadion auch bei den SchülerInnenwettkämpfen voll.

Grace Jackson, einstige Weltklassesprinterin und heutige Sportwissenschaftlerin an der Universität of the West Indies in Kingston beschrieb die Champs wie folgt: „Dies ist die bedeutendste kulturelle Veranstaltung Jamaikas. Vier Tage messen sich hier 3500 Schülerinnen und Schüler von fast 200 Schulen. Das ist die Wiege unserer Leichtathletik.“ Dass ihre Einschätzung nicht übertrieben ist, zeigt auch das gewaltige Medienaufgebot: In Print, Funk- und Fernsehen wird in aller Breite berichtet. Undenkbar in Europa, dass Schulsport beim Publikum auf solche Resonanz stößt, nur die Endrunde beim College-Basketball in den USA ist ein ähnliches Phänomen.

Im Mittelpunkt der allgemeinen Berichterstattung steht der gestenreiche, auch mit Schauspieltalent ausgestattete Usain Bolt. Seinen Spitznamen Lightning (Blitzschlag) bringt er nach den Rennen seit Peking 2008 mit der Blitzgeste zum Ausdruck – die auch nach vier Jahren von manch uninformiertem Sportreporter als Pfeil und Bogen-Geste fehl interpretiert wird. In Jamaika würde das keinem Dreijährigen unterlaufen. Die Geste ist inzwischen Teil der populären Kultur wie die Songs von Bob Marley, die schon die Kindergartenkinder auswendig trällern können.

Der Schulsport, die harte Auslese, ist sicher ein ganz wesentliches Element für die Erfolge der jamaikanischen Leichtathletik. Für arme Kinder bietet der Sport einen Weg nach oben. Auch wenn nur wenige es bis zu Olympiamedaillen bringen, diejenigen, die ihrem sportlichen Talent Hochschul-Stipendien in den USA verdanken, sind Legion. Und die Bewerbung dafür sind die Champs, wo die Scouts aus den USA auf den Tribünen sitzen, um Verstärkung für ihre Hochschulen zu finden, die sich in den USA traditionell in prestigeträchtigen Wettkämpfen messen.

Früher war für jamaikanische SpitzenathletInnen der Weg in die USA ein Muss. Erst seit diesem Jahrtausend gibt es in Jamaika professionelle Trainingsgruppen im Erwachsenenbereich. Der erste Weltklassesprinter, der in Jamaika trainierte und trainiert, war Asafa Powell. Mit dem einstigen Weltrekordler begann Jamaikas Aufstieg zur Sprintmacht Nummer eins. Skeptiker sehen diesen Aufschwung in der unterstellt nachlässigen Arbeit der jamaikanischen Anti-Doping Agentur JADCO mit begründet, denn das gute jamaikanische Essen, das „Power Food“ rund um die Süßkartoffel allein könne die Schnelligkeit nicht hinreichend klären. Bolt sieht das naturgemäß anders: „Der Erfolg jamaikanischer Athleten hat wohl etwas mit der Zeit der Sklaverei zu tun“, vermutet er, „damit, dass unsere Gene stärker und stärker wurden. Wir wollen einfach siegen. Und wir arbeiten hart, wenn wir etwas erreichen wollen.“

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