vonGerhard Dilger 29.04.2015

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Der Journalist Karl-Ludolf Hübener aus Montevideo würdigt seinen Freund Eduardo Galeano.

Da fehle doch ein Wort, entfährt es Eduardo Galeano. Evo Morales hat ihm gerade ein Buch überreicht – mit dem Titel »El libro del mar«. Es müsse um »robado« ergänzt werden; also »Buch des geraubten Meeres«. Es geht um Boliviens Zugang zum Pazifik, den es im 19. Jahrhundert im Salpeterkrieg an Chile verloren hatte. Evo Morales blickt kurz auf, nickt, telefoniert nach La Paz: Bei weiteren Auflagen müsse unbedingt die neue Überschrift auf den Titel. Die Augen des von schwerer Krankheit gezeichneten 74-jährigen Galeano leuchten, als er sein letztes Treffen mit Boliviens Präsidenten schildert: Schließlich habe ihn Evo noch besorgt gefragt: Was machen wir mit dem krisengeschüttelten Venezuela? Ein Gespräch zwischen zwei Menschen, die befreundet sind und sich verstehen, die die Zukunft des Subkontinents umtreibt und die Lateinamerika verändern möchten. Ein Gespräch, das am 14. April jäh beendet wird.

Der Aymara Evo Morales war 2005 als erster Indigener in der Geschichte Boliviens zum Staatsoberhaupt gewählt worden. Er hoffe, schrieb Eduardo Galeano, dass die lange verachteten Stimmen der Ureinwohner Amerikas nunmehr gehört würden.

»Amerika kennt sich selber nicht«, wiederholte er ein ums andere Mal. Erinnern ist deshalb für Galeano ein Schlüsselwort: »Ohne Erinnerung wird Lateinamerika seine Identität und seinen eigenen Weg nicht finden.« Wie ein Leitfaden zieht sich dieser Satz durch das gesamte Werk Eduardo Galeanos. Für die Trilogie »Erinnerungen an das Feuer« stöberte er im spanischen Exil sieben Jahre lang in dickleibigen Büchern zur Geschichte des Subkontinents. Auf seinen unzähligen Reisen kreuz und quer durch Länder und Landschaften Lateinamerikas galten Neugier und Interesse insbesondere den Ureinwohnern. Viele bis dahin weitgehend unbekannte Geschichten, Mythen und Quellen hat er dabei entdeckt. Wer wusste schon, weshalb 1599 die Taironas-Indigenen in Kolumbien gegen die spanischen Kolonialherren aufbegehrten: »Seit grauer Vorzeit ließ sich hier scheiden, wer wollte, und man schlief mit seinen Geschwistern, wenn es einen danach gelüstete, und Frauen taten es mit Männern oder Männer mit Männern oder auch Frauen mit Frauen.« Die Spanier warfen die Frevler den Hunden zum Fraß vor.

Galeanos literarisch-journalistisches und poetisch-politisches Werk ist eine Absage an die offizielle Geschichtsschreibung, an die Version der »in Marmor und Bronze Verewigten«, wie er einmal schrieb.

Sein Haus in Malvin, einem Stadtviertel in Montevideo, erzählt von seinen Reisen, Beobachtungen und Begegnungen. Der einstöckige Flachbau ist eigentlich nichts Besonderes, wenn da nicht der breite Dachsims wäre. Mit seinen leuchtenden Farben hebt er sich vom wuchernden Grün des Vorgartens ab. Kräftiges Rot und Orange, schwarz umrissene Vogelmotive, die alten indianischen Fresken entlehnt sind und von Galeano weiter entwickelt wurden. Über dem Eingang prangt eine knallige Sonne. Im Hause setzt sich das Fest der Farben fort, ob auf Bildern aus Zentralamerika, indianischen Masken oder Wandbehängen aus Südamerika. Oder in den Bücherregalen.

Nicht nur Indigenen hat er eine Stimme verliehen, sondern auch anderen von der offiziellen Geschichte Vergessenen und Marginalisierten, ob nun Frauen, Erniedrigten, Rebellen, Gefangenen, Gefolterten oder Nachkommen afrikanischer Sklaven. Er lenkt den Blick auf Haiti, ein »unsichtbares Land«, von vielen als hoffnungsloser Fall des Elends abgetan. Nur wenige wissen, dass das Karibikland das erste Land auf der Welt ist, das mit einer Revolution die Sklaverei besiegt hat.

Vorbild für die tonangebenden, zumeist hellhäutigen Kreise in Lateinamerika war nach der Unabhängigkeit lange Zeit Europa. Europa hieß Zivilisation, Schwarze und Indigene verkörperten die Barbarei. Ein Platz in der Ersten Welt gilt auch heute noch als erstrebenswert. Politiker versprechen, hüben wie drüben, die so genannte Dritte Welt »zur Ersten Welt« zu wandeln, »wenn sie sich nur gut benimmt und wenn sie das macht, was man ihr befiehlt«. Wollen wir überhaupt »ihnen gleich« sein, fragte Galeano in seinem Buch: »Von der Notwendigkeit, Augen im Hinterkopf zu haben«. Es werde doch ein Entwicklungsmodell angeboten, »welches das Leben verachtet und die Sachen anbetet«, gab er zu bedenken. Nicht nur ihm schwant, dass sich der Planet »schon im Komazustand« befindet, »schwer vergiftet durch die industrielle Zivilisation und ausgewrungen bis auf den vorletzten Tropfen von der Konsumgesellschaft.« Wenn alle nach dem »Lebensmodell der Konsumgesellschaft« lebten, würde das der ohnehin gebeutelte Planet nicht ertragen.

Alternative Antworten schienen zu Beginn des 21. Jahrhunderts neue Regierungen in Venezuela, Brasilien, Ecuador, Uruguay, Argentinien und Paraguay geben. Kritiker stuften sie als rosarot, links oder progressiv ein. »Es ist wie eine Art Wiedergeburt in mehreren lateinamerikanischen Ländern, die ein Bewusstsein für ihre Würde entwickeln, das verloren schien oder zumindest betäubt«, begeisterte sich Eduardo Galeano. Tatsächlich schlossen die südamerikanischen Länder sich zum Integrationsprojekt UNASUR zusammen – unter Ausschluss der USA. Sie senkten entschieden die Armut in ihren Ländern. Allerdings auf der Grundlage eines extraktivistischen Wirtschaftsmodells, das auf Ausbeutung und Export mineralischer und agrarischer Rohstoffe beruht. Wie schon zu Kolonialzeiten und eindrucksvoll von dem damals 31-Jährigen in seinem Best- und Longseller »Die Offenen Adern« geschildert. »Die Ressourcen, die uns die Natur geschenkt hat, hätten eine Quelle des Glücks sein können, aber sie sind Grund für ewiges Unglück.«

Dass die Entwicklung in Lateinamerika eine andere Richtung nehmen könnte, darauf hoffte Galeano bis zuletzt. Beispielsweise mit »buen vivir« (Gutes Leben), das in der neuen Verfassung von Bolivien und Ecuador verankert ist. Der Natur werden dort eigene Rechte eingeräumt. Ziel ist ein harmonisches Zusammenleben mit der Natur. Es handelt sich erstmals um kein importiertes, sondern von indigenen Völkern im Andenraum entwickeltes Gedankengut.

Der undogmatische Sozialist und Antiimperialist war ein hartnäckiger Optimist. Eine andere Welt schien ihm möglich. Immer wieder keimte Hoffnung, die jedoch nur zu oft enttäuscht wurde. Ob es sich beispielsweise um Kuba handelt, das »schmerzt«, die sandinistische Revolution in Nicaragua, die autokratisch erstickt, oder die von ihm unterstützte Frente Amplio (Breite Front) in Uruguay, die die neoliberale Wirtschaftspolitik konservativer Vorgänger fortsetzt. Galeano kritisierte häufig verhalten – aber auch schon mal heftiger im Freundeskreis. Hin und her gerissen zwischen Solidarität und notwendiger Kritik. Zwischendurch holte er gelegentlich ein winziges Notizbuch hervor und notierte Gedanken, die über den Tisch »fliegen«. So auch den Satz »Da singt kein Vogel«. Das war auf die Politik im eigenen Land gemünzt. Der gerade wiedergewählte Präsident Tabaré Vázquez hat dem Erfolgsautoren nie verziehen, dass dieser seine erste Regierung vor einer Entwicklung »ganz nach kolonialem Vorbild« gewarnt hatte: vor der Förderung von Eukalyptus-Plantagen und gigantischen Zellulosefabriken: »Fast food, fast wood: Devisenbringer, Entwicklungsvorbilder, Fortschrittssymbole sind Holzzuchtanstalten, die die Erde auslaugen und die Böden ruinieren.« Und das Vogelgezwitscher verstummen lassen.

Wenige Tage nach Galeanos Tod stellten Experten fest, dass alle Gewässer und Wasserläufe im wasserreichen Uruguay mehr oder weniger verschmutzt und verseucht sind.

Hier Hübeners wunderbares Galeano-Feature „Wenn Geschichte atmet“ (2011) zum Nachhören. Ein Interview aus der argentinischen Monatszeitung . Nachruf im Südwind (zuerst in der taz erschienen).

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https://blogs.taz.de/latinorama/karl-ludolf-huebener-ueber-eduardo-galeano-da-singt-kein-vogel/

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kommentare

  • Galeano war vielleicht so etwas wie ein ökologischer Sozialist, Solidarist-
    Solidarisch mit den kapialistisch Ausgebeuteten,Verarmten,Verelendeten, Entwürdigten- und der ebenso ausgebeuteten und dadurch immer mehr z e r s t ö r t e n Natur. Sie zu bewahren war auch ihm seit längerem der dominierende W e r t, den die Menschheit als Ganzes verwirklichen muß, wenn sie nicht ihre m a t e r i e l l e E x i s t e n z g r u n d la g e unwiderruflich verlieren will, letztlich also auf diese Art ein homicid zustande kommt.
    Im heutigen Bolivien, aber vor allem in Uruguay ,gefährdet der kapitalistische A r m u t vermeiden wollende „linke“ Extraktionismus schon zusehends die materielle Existenz der dortigen Völker , konfligiert damit mit den regionalen und globalen kapitalistischen Produktionismuszielen .
    Die Präferenzordnung, die Linke wie Galeano angesichts dieses Zielkoflikts wählen müssen ist m.E. gewissermaßen schon eine den Kapitalismus t r a n s z e n d i e r e n d e-.

    Linkshumanistische Menschen- wie die Protagonisten linker Regierungen in Südamerika, aber letztlich auch bei uns, kommen um diese Erwägung von K a p i t a l i s m u s t r a n s z e n d e n z zur Erhaltung der Völker- und M e n s c h h e i t s e x i s t e n z in Theorie und Praxis unter Berücksichtigung möglichst aller relevanten pro und contras kapitalistisch-ökonomischer Realien überhaupt nicht herum.

    Ist die N a t u r g r u n d l a g e gefährdet, sticht das sich an Marx orientierende Zulassen noch der wüstesten Kapitalismusexpansion nicht mehr.Wird die Naturgrundlage der Menschheit vom wild gewordenen Finalkapitalismus zerstört, wird mit der Menschheit auch der Kapitalismus eliminiert. Daher muß der besser früher als zu spät zum Wohl der Menschheit verschwinden.
    Hegel sprach einmal davon, die Menschheit müsse lernen „auf dem Kopf zu gehen!“ Das muß ein moderner Marxismus, Sozialismus, Möchtegern-Kommunismus schon längst auch Er kann sich nicht mehr auf das bloße Zulassen der Dynamik des W e r t gesetzes heute beschränken, weil das ja „marxistisch“ sei..

    „Auf dem Kopfe gehen“ hieß m.E. für Galeano, heißt es dringender denn je für uns , endgültig und notfalls mit rätedemokratischer Gewalt dem „automatischen Subjekt“ ,dem Gesamtkapital des Globus. mit der „Dialektik der Freiheit“(siehe Sartres moralphilosophischen Nachlaß) „in den Arm fallen“ mit einem von Walter Benjamin angemahnten „brutalen Griff der Rettung“ der Menschheit, durch entschlossene Abschaffung des Natur und damit die Menschheit zerstörenden Profitsystems.
    Vermutlich ist die Menschheit jetzt an der historischen Schwelle angelangt, wo sie sich der Fetisch camouflierten Zwangsgesetze der kapitalistischen „Weltuntergangsmaschine“(DavidStockmann)entwinden m u ß, es k ö n n e n m u ß -bei Strafe des Untergangs von Völkern und letztlich der Menschheit.
    .
    So scharfsinnige marxistische Kapitalismusanalysten wie
    Robert Kurz haben diese Präferenznotwendigkeit, dieses jetzt schon längst fällige Gebot der N o t w e n d i g k e i t und M ö g l i c h k e i t der F r e i h e i t , den kapitalistischen Zwangsgesetzen von innerer und vor allem äußerer Expansion ein E n d e zu machen, nicht gesehen. So endete er in seinem letzten großartigen Krisenanalytischen Buch mit eine schwarzen apokalyptischen TINA-Ausblick.

    Fukushima zeigt m.E. in a nutshell die Problematik ,die uns allen zwischen kapitalistischer Zerstörungsmaschinerie und Existenzerhaltungsnotwendigkeit aufgegeben ist und die eben den Benjaminschen f r e i h e i t l i c h e n“brutalen Rettungsgriff“ verlangt.
    G a l e a n o war da hellsichtiger , der größere Humanist und Freiheits-Hoffender! Freier selbst als sein Landsmann Mujica, ein gewiß liebenwürdiger Linker, der aber, bloß der Armutsbekämfung wegen sich dem Extraktionismus in Uruguay zu einseitig ergeben zu haben scheint, wie aus obigem Artikel indirekt hervorgeht.

    Auch seine Präferenz kann man situational und aus „zeitnahen“ humanistischen Gründen verstehen- aber es ist dabei einfach nicht weit genug gedacht- was die Langzeitinteressen seines Volkes wie der Menschheit angeht, dringend muß für das globale Zurückdrängen der zerstörerischen Konzernmächte in allen internationalen Gremien u n d auf der Ebene von Gewerkschaften,linken Organisationen, Bewegungen usw.
    eingetreten werden. G a l e a n o tat das auf seine Weise auf seinem Kontinent, früher schon von Spanien aus.
    Günter Anders sagte einst , man müsse notfalls den Atomkapitalismus auch mit Gewalt stoppen- G a l e a n o dürfte mitunter und immer wieder ähnlich empfunden und gedacht haben beim Disput mitFreundInnen über den Kampf gegen den imperialistischen Extraktionismus-

    Wir alle werden aus dieser Realpugnanz , diesem ökonomisch-ökologischen Antagonismus immer weniger entkommen können -Wir und alle Menschen „gutenWillens“ müssen l a n g fristig dem Realkaputtalismus rätedemokratisch für immer den Garaus machen, weil m i t ihm die Erhaltung der Gattung immer unmöglicher wird. Einsichten,die etwa die französiche Ökologin Marie Monique Robin, Naomi Klein und wohl immer wieder auch G a l e a n o zumindest in ihrer ganzen schlimmen Widersprüchlichkeit gehegt haben.

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